Ukraine-Krieg: Die Rückkehr der Bellizisten
In den Medien und unter Kulturschaffenden und Intellektuellen tobt seit geraumer Zeit ein heftiger Kampf um die Deutungshoheit im Ukraine – Krieg. Kaum war ein von der Feministin Alice Schwarzer lancierter offener Brief von 28 Intellektuellen an den deutschen Bundeskanzler publik, schon wurden diese (nicht nur) vom Feuilleton als ewig-gestrige Defätisten, die vor Putins Russland kuschten, gebrandmarkt. Dazu ein Kommentar von Jochen Kelter.
Kurz nach Schwarzers Brief wurde ein weiterer Brief von nunmehr fast 50 Personen des kulturellen Lebens bekannt, die sich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine einsetzen. Kommentatoren glauben, da handle es sich auch um einen Generationenbruch zwischen Älteren, die während der Nachrüstung der achtziger Jahre sozialisiert worden, und den Jungen, die von der Angst vor einem Atomkrieg nicht geprägt seien. Sicherlich trifft das indessen höchstens teilweise zu. Denn wenn man Medien und Politik seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs Ende Februar betrachtet, erhält man eher den Eindruck, als erlebe man eine totale und kollektive Rolle rückwärts.
Alles, was westliche Politik in den vergangenen dreißig Jahren gemacht habe, sei grundfalsch (und wo waren da die Medien, um solchen fundamentalen Irrtümern Einhalt zu gebieten?). Und auch die Schweiz müsse ihre Neutralität neu formulieren, weg von einer strikten, hin zu einer «parteiischen Neutralität». Putins Russland sei vom Westen entschlossen entgegenzutreten, mit Sanktionen, Boykott, Ausschluss und der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Die deutsche Bevölkerung ist übrigens weit weniger bellizistisch gesinnt als Medien und Teile der Politik, nur etwa die Hälfte befürwortet die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine – nicht nur aus berechtigter Angst vor einer Ausweitung des Krieges, sondern wohl auch eingedenk der Gräuel, die Nazis, Wehrmacht und SS (einschliesslich ihrer ukrainischen Helfer) im 2. Weltkrieg in Russland und der Ukraine mit ihren 27 Millionen Toten begangen haben.
Ein ehemaliger finnischer Geheimdienstler sagt: «Der russische Imperialismus basiert auf Angst» und das seit dem Einfall der Mongolen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zur chaotischen Jelzin – Zeit zu Beginn der neunziger Jahre (1) . Hätte man das im Westen vielleicht berücksichtigen müssen, statt eins nach dem anderen der vormals zur sowjetischen Einflusszone gehörenden Länder wie Polen, die baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien in die EU und vor allem die NATO aufzunehmen? Jetzt wollen sogar Finnland und Schweden in die NATO. Wäre es nicht klüger gewesen, die Zone der neutralen Länder von Schweden und Finnland in der ersten Dekade des Jahrhunderts bis in den Südosten des Kontinents zu erweitern – mit Garantiemächten etwa des Sicherheitsrats der UNO (mit den USA und Russland als wichtigsten Mitgliedern)?
Und allzu leicht wird (nicht zuletzt wieder von den Medien) vergessen, dass wir in der Ära des Neoliberalismus leben, in der Politik immer weniger, die Privatwirtschaft, also die Weltkonzerne immer mehr zu sagen haben. Dass also etwa die Gasleitung Nordsteam2 und die Frage von Ölimporten keineswegs nur von der Politik abhängen. Bezeichnend war da jüngst eine Bemerkung des ehemaligen deutschen SPD – Aussenministers Siegmar Gabriel, seit 2002 habe die Politik bei Nordstream gar nicht mehr das Recht gehabt einzugreifen, auch wenn sie gewollt hätte (was man mit Recht bezweifeln darf). Die Corona – Pandemie hat jüngst offenbart, wie sehr Europa nicht nur bei Hygienemasken, sondern sogar bei Aspirin-Tabletten auf Importe aus Asien angewiesen ist, weil europäische und US – Konzerne (wie beim Import von Textilien) unsere Abhängigkeit zugunsten ihrer Profite erschreckend vergrößert haben. Und aus der Geschichte ist bekannt, dass es schon immer Großkonzerne waren, die jeden Krieg noch so gerne bedient haben. Erwähnt sei auch noch, dass der ukrainische Präsident, der jetzt zum Kriegshelden wird, die von Oligarchen (wie in Russland) beherrschte und völlig korrupte Gesellschaft in seiner bisherigen Amtszeit keineswegs auch nur ansatzweise vorangebracht, sich vielmehr in ihr eingerichtet hat.
Im Oktober letzten Jahres wurde der «Welt» – Journalist Deniz Yücel zum neuen Präsidenten des deutschen PEN – Zentrums gewählt. Yücel ist zwar kein Schriftsteller, aber durch seine Inhaftierung in der Türkei in der Öffentlichkeit bekannt. Im März bei der Lit.Cologne, einer der größten deutschen Literaturveranstaltungen (besser würde man wohl Events sagen) befürwortete Yücel ein Flugverbot über der Ukraine, das nur von der NATO verhängt werden könnte, wodurch diese automatisch zum Kriegsteilnehmer würde. Das könnte man noch durchgehen lassen, hätte er sich explizit als Privatperson geäußert, als PEN – Präsident hätte er das nicht sagen dürfen. Sofort wurde der Ruf nach Rücktritt laut, und ihm wurde die Abwahl bei der nächsten Jahresversammlung angedroht. Die findet derzeit in Gotha statt, und man wird sehen, ob sich der PEN dann genauso zerfleischen wird wie der Schriftstellerverband VS in den Debatten der schon erwähnten achtziger Jahre.
Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko schrieb in der Neue Zürcher Zeitung (2) sinngemäß, man könne ja schon der russischen Literatur entnehmen, um was für eine Nation es sich handle. Bereits bei Tolstoi und Dostojewski könne man lesen, welch kriegerische Gesellschaft die russische schon immer gewesen sei. Ich verkürze. Aber gleichwohl scheint mir diese Gleichsetzung von Literatur und Gesellschaft nicht nur fahrlässig, sondern, alleine von Ressentiments gesteuert, absolut unzulässig. Würde man aus der jüngeren deutschen Geschichte schlussfolgern, deutsche Literatur zeige ein gewalttätiges Bild der Gesellschaft, wüsste ich nicht, wie man Autoren wie Fontane, Heine,Tucholsky, Bert Brecht oder Anna Seghers zu Zeugen für ein solches Weltbild aufrufen könnte.
Der polnische Autor Szczepan Twardoch ist ein auch hierzulande durch seine interessanten historischen Romane, die uns meist unbekannte Geschichte beleuchtet, (zuletzt «Demut», zuvor «Drach» und «Das schwarze Königreich») bekannt gewordener Autor. Und auch er meldet sich zum Krieg in der Ukraine in der Neue Zürcher Zeitung zu Wort (3). Er rät den westlichen Intellektuellen, einfach «die Klappe» zu halten. Der Westen habe Russland und Osteuropa noch nie verstanden, nicht verstehen wollen. Schon der französische Diplomat Louis-Philippe de Ségur, der 1784 zum Botschafter am Hof der Zarin Katharina II. (immerhin einer Deutschen) ernannt wurde, habe ganz in der herablassenden Art des Westens bei seiner Einreise nach Polen (das nach der ersten polnischen Teilung teilweise zu Russland gehörte), bemerkt, «wir seien um zehn Jahrhunderte zurückversetzt, befinden uns unter Hunnen, Skythen, Wenden, Slawen und Sarmaten.» Zum einen stimmt die Feststellung historisch, denn Polen bestand zu jener Zeit aus verschiedenen aus dem Osten eingewanderten Völkerschaften. Und was hätte er zum anderen, der aus einem Land kam, das sich im Zeitalter der Aufklärung befand wie kaum ein anderes, gesellschaftlich konstatieren können?
Und in der Gegenwart? Der kanadischen Globalisierungskritikerin Naomi Klein wirft er vor zu behaupten, schuld am Krieg in der Ukraine sei die NATO, «weil sie nach 1997 so nah an die russischen Grenzen herangerückt sei». Schuld am Krieg in der Ukraine ist alleine Putins Russland. Was die NATO betrifft, habe ich mich dazu weiter oben geäußert. Dem amerikanischen Linguisten und Systemkritiker Noam Chomsky hält er die seiner Meinung nach irre These vor, dass der Westen seit dreißig Jahren auf die Sicherheitsbedenken Russlands nicht gehört habe. Der Westen sei insgesamt gutmenschlich naiv. Russland sei «auf Lügen gebaut, die Lüge gehört zu seinem Wesen.»
Immerhin plädiert auch Twardoch nicht für eine Teilnahme der NATO am Krieg. Andererseits schreibt er, «dass der Frieden nicht durch Verhandlungen, sondern nur durch einen Sieg der Ukraine gesichert werden kann ….» . Wie soll das gehen? Er stellt die waghalsige Vermutung an, dass der Regimekritiker Alexei Nawalny nach dem Mordanschlag auf ihn freiwillig «geradewegs ins Straflager» gegangen sei, weil er irgendwann Putin beerben will wie einst Gorbatschow und Jelzin auf den Sowjetstaat gefolgt sind. Und dann beginne alles wieder von vorn. Er hoffe dagegen, «dass … jemand eine Art Morgenthau-Plan für Russland ausarbeitet». Zur Erinnerung: Der Morgenthau – Plan nach dem 2. Weltkrieg sah vor, Deutschland in ein Agrarland ohne jedwede Industrie und ohne Armee zu verwandeln. Glaubt oder will er das im Ernst?
Die Reaktionen osteuropäischer Autoren sind von einer Mischung aus berechtigter Angst, Minderwertigkeitskomplexen und Emotionen, vor allem Hass geprägt. Das mag verständlich sein, realistisch und hilfreich sind sie nicht. Sie erfüllen allerdings die Erwartungen der überwiegenden Mehrheit der westlichen Medien und Politiker, die sich angesichts des neuen Kriegs zu forschen Bellizisten gewandelt haben.
Text: Jochen Kelter
Bild: Privat
(1) Tages – Anzeiger Magazin, 30.03.2022
(2) Neue Zürcher Zeitung, 30.04.2022
(3) Neue Zürcher Zeitung, 09.04.2022