Es geht um mehr als die Unterwerfung der Ukraine (II)

Im Gespräch zwischen Wolfgang Storz und dem Osteuropaexperten Andreas Wittkowsky geht es um die Hintergründe des aktuellen Krieges, die Fehler der internationalen Politik sowie die Verflechtungen und die politischen wie wirtschaftlichen Abhängigkeiten, insbesondere innerhalb Europas.

Teil 2/2, Teil 1 lesen Sie hier

Wolfgang Storz: Intensiv wird die Frage einer NATO-Mitgliedschaft debattiert. Worin besteht da der entscheidende Fehler: Diese Mitgliedschaft überhaupt angeboten oder sie nicht vollzogen zu haben?

Andreas Wittkowsky: An der Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine scheiden sich die Geister. Bis weit in konservative amerikanische Sicherheitskreise wird vertreten, dass es ein Fehler war, der Ukraine 2008  – vor allem auf Drängen der USA – die „Perspektive“ einer NATO-Mitgliedschaft eröffnet zu haben. Doch hätte die Alternative eines neutralen Pufferstaats wirklich mehr Sicherheit für das Land und Europa gebracht? Oder hätte eine solche Neutralität nicht den im selben Jahr von dem russischen Präsidenten Medwedjew formulierten Anspruch auf eine „Sphäre privilegierter Interessen“, also auf eine russische Einflusssphäre, widerspruchslos anerkannt – mit allen absehbaren Folgen für Osteuropa?

Hätte Neutralität die Ambitionen von Putin befriedet?

War es nicht vielmehr der entscheidende Fehler, der Ukraine zwar die „Perspektive“ zu eröffnen, den konkreten NATO-Beitrittsprozess dann aber auf Eis zu legen? Die deutsch-französische Hinhaltetaktik in dieser Frage war vielleicht gut gemeint, als deeskalierendes Signal an Russland. Aber sie führte konkret dazu, die Ukraine im sicherheitspolitischen Limbo zu belassen, also im völligen Ungewissen, bis sie im Februar 2022 angegriffen wurde.

Die letzte Frage lautet dann, ob ein neutralitätspolitisches Entgegenkommen die Ambitionen des Kreml tatsächlich befriedigt hätte. Immerhin müssen wir konstatieren, dass Putin auch im eigenen Land immer repressiver gegen zivilgesellschaftlichen Protest, freie Medien und gesellschaftliche Vergangenheitsaufarbeitung vorgeht. Die Diffamierung der Empfänger von internationaler Unterstützung als „ausländische Agenten“ oder das noch kurz vor Kriegsbeginn erfolgte Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial sind dafür symptomatisch. Diese Entwicklung wiederum auf politische Entscheidungen und eventuelle Fehler des Westens zurückzuführen, wäre falsch.

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), einer gemeinnützigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt. Als Kompetenzzentrum für Friedenseinsätze bietet das ZIF Expertise zum Thema internationale Friedenseinsätze und sekundiert zivile Expertinnen und Experten in solche Einsätze, vor allem in der EU und der OSZE.Dr. Wolfgang Storz arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, er war zuvor bei der Badischen Zeitung, der IG Metall und der Frankfurter Rundschau tätig.

Wolfgang Storz: Trotzdem noch die Nachfrage: Wäre es unter Ihrem Aspekt der Politik des Interessenausgleiches und der Deeskalation nicht von Anfang an sinnvoll gewesen, wenn die Ukraine versucht hätte, sich – mit Hilfe des Westens – als neutraler Staat, als Brückenkopf zwischen Russland und der EU zu positionieren, vielleicht eine Art Schweiz Osteuropas zu werden?

Andreas Wittkowsky: Für mehrere Jahre verfolgte die Ukraine tatsächlich eine Zwei-Vektoren-Außenpolitik, die auf eine Kooperation mit der ehemaligen sowjetischen Hegemonialmacht und den Westen gleichermaßen ausgerichtet war. Dies war schon rational wegen der fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten in beide Richtungen. In dieser Zeit war die Russische Föderation noch vorrangig mit internen Problemen beschäftigt, dem wirtschaftlichen Verfall und Separatismen im eigenen Staatsgebiet.

