„Mozart hat den Sängern in die Kehle geschissen“ (II)
Im zweiten Teil unseren Gesprächs mit Insa Pijanka erzählt die Intendantin der Südwestdeutschen Philharmonie von ihrem Werdegang und macht sich Gedanken über Götter im Olymp und OrchestermusikerInnen und deren unablässiges hartes Training.
Teil I dieses Gespräches lesen Sie hier, Teil III findet sich hier.
seemoz: Bei einem Praktikum am Nationaltheater Mannheim kamen sie erstmals eng mit der Arbeit eines Orchesters in Berührung.
Pijanka: Ich kam aus dem Politikstudium und hatte nach einem Praktikum am Nationaltheater in Mannheim dann eine Stelle im Orchesterbüro des Staatstheaters Kassel. Das ist ein Haus, das alles bietet: Oper, Schauspiel, Tanz, Kinder- und Jugendtheater sowie das Orchester mit seinem Konzertbetrieb. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 40 vergebliche Bewerbungen hinter mir. Das war ja noch die Zeit, in der man wusste, dass man als Sozial- und GeisteswissenschaftlerIn eigentlich Taxifahren studiert. Es war damals für uns alle schwer, ich war etwa ein Jahr lang arbeitslos, mein Mann auch, obwohl wir beide gute Examensnoten und Auslandserfahrung hatten, aber das interessierte nicht. Ich bin dann nach Kassel auf diese Halbtagsstelle mit 900 € brutto gegangen.
seemoz: Danach ging es beruflich mit Ihnen schnell bergauf?
Pijanka: Ich war vier Monate da, als der Orchestermanager Cornelius Grube im April 2003 die Intendantenstelle in Reutlingen erhielt. Die Stelle des Orchestermanagers sollte eigentlich ausgeschrieben werden, aber stattdessen hat Christoph Nix mir die Leitung des Orchesterbüros angeboten, das war natürlich eine tolle Chance, und ich habe zugesagt.
Ins kalte Wasser gesprungen
seemoz: Learning by doing?
Pijanka: Ja, und das war die beste Entscheidung, die ich getroffen habe, obwohl die ersten beiden Jahre richtig hart waren. Aber dabei habe ich natürlich die Arbeit mit dem Orchester von der Pike auf gelernt, ich habe ja ganz unten angefangen. Ich habe sehr viel gefragt und versucht, für jedes Instrument zu lernen, was für die jeweiligen Musikerinnen wichtig ist, warum die eine dies braucht und der andere jenes. Ich war immerhin 16 Jahre in Kassel und habe dort 16 Jahre lang dieselbe Stelle gehabt, trug aber im Lauf der Zeit insgesamt fünf verschiedene Titel. Wie das so ist: Ich wollte eine Gagenerhöhung aushandeln und kriegt stattdessen den nächsthöheren Titel. Das Tolle an dieser Stelle war, dass sie erst wenige Jahre vorher für Cornelius Grube neu geschaffen worden und noch nicht sehr fixiert war. Darum waren die Erwartungen an mich als Kulturmanagerin noch völlig offen, sodass ich diese Stelle so entwickeln konnte, wie ich es gut fand und wie es zu mir passte. Damals habe ich dann auch dramaturgische Aufgaben übernommen, habe Einführungsvorträge zu Konzerten gehalten, irgendwann angefangen zu moderieren und so auch einen breiteren Blick für die Sache gewonnen.
seemoz: Welche Erfahrungen haben Sie als Teil eines Mehrspartenhauses mitgenommen?
Pijanka: Die Atmosphäre in Kassel war anfangs sehr speziell. Zwei Dinge habe ich nie wieder so wie damals erlebt, und ich bin mittlerweile auch schon 20 Jahre in dieser Branche: Es gab kaum eine Dramaturgiesitzung, in der nicht gebrüllt wurde, Türen knallten und Tränen flossen. Ich habe damals gedacht, so ist Theater eben, habe mich aber auch gefragt, ob das wirklich so sein muss.
seemoz: An deutschen Theatern, wie zuletzt etwa in Karlsruhe, wird wohl nicht ganz zufällig immer wieder mal intensiv über Machtstrukturen diskutiert. Die Führungsmodelle an vielen Theatern sind wohl nicht ganz zeitgemäß, sondern ähneln eher einer Tyrannei. Und wenn Intendanten sich dann noch lauthals politisch positionieren, hat man auch schon mal den Urtyp des egomanen Salonkommunisten vor sich. (Hüstelnd) Aber zum Glück machen derartige Charaktere ja um kleinere Bühnen wie Konstanz seit jeher einen weiten Bogen …
Pijanka: Als ich in Kassel anfing, war ich jung, und ich war fürs Orchester zuständig. Wenn man in einem Mehrspartenhaus mit dem Orchester zu tun hat, dann bewegt man sich in einer eigenen Blase. Alle anderen sind froh, wenn sie vom Orchester nichts hören, ich hatte da also freie Bahn.
