Ein Mensch, die Wellen und die Bücher
Was bleibt einem, wenn ein Mensch stirbt, mit dem man mehr als 40 Jahre lang gut befreundet war und viele Jahre lang reibungslos beruflich zusammengearbeitet hat? Ein großes Loch, die Angst vor dem eigenen Tod – und viele Erinnerungen an Begegnungen, Gespräche und Bücher, die man miteinander teilte. Es erscheint heute irgendwie irreal, aber Anfang der achtziger Jahre saßen Jürgen Geiger und ich oft stundenlang im Bademantel in unserer WG und debattierten nicht zuletzt über Schöngeistiges.
Wie es kam, weiß ich nicht mehr, aber irgendwann liefen wir beide in unserer WG in der Litzelstetter Straße 6, – dem kleinen, windschiefen Haus in Wollmatingen direkt an der Kirche, – im Bademantel herum, sofern wir keinen Besuch hatten. Ein Bademantel war bequem, und er nahm auch so manchen Debatten seine Schärfe, denn eingangs der achtziger Jahre konnte es auch unter befreundeten Menschen teils hitzig zugehen, wenn es um die letzten Dinge ging – etwa um die UdSSR, den Sozialimperialismus oder China. Allerdings war damals bei aller Bademantel-Gemütlichkeit eines unausgesprochen klar: Don’t mention Trotzki!
Da mit mir über Politik nur begrenzt zu sprechen war, weil sie mich damals nur mäßig interessierte, hielten wir beide uns an das, was uns lieb und teuer war: Sport, Literatur und gelegentlich Musik. Die Tour de France und die Olympiaden waren für uns Fernseh-Pflichtprogramm, und so manchen Sonntagvormittag lagen wir vor der Glotze und schauten im österreichischen Fernsehen Übertragungen von Nestroy-Aufführungen. Hand aufs Herz: Von Nestroy kann man ja auch einfach nicht genug bekommen, die Dünndruckausgabe des Winkler-Verlages gehört einfach in jeden Haushalt, gleich neben den Wilhelm Busch.
Geiger verschlang Bücher damals regelrecht, von Marx bis zu belgischen Comics war nichts vor seinem lesehungrigen Auge sicher. Nach außen hin gab er zwar gern den Kulturbolschewiken, aber im Grunde seines Herzens war er lernfähig, auch wenn er das nicht gern eingestand. Hinter der Maske des vermeintlichen K-Gruppen-Dogmatikers verbarg sich eine Leseratte, die auch die Klassiker durchaus zu schätzen wusste und auch einmal zuhörte, was ich von Wittgenstein zu erzählen wusste. Dass wir uns spätabends nach Möglichkeit vor dem Fernseher trafen, um die Sendungen zu sehen, in denen Glenn Gould Bach und andere Komponisten erklärte, verstand sich von selbst. Geiger hatte in seiner Jugend Akkordeon gelernt, nahm aber (nach seinen Angaben aus Rücksicht auf seine Umgebung) davon Abstand, sich mit der Quetschkommode hören zu lassen. Die Musikgeschichte bis hin zu Mahler konnte ich ihm leidlich vermitteln, mit der „atonalen“ Musik seit Schönberg allerdings wollte er nichts zu tun haben, das war für ihn ganz einfach die Dekadenz der an ihren Klassenwidersprüchen dahinröchelnden bürgerlichen Gesellschaft – oder etwas in dieser Art.
Ich habe durch Geiger einige Autoren kennengelernt, die mich zumindest zeitweise faszinierten. Hatte ich Krimis und verwandte Gattungen bis dato immer als mindere Literatur verachtet, lernte ich durch ihn Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Ross Thomas schätzen. Ich erinnere mich auch noch, dass er mich mit Loren D. Estleman infizierte, einem US-Krimiautor, der damals bei Ullstein erschien und dessen „Oklahoma Punk“ uns als Verheißung am Lesehimmel erschienen war. Dass Eric Ambler zu unseren Hausgöttern gehörte, verstand sich von selbst, wir beide hatten eine tiefe Liebe zu allen ehrlichen Autoren, die ein Gespür für Zeitgeschichte an den Tag legten, fast egal, aus welchem Lager sie kamen. Damals schien uns eh klar: Die Wahrheit ist immer irgendwie links. Die Liebe zum Krimi als Gesellschaftsroman hat er behalten, und noch vor wenigen Jahren brachte er mich auf die Fernsehserie „Midnight Sun“. Wann er all das las und schaute, blieb mir ein Rätsel, denn eigentlich war er ja 25 Stunden am Tag mit Politik beschäftigt.