Zunehmend tendierte dann aber die russische Politik dahin, Einfluss auf die innere und äußere Entwicklung der post-sowjetischen Staaten zu nehmen. Als politische Hebel dienten beispielsweise die „eingefrorenen“ Konflikte in Moldova (Transnistrien) und Georgien (Südossetien und Abchasien), in denen auch russische Friedenstruppen involviert waren, oder die Abhängigkeit der Nachbarstaaten von russischen Energielieferungen. Unter der Präsidentschaft Putins fand dann das Narrativ des Russki mir zunehmend Gehör, also der Anspruch auf eine „Sphäre privilegierter Interessen“ leitete zunehmend Entscheidungen und Handlungen.

Der Störfaktor – Putins Anspruch auf „Russki mir“

All dies beunruhigte die postsowjetischen Staaten und entfremdete sie von Russland. Sie wollten alles, nur nicht Teil eines neutralen Zwischeneuropas sein. In dem Maße, wie die Furcht wuchs, dem neo-hegemonialen Streben Russlands zum Opfer zu fallen, verstärkten diese Staaten ihre Anstrengungen, sich diesem russischen Anspruch maximal zu entziehen – oft mit dem Argument, dass das Zeitfenster dafür begrenzt sein könnte.

Dabei konnten sich die Ukraine und ihre Nachbarn auch auf die Grundlagendokumente der OSZE berufen, die Helsinki-Schlussakte und die Pariser Charta, die allen beteiligten Ländern die freie Wahl ihres Bündnisses zusicherten. Auch die Sowjetunion hatte diese Dokumente unterzeichnet, und Russland ist als ihr Rechtsnachfolger an sie gebunden. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 bekräftigte Russland dann nochmals diese Prinzipien.

Wolfgang Storz: Gab es in diesem Zeitraum, über den wir sprechen, irgendein Ereignis, eine Äußerung einer der Konfliktparteien, bei dem Sie aufmerkten und dachten: Hier könnte ein Ansatz für vielversprechende Verhandlungen sein?

Andreas Wittkowsky: Ich sehe eine solche Gelegenheit nicht.

Was noch zu beachten ist: Im Dezember 2021 legte Russland den USA und der NATO zwei Vertragsentwürfe vor. Ihr Inhalt unter anderem: keine weitere Aufnahme von NATO-Mitgliedern, Rückabwicklung aller NATO-Stationierungen im Rahmen der Osterweiterung ab 1997, keine US-Militärbasen und -Kooperationen im post-sowjetischen Raum sowie der Abzug aller US-Nuklearwaffen aus Europa; letzteres unterlegt mit deutlichen Warnungen vor den Gefahren einer nuklearen Eskalation.

Man sollte der erfahrenen russischen Diplomatie nicht unterstellen, dass sie diesen Versuch, die USA und ihren nuklearen Sicherheitsschirm aus Europa zu verdrängen, Aussichten auf Erfolg einräumte. Die Antworten der USA und der NATO, aus diesen Entwürfen Grundlagen für weitere Verhandlungen zu destillieren, aber auf dem Grundsatz souveräner Entscheidungen zu beharren, war unter diesen Bedingungen konstruktiv – sie wurden aber von Putin als unzureichend abgelehnt.

Putins Ziel: USA raus aus Europa

Deutlich wurde an diesen Entwürfen auch, dass es Putin um mehr als die Ukraine geht. Insofern wäre die Annahme zu kurz gedacht, der gegenwärtige Konflikt sei mit der militärischen Unterwerfung der Ukraine beendet. Und so pathetisch es klingen mag: Die Ukraine kämpft gegenwärtig auch für unsere Freiheit.

