Wie AnarchistInnen den Krieg erleben (III)

Im letzten Teil ihres Beitrages zum Vorfeld des Krieges in der Ukraine beschreiben die AutorInnen die Lage linker und anarchistischer Bewegungen in Osteuropa sowie die Gefahren, die ihnen von Rechten und den jeweiligen Staatsorganen drohen. Damit endet die Analyse der politischen Lage in der Ukraine unmittelbar vor Beginn des russischen Angriffs.

Teil 3/3

Teil 1 finden Sie hier, Teil 2 hier.

Der moderne russische Imperialismus beruht auf der Auffassung, dass Russland der Nachfolger der UdSSR ist – nicht in Bezug auf sein politisches System, sondern aus territorialen Gesichtspunkten. Das Putin-Regime betrachtet den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht als ideologischen Sieg über den Nationalsozialismus, sondern als einen Sieg über Europa, der die Stärke Russlands zeigt. In Russland und den von ihm kontrollierten Ländern hat die Bevölkerung weniger Zugang zu Informationen, sodass sich Putins Propagandamaschine nicht die Mühe macht, ein komplexes politisches Konzept zu erstellen. Das Narrativ lautet im Wesentlichen wie folgt: Die USA und Europa hatten Angst vor der starken UdSSR, Russland ist der Nachfolger der UdSSR und das gesamte Gebiet der ehemaligen UdSSR ist russisch, russische Panzer sind in Berlin eingefahren, was bedeutet: „Wir können es wieder tun und wir werden der NATO zeigen, wer hier der Stärkste ist“; der Grund, warum Europa „verrottet“, ist, dass all die Schwulen und Einwanderer*innen dort außer Kontrolle geraten sind.

Die ideologische Grundlage für die Aufrechterhaltung einer pro-russischen Position unter den Linken war das Erbe der UdSSR und ihr Sieg im Zweiten Weltkrieg. Da Russland behauptet, die Regierung in Kiew sei von Nazis und der Junta übernommen worden, bezeichneten sich die Gegner*innen des Maidan als Kämpfer*innen gegen den Faschismus und die Kiewer Junta. Dieses Branding weckte Sympathien bei der autoritären Linken – in der Ukraine beispielsweise bei der Organisation „Borotba“. Während der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2014 nahmen sie zunächst eine loyale und später eine pro-russische Position ein. In Odessa wurden am 2. Mai 2014 mehrere ihrer Aktivist*innen bei Straßenkämpfen getötet. Einige Mitglieder dieser Gruppe waren auch an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Lugansk beteiligt, und einige von ihnen starben dort.

„Borotba“ beschrieb ihre Beweggründe als den Wunsch, gegen den Faschismus zu kämpfen. Sie forderten die europäische Linke auf, sich mit der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Lugansk“ zu solidarisieren. Durch eine gehackte e-Mail von Wladislaw Surkow (Putins politischem Strategen) wurde aufgedeckt, dass die Mitglieder von Borotba von Surkows Leuten finanziert und beaufsichtigt wurden.

Die autoritären Kommunist*innen Russlands haben sich die separatistischen Republiken aus ähnlichen Gründen auf die Fahnen geschrieben.

Die Anwesenheit von Rechtsextremen auf dem Maidan motivierte auch ansonsten apolitische Antifaschist*innen dazu, die „DNR“ und „LNR“ zu unterstützen. Einige von ihnen nahmen wiederum an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Lugansk teil, und einige von ihnen starben dort.

Unter den ukrainischen Antifaschist*innen gab es subkulturell geprägte, „apolitische“ Antifaschist*innen, die gegen den Faschismus waren, „weil unsere Großväter dagegen gekämpft haben“. Ihr Verständnis von Faschismus war unscharf: Sie selbst waren oft politisch inkohärent, sexistisch, homophob, russische Patriot*innen und dergleichen.