Von außen betrachtet waren wir damals ein seltsames Paar: Er, der eingefleischte Bolschewik und vermeintliche Verächter bürgerlicher „Hoch“kultur, und ich, der bildungsbürgerliche Arno-Schmidt-, Rolf-Dieter-Brinkmann- und Celan-Jünger mit meinem schweren Hau für Balzac, Balzac und nochmals Balzac; aber wir konnten uns einfach gut riechen und hörten einander (meist) gern zu. Es kam immer wieder vor, dass er sein Urteil stillschweigend auch gänzlich revidierte: Ich wurde wegen meiner Liebe zum bürgerlichen Arno Schmidt beim Frühstück beißender Kritik unterzogen, aber wenige Jahre später las Geiger begeistert alles von Schmidt, über dessen Pamphlet „Atheist?: Allerdings!“ er irgendwann gestolpert war. Celan, den er früher als bürgerlichen Realitätsflüchtling gegeißelt hatte, wuchs ihm plötzlich durch dessen Melancholie ans Herz – als die Corona-Krise begann, haben wir beide uns vergeblich darum bemüht, für seemoz die Abdruckrechte für Celans „Corona“ zu bekommen, das zu unser beider Lieblingsgedichten zählt. Uns ging es nicht um die Seuche, sondern um dieses Gedicht, das sicher eines der schönsten und anrührendsten ist, die jemals in deutscher Sprache verfasst wurden.
Sogar James Joyce und Samuel Beckett, die er in unseren Bademantel-Zeiten noch als bürgerliche Wirrköpfe abgelehnt hatte, erwähnte er zwanzig Jahre später plötzlich mit Wärme in der Stimme. Von wegen dogmatischer Sturkopf, der war er ganz sicher nicht.
Geiger war bekanntlich ein leidenschaftlicher Segler, nicht nur auf dem Bodensee, sondern auch auf höherer See, der auch einige lebensgefährliche Stunden im Ärmelkanal verbracht hat, als er sich, während der Rest der eigentlich abgehärteten Crew seekrank unter Deck lag, in einem Orkan wie Käpt’n Ahab an den Mast binden musste, um das vom Sturm völlig demolierte Schiff, das sie eigentlich nach Irland bringen wollten, in den nächsten Hafen zu steuern, ehe es sinken konnte. Segeln, gerade aus der Sicht der Matrosen, gehörte für ihn zum proletarischen Teil der Geschichte, und die Fahrt der von den Meuterern der „Bounty“ mitten im Pazifik ausgesetzten neunzehnköpfigen Gruppe um Kapitän William Bligh in einem sieben Meter langen und rund zwei Meter breiten Beiboot über 5.800 Kilometer nach Timor war eine navigatorische Leitung, die ihm immer wieder allerhöchste Bewunderung abnötigte.
So lernte ich denn auch die maritime Literatursparte durch ihn kennen: Natürlich Melvilles „Moby Dick“, aber auch andere Autoren, die ich nur auf Knien preisen kann: Joseph Conrad natürlich, und daneben Richard Henry Dana, „Zwei Jahre vorm Mast“, aber auch den umwerfenden Bernard Moitessier. Dessen „Der verschenkte Sieg“ faszinierte ihn (und mich) – es ist die autobiographische Geschichte eines Seglers, der bei einer hochdotierten Einhand-Weltumseglung von England aus auf dem Rückweg im Südatlantik in Führung lag, dann aber auf Sieg, Ruhm und Rummel verzichtete, nach Steuerbord abbog und gerade noch einmal um die halbe Welt fuhr, weil er lieber nach Tahiti wollte. Auch Joshua Slocums „Allein um die Welt“ hätte ich ohne Geiger wohl nie kennengelernt.
