„Wer sich mit Akteuren wie KenFM gemein macht, der weiß, was er tut“ (III)

Die Nachdenkseiten (NDS) sind ein bei Gewerkschafts-Linken und in klassisch linken Kreisen sehr einflussreiches und weit verbreitetes Internetportal. Gegründet unter anderem von Albrecht Müller, kommt das Projekt von links, hat sich jedoch nach und nach bis heute zu einem Querfront-Medium gewandelt, „das die Bezüge zur radikalen Rechten zwar indirekt, aber ganz bewusst herstellt“. Zudem dienten die NDS als „Scharnier für Verschwörungstheorien“. So lauten einige der Befunde, die der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden in einem Gutachten präsentiert. Wolfgang Storz interviewte ihn per E-Mail.

Teil 3/3

Wolfgang Storz: Mit seriösen aufklärerischen Analysen, Interviews und Leitartikeln sind in dieser Internetwelt kaum größere Reichweiten zu erzielen. Kann das auch ein Motiv der Macher sein: Sie wollen einfach mehr Reichweite und deshalb auch die Milieus der Querdenker und Verschwörungsanhänger erreichen?

Markus Linden: In der Tat spielt die Reichweiten-Orientierung eine Rolle. Analog zur Neuen Rechten, die sich als Mosaikrechte versteht und dabei ideologische Zäune einreißt, versuchen auch die von links kommenden Nachdenkseiten Anknüpfungspunkte zu radikal widerständigen und oppositionellen Gruppen zu finden. Beim Corona-Thema fungiert man eher als „Fragensteller“, greift also auf eine klassische Verunsicherungstaktik zurück. Direkte Verschwörungstheorien werden dann in den verlinkten Artikeln präsentiert. Dabei scheinen die Macher der Illusion anzuhängen, dass Protestbewegungen eigentlich genuin links seien, zu dieser Erkenntnis aber der Aufklärung bedürften. Also vermischen sie das Corona-Thema immer wieder mit den angestammten Feldern der Nachdenkseiten: Globalisierungs- und US-Kritik, Medienkritik, Manipulationsdiagnose und Elitenbashing.

Wolfgang Storz: Was vermuten Sie, ist heute das Ziel der Macher der NDS? Aufklärung, höhere Reichweiten, ein wirtschaftliches Auskommen via Spenden — geht es eher um wirtschaftliche oder politische Ziele oder um eine Mischung?

Markus Linden: Ich habe die wirtschaftlichen Verflechtungen nicht untersucht, gehe aber in Anbetracht der geschlossen dargebotenen Ideologie von einer stark richtungsgebenden Programmatik aus. Hier hat sich die Linie quasi verlängert: ausgehend von der Medien- und Politikkritik rund um die Agenda 2010 zu einer umfassenderen und generelleren Medien- und Politikkritik. Da man für die eigenen Positionen kaum noch Ansprechpartner in der angestammten Öffentlichkeit findet, schafft man sich seine eigene Blase und schaukelt sich hoch. Die Nachdenkseiten machen mit ihrer Abschottung, bei der sie sich selbst im Gegensatz zu allen anderen — frei nach dem Scherz: „Was heißt hier ein Geisterfahrer, nein, mir kommen hunderte entgegen!“ — wahrscheinlich als kontinuierlich wahrnehmen, einen Dialog unmöglich. Auch medial ist die Strategie langfristig nicht integrativ. Als Sarah Wagenknecht-Fan-Medium können letztlich nur Nischen bedient werden. Diese werden dann zwar stetig bedient, aber in die praktische Politik werden diese Ansichten kaum einfließen. Der Weg aus der Selbstreferenz würde möglicherweise im Falle einer großen Wirtschaftskrise geöffnet. Außerdem macht man sich zum indirekten Steigbügelhalter rechter Ideologien, da ein mediales Sturmreifschießen des „Systems“ auf der Agenda der Nachdenkseiten steht. Schnellroda postuliert Ähnliches, hat aber ein identifizierbares Langfristziel und mit der AfD einen regional starken parteipolitischen Partner, den ich bei den Nachdenkseiten nicht sehe. „Aufstehen“, der dieser Partner hätte sein können, blieb ein Versuch.

Markus Linden lehrt als außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Seine Promotion zum Thema „Politische Integration im vereinten Deutschland“ (2006) und die Habilitation über „Einschluss und Ausschluss durch Repräsentation“ (2014) sind als Monografien im Nomos-Verlag erschienen. Linden forscht und publiziert zum Thema „Theorie und Empirie der Demokratie“. Hierbei bilden die digitale Öffentlichkeit und die Geistesgeschichte radikaler Gegenwartsbewegungen aktuelle Schwerpunkte.

Dr. Wolfgang Storz (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau.

Wolfgang Storz: Die populistische Protest- und Widerstandskultur hat ja auch in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zugenommen, zuletzt befeuert von Ereignissen wie der Flüchtlingsbewegung, der Corona-Epidemie und von dem seit vielen Jahren andauernden Streit um die Russland-Politik des Westens. Passen sich die Nachdenkseiten dieser populistischen Protest- und Widerstandskultur an oder gehören sie zu deren Protagonisten? Sind sie Getriebene oder Antreiber?