Die Idee, die sogenannten Republiken zu unterstützen, fand in der europäischen Linken breiten Rückhalt. Zu den bekanntesten Unterstützer*innen gehörten die italienische Rockband „Banda Bassotti“ und die deutsche Partei Die Linke. Neben der Spendensammlung ging Banda Bassotti auch auf Tour nach „Novorossia“. Als Mitglied des Europäischen Parlaments unterstützte Die Linke das pro-russische Narrativ auf jede erdenkliche Weise und arrangierte Videokonferenzen mit pro-russischen Aktivist*innen, die auf die Krim und in die nicht anerkannten Republiken reisten. Die jüngeren Mitglieder der Partei Die Linke sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung (die Stiftung der Partei Die Linke) betonen, dass diese Position nicht von allen Mitgliedern geteilt wird, – sie wird jedoch von den prominentesten Mitgliedern der Partei wie Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen verbreitet.

Die pro-russische Position fand bei den Anarchist*innen keine Zustimmung. Unter den individuellen Statements war die Position von Jeff Monson, einem Mixed-Martial-Arts-Kämpfer aus den USA, der Tätowierungen mit anarchistischen Symbolen hat, am auffälligsten. Er betrachtete sich früher als Anarchist, arbeitet in Russland nun jedoch offen für die Regierungspartei Einiges Russland und ist Abgeordneter in der Duma.

Um das pro-russische „linke“ Lager zu verstehen, sollten wir uns die Arbeit der russischen Geheimdienste und die Folgen der ideologischen Inkompetenz ansehen. Nach der Besetzung der Krim traten Mitarbeiter*innen des russischen FSB an lokale Antifaschist*innen und Anarchist*innen heran und boten ihnen an, ihre Aktivitäten fortzusetzen, schlugen aber vor, dass sie fortan die Idee, dass die Krim ein Teil Russlands sein sollte, in ihre Agitation einbeziehen sollten. In der Ukraine gibt es kleine Informations- und Aktivistengruppen, die sich als antifaschistisch positionieren, dabei aber im Wesentlichen eine pro-russische Position vertreten; viele Menschen verdächtigen sie, für Russland zu arbeiten. Ihr Einfluss in der Ukraine ist minimal, aber ihre Mitglieder dienen russischen Agent*innen als „Whistleblower“.

Es gibt auch „Kooperationsangebote“ der russischen Botschaft und von pro-russischen Parlamentsmitgliedern wie Ilja Kiva. Sie versuchen, die Ablehnung von Nazis wie dem Asow-Bataillon auszunutzen und bieten an, Menschen zu bezahlen, damit sie ihre Haltung zu Russland ändern. Bislang hat nur Rita Bondar offen zugegeben, auf diese Weise Geld erhalten zu haben. Früher schrieb sie für linke und anarchistische Medien, aber aus Geldnot schrieb sie unter einem Pseudonym für Medienplattformen, die dem russischen Propagandisten Dmitri Kiselev verbunden sind.

In Russland selbst erleben wir die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung und den Aufstieg autoritärer Kommunist*innen, die die Anarchist*innen aus der antifaschistischen Subkultur verdrängen. Einer der bezeichnendsten Momente der letzten Zeit ist die Organisation eines antifaschistischen Turniers im Jahr 2021 zum Gedenken an „den sowjetischen Soldaten“.

Droht ein ausgewachsener Krieg mit Russland? Ein anarchistischer Standpunkt

Vor etwa zehn Jahren wäre die Vorstellung eines ausgewachsenen Krieges in Europa absurd gewesen, denn die säkularen europäischen Staaten des 21. Jahrhunderts versuchen, ihren „Humanismus“ zu betonen und ihre Verbrechen zu verschleiern. Wenn sie sich an militärischen Operationen beteiligen, tun sie dies irgendwo weit weg von Europa. Aber was Russland betrifft, so haben wir die Besetzung der Krim und die anschließenden gefälschten Referenden, den Krieg im Donbas und den Flugzeugabsturz von MH17 miterlebt. Die Ukraine ist ständig mit Hackerangriffen und Bombendrohungen konfrontiert, nicht nur in staatlichen Gebäuden, sondern auch in Schulen und Kindergärten.