Eine Zeitlang haben wir überlegt, ob ich nicht segeln lerne, damit wir einen Freund in Istanbul mit dem Segelboot besuchen können. Doch die Einhand-Atlantik-Überquerung, von der er lange träumte, wollte er sich bei aller Liebe denn doch nicht durch meine Gesellschaft versauen. Wie ernst es ihm mit diesem Projekt war, weiß ich nicht, zumindest eines war ihm klar: Ein Sextant musste mit an Bord.
Geblieben ist mir von all diesen Begegnungen die Erinnerung an umwerfende Lesestunden: Tony Horwitz‘ „Cook – Die Entdeckung eines Entdeckers“ ist ein Geschichtswerk, das Pflichtlektüre ist, ebenso wie Caroline Alexanders Meisterwerk „Die Bounty. Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty“ und die besseren Werke Nathaniel Philbricks, eines Historikers, der sehr genau hinschauen, zudem aber auch äußerst lesenswürdig schreiben kann. Sebastian Jungers umwerfendes Buch „Der Sturm“ (nicht zu verwechseln mit der bestenfalls mäßigen Verfilmung) habe ich durch ihn ebenso kennengelernt wie Erik Larsons „Isaac’s Storm: The Drowning of Galveston 8th September 1900“, das ich damals meiner Erinnerung nach mühsam auf englisch gelesen habe.
Geiger habe ich schließlich auch die Bekanntschaft mit einem meiner heutigen Lieblingsautoren zu verdanken: Jonathan Raban. Er empfahl oder besser: befahl mir eines Tages, dessen „Passage nach Juneau“ zu lesen, die gerade im gebenedeiten mare Verlag erschienen war. Das Buch haute mich um: Es geht um eine Segelreise von Seattle nach Alaska, um die Schwierigkeiten, die Kapitän Vancouver damals auf seiner Entdeckungsreise bewältigte und dazu noch um Rabans persönliche Probleme wie eine zerbröckelnde Ehe – ein Buch, das in unvergleichlicher und ungewöhnlich sensibler Weise das Private mit der Geschichte verwebt. Ich könnte jetzt noch ziemlich lange weiterschreiben (Upton Sinclair, der von mir verachtete Ernest Hemingway etc.), aber was soll’s?
Ich sage: Danke. Schade, dass uns als Atheisten der Trost des nächsten Lebens nicht bleibt. Ich hätte gern noch mal ein paar Ewigkeiten mit Dir über Bücher geplaudert. Und den Schönberg und Bartók hätte ich Dir auch noch beigebogen.
Text: Harald Borges
Foto: Jürgen Geiger rechts im Bild, ca. 1980, Privatbesitz tb
Sehr schöner Nachruf. Danke, Borges.
Wenn gemeinsame Zeit zerrinnt, ist das natürlich auch der Sand unseres Lebens. Keiner stirbt allein. Daran erinnert der Text.
Danke für diese lieben Zeilen!
Jedes Bild erzählt eine Geschichte: auf dem Tisch liegt neben Tee- und Kaffeetassen eine historische Heftausgabe der Zeitschrift FANAL, herausgegeben von Erich Mühsam und Herbert Wehner.
Es gibt schöne Texte. Und es gibt sehr schöne Texte. Das iss einer. Und die zärtliche Hand rechts unten im Bild. Sehr, sehr schön.
Ein sehr schöner Text, lieber Borges. Danke. Das Foto stammt übrigens aus meiner WG in der Gottfried-Keller-Str. 20. Müsste bei einem Gelage Februar oder März 1982 gewesen sein….
Wenn ich nicht etwas komplett durcheinander bringe, liebte Geiger auch Stendhals „Rot und schwarz“. Und er war Fan der Comic-Serie Valerian & Veronique….
Ja, es ist wahr, Jürgen war ein leidenschaftlicher Segler und wusste über Bodensee-Fallwinde abwettern, anschoten, luv und lee genauso viel, wie über “ Das Kapital“ von Karl Marx. Wenn er vor der Höri hart am Wind kreuzte, hatte das ein Hauch von Jack London in der Frisco-Bay.