Emotionales Arbeiten
seemoz: Ich vermute einen Mentalitätsunterschied zwischen Theater- und Orchesterleuten. Die Theaterleute haben den Kopf irgendwo oben im ansonsten nur von Göttern besiedelten Olymp, während klassische OrchestermusikerInnen eher KunsthandwerkerInnen sind, deren Ego gerade noch irgendwie in diese unsere enge Welt hineinpasst.
Pijanka: Am Theater geht es einfach noch viel extremer als im Orchester zu, z.B. was die Arbeitszeiten oder die Verträge angeht, und die Arbeit ist höchst emotional. Musiker sind meist geerdeter. Sie wissen ganz genau, wie hart sie seit ihrer frühen Kindheit daran arbeiten mussten, dorthin zu gelangen, wo sie jetzt sind. Sie müssen auch weiterhin täglich üben, um ihre technischen Fähigkeiten zu erhalten, das ist stundenlanges knüppelhartes Handwerk und hat erstmal wenig mit Olymp zu tun. Trotzdem ist es weit mehr als Kunsthandwerk, die technische Perfektion gibt letztendlich die Freiheit für die Kunst und den besonderen Moment, und für den arbeiten wir ja.
seemoz: Außerdem sind instrumentale Fähigkeiten in hohem Maß messbar, da fällt es schwerer, extremen Dünkel zu pflegen.
Pijanka: Im Orchester gibt es viel weniger Geniekult, diesen Druck, mit allem, was man macht, völlig außergewöhnlich sein oder die Welt neu erfinden zu müssen. Eine Komposition gibt mir schon einen Rahmen dessen, was ich zu tun habe, vor. Klar, ich habe meinen Interpretationsspielraum und der ist durchaus umfangreich, aber der Kern des Stücks bleibt unverändert. Vielleicht haben Musiker etwas mehr Respekt vor dem Werk an sich und dessen Schöpfer.
Ein neuer Stil
seemoz: Manche Persönlichkeiten prägen allerdings ein Orchester, dessen Interpretationsstil und dessen Image auf Jahrzehnte: Dirigenten.
Pijanka: Einer dieser prägenden Dirigenten für mich war Ádám Fischer [Generalmusikdirektor von 1987 bis 1992 am Staatstheater Kassel und von 2000 bis 2005 am Nationaltheater Mannheim], bis heute ein herausragender Dirigent, der übrigens mit seiner Einspielung der Sinfonien für die Haydn-Renaissance mitverantwortlich ist … Er hat in Mannheim für eine neue Orchesterkultur gesorgt, hat Haydn aufgeführt, Mozart einstudiert und Barockmusik gespielt. Er hat einen Weg gezeigt, sich jenseits der Spezialensembles mit historischer Aufführungspraxis zu beschäftigen, historisch informiert zu sein. Also keine Spezialinstrumente, keine Darmsaiten für die Streicher, keine Barockbögen. Er hat aber in Mannheim ein Seminar veranstaltet, in dem er jungen Musikern und Studenten erklärt hat, wie barocke Artikulation funktioniert, wie die damalige Klangwelt entstand, wo man ein Vibrato setzt, wie man trillert usw. Mannheim hatte ja im 18. Jahrhundert eine große frühklassische Orchestertradition, dort wurden Dinge wie der gemeinsame Auf- und Abstrich trainiert und an der gemeinsamen Dynamik gearbeitet, daher stammt unter anderem die berühmte „Mannheimer Rakete“. Seine Arbeit war für mich zu Beginn meiner Berufslaufbahn sehr prägend.
seemoz: Wie ist eigentlich die soziale Lage der OrchestermusikerInnen? Ist der Druck auf sie in den letzten Jahren gewachsen?