In Belarus erklärte sich Lukaschenko im Jahr 2020 mit einem Ergebnis von 80 % der Stimmen dreist zum Sieger der Wahlen. Der Aufstand in Belarus führte sogar zu einem Streik der belarussischen Propagandisten (z.B. der Fernsehsprecher*innen). Doch nach der Landung russischer FSB-Flugzeuge änderte sich die Lage dramatisch und der belarussischen Regierung gelang es, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken.

Ein ähnliches Szenario spielte sich in Kasachstan ab, doch wurden dort die regulären Armeen Russlands, Belarus‘, Armeniens und Kirgisistans im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (Collective Security Treaty Organization) hinzugezogen, um das Regime bei der Niederschlagung des Aufstands zu unterstützen.

Russische Geheimdienste lockten Flüchtende aus Syrien nach Belarus, um einen Konflikt an der Grenze zur Europäischen Union zu schüren. Es wurde auch eine Gruppe des russischen FSB aufgedeckt, die politische Morde mit chemischen Waffen – dem bereits bekannten „Nowitschok“ – verübte. Neben den bekannten Fällen von Skripal und Nawalny haben sie auch andere politische Persönlichkeiten in Russland angegriffen und getötet. Putins Regime antwortet auf alle Anschuldigungen mit den Worten: „Wir sind es nicht, ihr lügt alle“. In der Zwischenzeit hat Putin selbst vor einem halben Jahr einen Artikel geschrieben, in dem er behauptet, dass Russ*innen und Ukrainer*innen eine Nation sind und unter einem Dach leben sollten. Wladislaw Surkow (ein politischer Stratege, der die russische Staatspolitik gestaltet und mit den Marionettenregierungen in der sogenannten DNR und LNR in Verbindung steht) veröffentlichte einen Artikel, in dem er erklärte, dass „das Imperium expandieren muss, da es sonst untergehen wird“. In Russland, Belarus und Kasachstan wurde die Protestbewegung in den letzten zwei Jahren brutal unterdrückt und unabhängige und oppositionelle Medien wurden zerstört. Wir empfehlen, hier mehr über die Aktivitäten Russlands zu lesen.

Alles in allem ist die Wahrscheinlichkeit eines ausgewachsenen Krieges hoch und in diesem Jahr etwas höher als im letzten. Selbst die schärfsten Analyst*innen dürften kaum in der Lage sein, den genauen Zeitpunkt des Kriegsbeginns vorherzusagen. Vielleicht würde eine Revolution in Russland die Spannungen in der Region abbauen, aber wie wir oben geschrieben haben, ist die Protestbewegung dort erstickt worden.

Die Anarchist*innen in der Ukraine, in Belarus und in Russland unterstützen meist direkt oder implizit die ukrainische Unabhängigkeit. Das liegt daran, dass die Ukraine trotz aller nationalen Stimmungsmache, Korruption und einer großen Zahl Nazis im Vergleich zu Russland und den von ihm kontrollierten Ländern wie eine Insel der Freiheit wirkt. Dieses Land bewahrt solche im post-sowjetischen Raum „einzigartigen Phänomene“ wie die Abwählbarkeit des Präsidenten, ein Parlament, das mehr als nur nominelle Macht hat, und das Recht, sich friedlich zu versammeln; in einigen Fällen, wenn die Öffentlichkeit gerade darauf achtet, funktionieren die Gerichte manchmal sogar ordnungsgemäß. Zu sagen, dass dies besser ist als die Situation in Russland, ist nichts Neues. Wie Bakunin schrieb: „Wir sind fest davon überzeugt, dass die unvollkommenste Republik tausendmal besser ist als die aufgeklärteste Monarchie.“

In der Ukraine gibt es viele Probleme, die aber am ehesten ohne die Einmischung Russlands gelöst werden können.

Ist es sinnvoll, im Falle einer Invasion gegen die russischen Truppen zu kämpfen? Wir glauben, dass die Antwort darauf Ja lautet. Zu den Optionen, die ukrainische Anarchist*innen derzeit in Betracht ziehen, gehören der Beitritt zu den Streitkräften der Ukraine, die Beteiligung an der Territorialverteidigung, der Aufbau von Guerilla-Einheiten und die Bereitstellung von zivilen Freiwilligen.