Nun, nachdem Putin der Ukraine den Krieg – der in Russland immer noch nicht Krieg genannt werden darf – erklärt hat, ist es viel schwieriger geworden für Verhandlungsoptionen, zumal Putins „Militärischer Sondereinsatz“ mit Maximalforderungen wie der vollständigen „De-Nazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine einhergeht. Obwohl es inzwischen Gespräche zwischen beiden Seiten gibt, leugnete Russlands Außenminister Lawrow noch am 10. März in Antalya, dass Russland die Ukraine angegriffen habe.

Eine wirkliche Chance für Verhandlungen gibt es wohl erst wieder, wenn eine Seite vollständig unterliegt oder ihr der Preis einer weiteren militärischen Auseinandersetzung zu hoch wird. Wir können dazu beitragen, indem wir die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken und die Kosten der russischen Aggression mit Sanktionen erhöhen.

Wolfgang Storz: Der Ansatz der vernetzten Sicherheit, zu dem Sie gearbeitet haben, geht davon aus, Sicherheit könne am besten geschaffen werden, wenn die Instrumente des Militärs, des Zivilen, der Diplomatie und der Entwicklungszusammenarbeit intelligent aufeinander abgestimmt und eingesetzt werden. Was bedeutet dieser Ansatz jetzt unter diesen desaströsen Bedingungen?

Andreas Wittkowsky: Auch wenn dies wohl die wenigsten gegenwärtig so diskutieren: Wir erleben gerade eine gewaltige Anstrengung des Westens, einen Ansatz der vernetzten Sicherheit zur Wirkung zu bringen. Kombiniert werden die Unterstützung der Ukraine mit Abwehrwaffen, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland als schärfste Form ziviler Machtmittel, diplomatische Anstrengungen auf vielen Ebenen sowie humanitäre Hilfe.

„absolut fahrlässig“

Der Krieg zeigt auch, dass der starke deutsche Wunsch, ausschließlich auf zivile Konfliktbearbeitung zu setzen, zwar moralisch gut gemeint, aber nicht realitätstauglich ist. Wer eine Bundeswehr hat, die sich von Mangel zu Mangel laviert und in größerem Umfang kaum einsatzbereit ist, der verliert nicht nur bei den internationalen Partnern an Reputation. Auch mögliche Gegner lassen sich mit guten Worten alleine kaum beeinflussen.

Wolfgang Storz: War es nicht in jedem Fall höchst fahrlässig, sich auf Dauer in eine Rohstoffabhängigkeit gegenüber einer Diktatur wie der von Putin zu begeben, wie das alle deutschen Regierungen gegenüber Russland seit Jahrzehnten zugelassen, sogar aktiv betrieben haben?

Andreas Wittkowsky: Uns fällt gerade auf die Füße, dass sich auch in strategischen Schlüsselsektoren in Deutschland und anderswo in den vergangenen Jahrzehnten ein geradezu blindes Vertrauen in Marktkräfte durchgesetzt hat. Insbesondere dort jedoch, wo die Marktteilnehmer Staatsunternehmen sind, die auf eine geopolitische Strategie ihres Landes verpflichtet werden, ist dies absolut fahrlässig. Die jahrelange Verteidigung von Nordstream 2 als „privatwirtschaftliches Projekt“ war ein flagrantes (und im Übrigen parteiübergreifendes) sicherheitspolitisches Versagen. Der „Neoliberalismus“ ist mir ein allzu abgedroschenes Feindbild – doch das seit 1989 herrschende marktliberale Leitbild, das wir auch den Transformationsländern angedient haben, das aber die (geo-)politische Ökonomie und Marktversagen weitgehend ausblendet, hat sich endgültig desavouiert.

Text: Wolfgang Storz, Bild: Wiki Commons, Autor Silar, Russian diaspora protests against war in Ukraine, 6.3.2022, Lizenz: the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

Dieser Text erschien zuerst in https://bruchstuecke.info