Pijanka: Das ist schwer zu sagen, natürlich war dieser Beruf schon immer sehr stressbelastet, auch abhängig davon, wo man spielt. Der Perfektionsdruck ist in den letzten Jahren durch die Medien höher geworden. Die Überbrillanz der CD war der erste Schritt in diese Richtung, denn die Menschen erwarten heute, dass auch ihr Orchester so perfekt klingt wie die CDs, die sie zuhause hören. Sie erwarten eine Perfektion, die im Konzertsaal kaum erreichbar ist. Eigentlich liegt der Wert des Live-Erlebnisses ja auch ganz woanders. Dieser Perfektionsdruck führt dazu, dass die emotionale Seite des Konzerterlebnisses leidet. Dabei ist es ja gerade das Besondere und Faszinierende, dass in jedem Konzert die Musik neu entsteht und in dem Augenblick auf uns wirkt, in dem wir anwesend sind. Völlig egal, was ich vorher wo und wie anders gehört habe. Musik verbindet die Tradition und die Geschichte mit dem Jetzt und der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Im Konzert geht es ja nicht darum, dass nicht mal hier und da ein Ton schiefgeht. Aber heute schaut sich jeder natürlich, bevor er ins Konzert geht, die Stücke mit internationalen Orchestern auf YouTube an. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite sind Orchesterstellen durch den Abbau im Kulturbereich rarer geworden. Gleichzeitig bilden die Musikhochschulen munter weiter aus und schaffen auf diese Weise sehr viele gut ausgebildete Musiker, für die es keinen Markt gibt. Dieser Druck, eine Stelle zu bekommen und das noch in einem sehr engen Zeitfester was das Alter anbelangt, ist unter diesen Umständen natürlich extrem hoch. Dazu kommt die internationale Konkurrenz. Man hat etwa sehr deutlich gesehen, was die Wirtschaftskrise vor einigen Jahren angerichtet hat, da kamen nämlich plötzlich in Deutschland sehr viele hervorragend ausgebildete spanische MusikerInnen zu den Probespielen, zum Beispiel hervorragende Holzbläser, denn in Spanien sind Orchester dichtgemacht worden. Es gibt einen starken internationalen Druck auf den deutschen Markt, weil Deutschland mit Abstand die meisten Orchester, die meisten Stellen und die beste Absicherung und Arbeitsbedingungen für MusikerInnen hat, die es überhaupt auf der Welt gibt.
Deutschland ist das Land der Orchester
seemoz: Anderswo herrscht der pure Überlebenskampf?
Pijanka: In den USA oder Großbritannien gibt es ganz andere Verhältnisse, wie Corona wieder gezeigt hat. Die Metropolitan Opera in New York hat zugemacht und die Leute entlassen. Es bleibt abzuwarten, ob die alle wieder eingestellt werden, und wenn ja, zu welchen Konditionen. In Deutschland sind die Musiker, die eine feste Stelle hatten, in Kurzarbeit gegangen, und oft wurde das Kurzarbeitergeld wie bei unserem Orchester auch noch aufgestockt. Das ist eine Absicherung, von der MusikerInnen auf der ganzen Welt sonst nur träumen können. Wenn man sich die freiberuflich tätigen Musiker anschaut, sieht das ganz anders aus, deren Lage ist teilweise äußerst prekär.
seemoz: Der Ansturm auf die vergleichsweise wenigen offenen Stellen ist also enorm. Braucht es Zugangsbeschränkungen zu den Musikhochschulen wie etwa für das Medizinstudium?
Pijanka: Vor allem ist die Ausbildung der Musikhochschulen viel zu einseitig. Klassische Musiker werden nach wie vor als Solisten ausgebildet und meist nicht auf den Orchesterjob vorbereitet. Und es gibt schon gar keine Vorbereitung in der Ausbildung darauf, wie man als freiberuflicher Musiker überlebt, angesichts des sich ausdifferenzierenden Musikmarktes ist das nicht mehr zeitgemäß. Wir sehen in den letzten Jahren ja immer mehr Initiativen, in denen sich Musikern zu Ensembles zusammenschließen. Einerseits ist das bei manchen Musikern Selbsthilfe, andererseits sind das aber auch Leute, die ihre Programme selber bestimmen und einen neuen Zugang zur Klassik finden und vermitteln wollen. Da hat sich bei den jungen Musikern viel getan, viele wollen ganz bewusst nur eine Teilzeitstelle haben, weil sie nebenher Kammermusik oder irgendwelche anderen Projekte spielen wollen. Oder nehmen Sie den Bereich der musikalischen Pädagogik, die weit mehr ist als ein „Abfallprodukt“ der klassischen instrumentalen Ausbildung und ganz eigene Ausbildungswege verlangt. Fest steht: Die klassische Musikerkarriere verändert sich. Darauf müssen sich auch die Hochschulen einstellen.
seemoz: Sicher auch dadurch, dass es die klassischen Stellen immer weniger gibt?
Pijanka: Es gibt noch immer relativ viele feste Stellen, etwa 10.000 in Deutschland. Wer heute anfängt, ein Instrument zu studieren, sollte sich aber unbedingt überlegen, welche Optionen er hat, und was sein Plan B ist.
seemoz: Ich kenne eine studierte Pianistin, die einen anderen Weg gegangen ist. Sie spielt zum Beispiel auf Empfängen von Firmen oder Verbänden klassischen Swing und hat mir erzählt, dass in ihrem Vertrag zum Beispiel drinsteht, dass sie in ihrem Glitzerkleid auftreten muss. Da muss sie dann vor einem Auftritt zwei Wochen lang hungern, damit sie in das Kleid wieder reinpasst. Aber ohne das Kleid geht nix. An der Musikhochschule hat sie damals nur Klassik gelernt, Swing, Chanson und ähnliches bekam sie dann auf dem freien Markt von MusikerInnen aus dem Jazzbereich beigebracht. Aber sie kann bis heute nicht improvisieren, weil das im Studium überhaupt kein Thema war.