Die Ukraine steht jetzt an vorderster Front im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Russland hat langfristige Pläne, die Demokratie in Europa zu zerstören. Wir wissen, dass dieser Gefahr in Europa bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aber wenn mensch die Äußerungen hochrangiger Politiker*innen, rechtsextremer Organisationen und autoritärer Kommunist*innen verfolgt, wird mensch mit der Zeit feststellen, dass es in Europa bereits ein großes Spionagenetz gibt. So erhielten beispielsweise einige Spitzenbeamte nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt einen Posten in einer russischen Ölgesellschaft (Gerhard Schröder, François Fillon).

Wir halten Slogans wie „Nein zum Krieg“ oder „Der Krieg der Imperien“ für unwirksam und populistisch. Die anarchistische Bewegung hat keinen Einfluss auf den Prozess, daher ändern solche Aussagen überhaupt nichts.

Unsere Position basiert auf der Tatsache, dass wir nicht weglaufen wollen, dass wir keine Geiseln sein wollen und dass wir nicht kampflos getötet werden wollen. Am Beispiel Afghanistans kann mensch nachvollziehen, was „Nein zum Krieg“ bedeutet: Als die Taliban vorrückten, flohen die Menschen massenhaft, starben im Chaos auf den Flughäfen und die Zurückgebliebenen wurden verfolgt. Dies beschreibt, was auf der Krim geschieht, und mensch kann sich vorstellen, was nach dem Einmarsch Russlands in anderen Regionen der Ukraine geschehen wird.

Was die Haltung gegenüber der NATO betrifft, so sind die Autor*innen dieses Textes geteilter Meinung. Einige von uns haben eine positive Herangehensweise zu dieser Problematik. Es ist offensichtlich, dass die Ukraine Russland nicht allein entgegentreten kann. Selbst wenn mensch die große Freiwilligenbewegung berücksichtigt, werden moderne Technologien und Waffen benötigt. Abgesehen von der NATO hat die Ukraine keine anderen Verbündeten, die ihr dabei helfen könnten.

Hier wollen wir die Geschichte von Nord-Ost Syrien/Rojava in Erinnerung rufen. Die Einheimischen waren gezwungen, mit der NATO gegen ISIS zu kooperieren – die einzige Alternative war zu fliehen oder getötet zu werden. Wir wissen sehr wohl, dass die Unterstützung durch die NATO sehr schnell verschwinden kann, wenn der Westen neue Interessen entwickelt oder es schafft, einige Kompromisse mit Putin auszuhandeln. Selbst jetzt ist die Bewegung dort gezwungen, mit dem Assad-Regime zu kooperieren, weil sie weiß, dass sie kaum eine Alternative hat.

Eine mögliche russische Invasion zwingt die ukrainische Bevölkerung dazu, nach Verbündeten im Kampf gegen Moskau zu suchen. Nicht in den sozialen Medien, sondern in der realen Welt. Die Anarchist*innen verfügen weder in der Ukraine noch anderswo über ausreichende Ressourcen, um effektiv auf die Invasion des Putin-Regimes zu reagieren. Deshalb muss mensch darüber nachdenken, Unterstützung von der NATO anzunehmen.

Der andere Standpunkt, der in unserer Redaktionsgruppe vertreten wird: dass sowohl die NATO als auch die EU durch die Stärkung ihres Einflusses in der Ukraine das derzeitige System des „wilden Kapitalismus“ in dem Land zementieren und das Potenzial für eine soziale Revolution noch weniger realisierbar machen werden. Im System des globalen Kapitalismus, dessen Flaggschiff die USA als Anführerin der NATO ist, wird der Ukraine der Platz eines bescheidenen Grenzlandes zugewiesen: ein Lieferant von billigen Arbeitskräften und Ressourcen. Daher ist es für die ukrainische Gesellschaft wichtig, die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von allen imperialistischen Kräften zu erkennen. Im Kontext der Verteidigungsfähigkeit des Landes sollte der Schwerpunkt nicht auf der Bedeutung der NATO-Technologie und der Unterstützung für die reguläre Armee liegen, sondern auf dem Potenzial der Gesellschaft für den Guerillawiderstand an der Basis.