Markus Linden: Die Nachdenkseiten sind das Paradebeispiel für eine populistische Protest- und Widerstandskultur, wie sie Pierre Rosanvallon mit dem Begriff der „Gegen-Demokratie“ und Nadia Urbinati mit ihrer Diagnose von der „Revolte gegen die vermittelnden Institutionen“ beschreiben. Das „Dagegen“ ist das Grundmotiv dieser Bewegungen, die einer identitär-monistischen und stets simplifizierenden Politikauffassung anhängen. Als Getriebene sehe ich die Nachdenkseiten dabei nicht. Sie sind vielmehr Agenda-Setzer. Wer sich mit Akteuren wie dem Portal KenFM gemein macht, der weiß, was er tut. Es geht um die Schaffung einer eigenen Öffentlichkeit, deren mediale Rundumversorgung und Ideologisierung hergestellt werden soll. Albrecht Müller oder Jens Berger sind keine Amateure, die passiv einem Trend folgen. In der Politikwissenschaft sprechen wir (Winfried Thaa und ich) von der konfigurierenden Funktion politischer Repräsentation. Die erfüllt Bob Geldof, wenn er ein Hilfskonzert veranstaltet und Öffentlichkeit schafft, die erfüllen aber auch die Nachdenkseiten, wenn sie im deutschsprachigen Raum eine Gruppenidentität nach dem Vorbild beispielsweise der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich schaffen wollen.

Wolfgang Storz: Die verschwörungsideologischen Inhalte und die empört-aggressiven Formen der politischen Kommunikation der Nachdenkseiten werden ja — gesamtgesellschaftlich gesehen — nicht weniger, sondern weiten sich überall aus. Wie erklären Sie sich das?

Markus Linden: Die Masterfrage. Natürlich haben digitale Medien eine Eigendynamik, die mit den Begriffen „Echokammern“ und „Filterblasen“ treffend beschrieben wird. Das Vermittelnde in der Demokratie, und dazu gehören die hergebrachten Medien ebenso wie Parteien und Parlamente, gerät dadurch unter Druck. Darüber hinaus sind es aber auch eigenständige politische Prozesse, die hier am Werk sind. Als Politikwissenschaftler habe ich die prozedurale Ebene von Politik im Blick und beobachte, dass der klassische Konflikt zwischen Regierung und Opposition in vielen politischen Systemen ebenso unter Druck geraten ist wie die Rolle der Parlamente, deren Eigenwert oft hinter kommunikativen Geschlossenheitserwartungen zurückstand beziehungsweise zurücksteht. Große Koalitionen in Österreich und Deutschland, eine neoliberale und offensiv kriegerische Wendung der englischen Sozialdemokratie unter Blair, die Abwendung der US-amerikanischen Demokraten von ihrer klassischen UnterstützerInnenschaft unter den IndustriearbeiterInnen — all diese eigentlich unterschiedlichen Phänomene zeugen von einem Wandel der westlichen Demokratie, bei dem Individualisierungs- und Entpolitisierungsprozesse zusammenwirkten. Die Hinwendung zu Verschwörungstheorien hat insofern auch etwas mit Repolitisierung zu tun, mit der Suche nach Orientierung. Sie ist gewissermaßen die Kehrseite eines wiederentdeckten politischen Interesses, das mangels politischer Grundbildung unvermittelt auf wüste AgitatorInnen in Alternativmedien trifft. Wenn erst in der 8. oder 9. Klasse mit dem Sozialkundeunterricht begonnen wird, darf man sich nicht wundern.

Wolfgang Storz: Was machen die NDS: Journalismus oder Propaganda mit journalistischem Handwerkszeug?

Markus Linden: Gut formuliert – ich wähle Alternative zwei.

Wolfgang Storz: Haben Sie von den NDS bereits eine Reaktion erhalten?

Markus Linden: Nein. Ich bin etwas überrascht darüber, dass man bislang noch keine Kampagne gegen die Studie gestartet hat. Vielleicht tut man sich auch mit der Einordnung und meiner Herangehensweise schwer.

Wolfgang Storz: Wären Sie zu einer öffentlichen Diskussion mit den Machern der NDS bereit?

Markus Linden: Nein. Das wertet ein solches Medium nur auf. Man wird auf ein Podium gesetzt und zwei Parteien stehen sich gegenüber, als ob es um einen herkömmlichen politischen oder inhaltlichen Streit ginge. Der Zug ist abgefahren. Die Nachdenkseiten haben sich mit ihren Methoden längst aus dem legitimen Diskursfeld manövriert. Wer den angekündigten Völkermord eines russischen Diktators mit seiner Arbeit ganz bewusst relativiert und damit zumindest indirekt legitimiert, hat eine Grenze überschritten. Jede und jeder kann meine Ergebnisse und die Belege nachlesen.

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Weitere Informationen

  • Die Analyse von Markus Linden lesen Sie hier.
  • Weitere Informationen über die Arbeitsweise der NDS und eine juristische Auseinandersetzung, welche die Otto Brenner Stiftung und Wolfgang Storz erfolgreich gegen die NDS führten, finden Sie hier.

Text: Wolfgang Storz. Bild: Symbol used by Corona sceptical protesters made of tinfoil and ribbon [Querdenker-Bommel], Urheber: Siesta, Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.

Dieses Interview erschien zuerst auf bruchstücke. Blog für konstruktive Radikalität, und zwar hier.