Pijanka: Für Pianisten ist es natürlich noch viel heikler. Wer schafft es denn schon, Klaviersolist zu werden? Fast niemand. Und dann bleibt noch der Weg über die Korrepetition, aber ansonsten gibt es dann nicht viele Wege, die von den Musikhochschulen vorgezeichnet werden. Eine umfassende Berufsvorbereitung sieht anders aus.
Das Gespräch mit Insa Pijanka führte Harald Borges, Fotos: Harald Borges (oben, im Probenraum der Philharmonie), unten Privatbesitz (Insa Pijanka im Alter von ca. 4 Jahren).
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch. Ich kann in den meisten Punkten nur zustimmen. Besonders im Hinblick auf die beinahe ausweglose Situation von MusikstudentInnen. Wie froh bin ich da, dass meine kluge Klavierlehrerin am „Zimmermannschen Konservatorium“ früh erkannt hat, dass ich den Traum vom Pianistenleben bitte beerdigen sollte und stattdessen mit mir jahrelang das „Spielen vom Blatt“ geübt hat. So wurde ich eben kein glückloser Klavierlehrer sondern nach dem Musikwissenschaftsstudium Gastronom und bin der Musik wohl wegen der klugen Frau Elisabeth Kran heute noch mehr als zu meinen Zeiten des draufgängerischen Möchtegernvirtuosentums verbunden.
Eine kleine Kritik will ich aber zu Euren Worten über Beethovens 9. äussern. Ich habe den Schlusssatz nie gemocht, fand und finde schwer erträglich, wie auf einzelnen Silben herumgeritten wird. Sicher ist das einer der schwächeren Sätze Beethovens. Aber würden wir Beethoven als unerhörtes Genie bezeichnen, wenn wir nur den ersten Satz der 4. kennen würden? Wohl kaum! Dann doch schon eher wegen des Anfangs der ersten Sinfonie, oder eben dem Allegretto aus der 7., das Alfred Kerr uns Glaubenslosen zugedacht hat. Er bezeichnete den Satz übrigens auch als „Sterbescherzo“.
Selbst Wagner mochte den Schlusssatz der 9. nicht. Das wäre für mich ja nun beinahe ein Grund, mir die „Ode an die Freude“ immer wieder unvoreingenommen anzuhören und nach dem Besten darin zu suchen. Aber im Ernst. Ohne diesen Satz würde der 9. jede Logik fehlen. Und ohne diese Sinfonie sind Mahlers Sinfonien und alle Sinfonik danach nicht denkbar.
Was mir „Freude schöner Götterfunken“ so unerträglich macht ist, das habt Ihr ja richtig benannt, die Rezeption. Jeder Mann, jede Frau am Drücker vereinnahmt den pathetischen Schlusschor für den jeweiligen Zweck. Am Ende jedes Jahres werden wir damit erneut gequält, weil wir doch endlich im Sinne der Machthabenden Brüder und Schwestern sein sollen. Beethovens Sinn war sicher ein ganz anderer – dafür spricht schon sein „schwieriger“ Charakter! Und für die Rezeption des Satzes kann er nichts. Erich Leinsdorf stellte manchmal in Konzerten dem Schlusssatz der 9. den „Überlebenden aus Warschau“ von Schönberg gegenüber. Das relativiert dann doch auf äusserst kluge Weise die Rezeptionsgeschichte der 9. und die teutonische Überheblichkeit. Und Beethoven selbst hat „Freude schöner Götterfunken“ im Kontext des Schlusssatzes seiner letzten Klaviersonate (Takt 79) ja ganz anders, zarter, nachdenklicher verwendet, als wir es aus dem Triumphgeheul der Jahreswechsel kennen.
Und seien wir bitte nicht zu überheblich. Toscanini, Abbado, Zinman und andere verehrungswürdige DirigentInnen haben sich der 9. Sinfonie immer wieder gestellt, vielleicht manchmal zweifelnd aber letztlich doch immer aus der Überzeugung heraus, dass auch der letzte Satz es mehr als Wert ist, nur als Appendix angehängt zu sein.
Vielleicht wäre es das Beste, die öffentliche Aufführung der 9. für einige Zeit zu unterlassen und dann zu hören, was alles in ihr steckt. Ich weiss, ich weiss, das ist der fromme Wunsch eines Glaubenslosen…