Wir betrachten diesen Krieg in erster Linie als Krieg gegen Putin und die von ihm kontrollierten Regime. Neben der banalen Motivation, nicht unter einer Diktatur leben zu wollen, sehen wir das Potenzial der ukrainischen Gesellschaft, die eine der aktivsten, unabhängigsten und rebellischsten in der Region ist. Die lange Geschichte des Widerstands des Bevölkerung in den letzten dreißig Jahren ist ein solider Beweis dafür. Das gibt uns Hoffnung, dass die Konzepte der direkten Demokratie hier auf fruchtbaren Boden fallen.

Die aktuelle Situation der Anarchist*innen in der Ukraine und neue Herausforderungen

Die Außenseiter*innenposition während des Maidan und des Krieges hatte eine demoralisierende Wirkung auf die Bewegung. Die Öffentlichkeitsarbeit wurde erschwert, da die russische Propaganda das Wort „Antifaschismus“ monopolisierte. Aufgrund der Präsenz der Symbole der UdSSR unter den pro-russischen Aktivist*innen war die Einstellung gegenüber dem Wort „Kommunismus“ äußerst negativ, sodass selbst die Kombination „Anarchokommunismus“ negativ wahrgenommen wurde. Die Stellungnahmen gegen die pro-ukrainische Ultra-Rechte warfen in den Augen der gewöhnlichen Leute einen Schatten des Zweifels auf die Anarchist*innen. Es gab eine unausgesprochene Übereinkunft, dass die Ultra-Rechten keine Anarchist*innen und Antifaschist*innen angreifen würden, wenn sie ihre Symbole nicht bei Kundgebungen und Ähnlichem zeigten. Die Rechten hatten eine Menge Waffen in der Hand. Diese Situation schuf ein Gefühl der Frustration; die Polizei funktionierte nicht gut, sodass mensch leicht getötet werden konnte, ohne dass dies Konsequenzen hatte. Im Jahr 2015 wurde beispielsweise der pro-russische Aktivist Oles Buzina getötet.

All dies ermutigte die Anarchist*innen, das Thema ernster zu nehmen.

Ab 2016 begann sich ein radikaler Untergrund zu entwickeln; Nachrichten über radikale Aktionen erschienen immer häufiger. Radikale anarchistische Publikationen erschienen, die erklärten, wie mensch Waffen kauft und Depots anlegt, im Gegensatz zu den älteren Publikationen, die nur auf Molotow-Cocktails beschränkt waren.

Im anarchistischen Milieu ist es mittlerweile üblich, legale Waffen zu besitzen. Videos von anarchistischen Trainingscamps, in denen Schusswaffen benutzt wurden, tauchten auf. Der Widerhall dieser Veränderungen erreichte Russland und Belarus. In Russland löste der FSB ein Netzwerk anarchistischer Gruppen auf, die über legale Waffen verfügten und Airsoft spielten. Die Verhafteten wurden mit Strom gefoltert, um sie zu einem Terrorismus-Geständnis zu zwingen, und zu Haftstrafen zwischen 6 und 18 Jahren verurteilt. In Belarus wurde während der Proteste 2020 eine rebellische Gruppe von Anarchisten unter dem Namen „Schwarze Flagge“ festgenommen, als sie versuchte, die belarussisch-ukrainische Grenze zu überqueren. Sie hatten eine Schusswaffe und eine Granate bei sich; laut der Aussage von Igor Olinevich hatte er die Waffe in Kiew gekauft.

Auch der überholte Ansatz der wirtschaftlichen Vorstellungen der Anarchist*innen hat sich geändert: Während früher die meisten in schlecht bezahlten Jobs arbeiteten, die „näher an den Ausgebeuteten“ waren, versuchen jetzt viele, einen gut bezahlten Job zu finden, meist im IT-Sektor.

Antifaschistische Gruppen auf der Straße haben ihre Aktivitäten wieder aufgenommen und führen Vergeltungsaktionen bei Nazi-Angriffen durch. Unter anderem veranstalteten sie das antifaschistische Kampf-Turnier „No Surrender“ und veröffentlichten einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Hoods“, der über die Entstehung der Kiewer Antifa-Gruppe berichtet.

Der Antifaschismus in der Ukraine ist eine wichtige Front, denn neben einer großen Zahl einheimischer ultra-rechter Aktivist*innen sind viele berüchtigte Nazis aus Russland (darunter Sergej Korotkich und Alexej Levkin), aus Europa (wie Denis „White Rex“ Kapustin) und sogar aus den USA (Robert Rando) hierher gezogen. Die Anarchist*innen beobachten die Aktivitäten der extremen Rechten genau.

Es gibt verschiedene aktive Gruppen (klassische Anarchist*innen, Queer-Anarchist*innen, Anarcho-Feminist*innen, Food Not Bombs, Öko-Initiativen usw.) sowie kleine Informationsplattformen. Kürzlich ist mit dem Telegramm-Channel @uantifa eine weitere politisch engagierte antifaschistische Informationsquelle online gegangen, die ihre Veröffentlichungen auch auf Englisch dupliziert.

Die Spannungen zwischen den Gruppen werden allmählich abgebaut, da es in letzter Zeit viele gemeinsame Aktionen und eine gemeinsame Beteiligung an sozialen Konflikten gegeben hat. Zu den wichtigsten gehören die Kampagne gegen die Abschiebung des belarussischen Anarchisten Aleksey Bolenkov (dem es gelang, einen Prozess gegen die ukrainischen Geheimdienste zu gewinnen und in der Ukraine zu bleiben) und die Verteidigung eines Kiewer Stadtteils (Podil) gegen Polizeirazzien und Angriffe der Ultra-Rechten.

Wir haben immer noch sehr wenig Einfluss auf die Gesellschaft im Großen und Ganzen. Das liegt vor allem daran, dass die Notwendigkeit von Organisation und anarchistischen Strukturen lange Zeit ignoriert oder geleugnet wurde. (In seinen Memoiren beklagte auch Nestor Makhno dieses Manko nach der Niederlage der Anarchist*innen). Anarchistische Gruppen wurden sehr schnell durch den SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine] oder die extreme Rechte zerschlagen.

Wir sind aus der Stagnation herausgekommen und entwickeln uns weiter, und deshalb rechnen wir mit neuen Repressionen und neuen Versuchen des SBU, die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen.

Im Moment kann mensch unsere Positionen als die radikalsten Ansätze und Ansichten im demokratischen Lager bezeichnen. Wenn Liberale es vorziehen, sich im Falle eines Angriffs durch die Polizei oder die extreme Rechte bei der Polizei zu beschweren, bieten Anarchist*innen an, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, die unter einem ähnlichen Problem leiden, und zur Verteidigung von Strukturen oder Veranstaltungen zu kommen.

Die Anarchist*innen versuchen aktuell, horizontale Bindungen an der Basis der Gesellschaft zu schaffen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, damit die Gemeinschaften ihre eigenen Bedürfnisse, einschließlich der Selbstverteidigung, erfüllen können. Dies unterscheidet sich erheblich von der üblichen politischen Praxis in der Ukraine, in der sich oft um Organisationen, Politiker*innen oder die Polizei geschart wird. Organisationen und Politiker*innen werden oft bestochen, und die Menschen, die sich um sie gruppiert haben, werden getäuscht. Die Polizei kann womöglich mal eine LGBTIQ-Veranstaltungen schützen, wird sich aber sicher gegen dieselben Aktivist*innen wenden, wenn diese gegen Polizeibrutalität demonstrieren. Das ist der Grund, warum wir in unseren Ideen und Ansätzen Potenzial sehen, – wenn es allerdings zum Krieg kommt, wird die Hauptsache wieder sein, an einem bewaffneten Konflikt teilnehmen zu können.

Dieser Text erschien zuerst in KONTEXT:Wochenzeitung

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