Mörder ehren – Der Fall Jodl (1)
Es wirkt wie eine Provinzposse – und ist doch viel mehr. Der Stein des Anstoßes steht auf dem Friedhof der idyllischen Fraueninsel im Chiemsee: Ein Ehrenmal für »Alfred Jodl, Generaloberst«, dessen Familie ein Anwesen in Gstad am Chiemsee gehört hat. Jodl war in seiner führenden militärischen Position für viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich.
Teil 1/2
Jodl ist einer der wenigen Militärs, die für ihre Verbrechen tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wurden. 1946 verurteilte ihn das Internationale Militärtribunal in Nürnberg unter anderem wegen seines Befehls, Leningrad auszuhungern – der Belagerung fielen 1941-1944 etwa 1,1 Millionen Menschen zum Opfer – sowie wegen der Planung von Vernichtungskriegen als Kriegsverbrecher zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Seine Asche ist in den Wenzbach, einen Zufluss der Isar, gestreut worden. Um Ehrenerweisungen etwa an Jodl auszuschließen, untersagten die Alliierten in der Kontrollratsdirektive Nr. 30 vom 13. Mai 1946 Gedenksteine für Personen, »die mit Kriegshandlungen nach dem 1. August 1914 in unmittelbarem Zusammenhang stehen« bzw. »darauf zielen, die deutsche militärische Tradition zu bewahren und lebendig zu erhalten«. Doch darum haben sich die Familienangehörigen nicht geschert, als sie 1953 das Kenotaph errichten ließen, das seit langem zwischen den Gräbern von Jodsl Ehefrauen in die Höhe ragt: ein Scheingrab, aufgemacht als großes helles, mittig positioniertes Steinkreuz aus Travertin, einem Eisernen Kreuz nicht unähnlich, mit Jodls Namenszug, seinem militärischen Rang und seinen Lebensdaten im unteren Bereich. Das Nutzungsrecht obliegt inzwischen einem Verwandten, Johannes Fisser, Nachkomme einer Schwester der Generalswitwe.
Nestbeschmutzer
Proteste hat es zunächst nicht gegeben. Kaum jemand störte sich daran. Schon gar nicht in der Justiz, befanden sich dort doch viele der alten Nazirichter wieder in Amt und Würden, unter anderem damit beschäftigt, die Entschädigungsansprüche von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern zurückzuweisen. Georg Wieland, dessen Familie seit sechs Generationen auf der Insel lebt, ist dort als Architekt tätig und erinnert sich, wie seine Mutter in den 1950er Jahren sagte: »Das mit diesem Nazistein auf dem Friedhof, das geht ja überhaupt nicht!« Aber unternommen hat man nichts. Zu stark war der Trend, die Nazivergangenheit zu verdrängen bzw. alle Untaten, wie es die westdeutsche Geschichtsschreibung tat, auf den »Dämon« Hitler zu schieben. Wer sich dennoch aufklärend mit der deutschen Vergangenheit befasste, musste mit geharnischter Kritik oder gar mit beruflichen Nachteilen rechnen.
Georg Wieland erging es nicht ganz so schlimm. Aber auch in seinem Fall gilt: Wer das Nest reinigen will, wird leicht zum Nestbeschmutzer. Zunächst aber begann seine Auseinandersetzung mit dem, was er als »Geschichtsvergessenheit mit Absicht« bezeichnet, nicht am Jodl-Ehrenmal, sondern mit Sepp Hilz, einem der Lieblingsmaler Hitlers, der diesem 100.000 Mark Fördergeld zukommen und ihn auf eine sogenannte Gottbegnadetenliste setzen ließ. Hilz seinerseits ließ sich nicht lumpen, schuf heroisierende Bilder bäuerlicher Edelmenschen, Kämpfer, Krieger, Helden und Heldinnen, hin und wieder auch nackt, wofür ihn die Nazis und ihre völkischen Mitstreiter hoch lobten. Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, im Mai 1995, wollte die Gemeinde Chiemsee Hilz als »Inselmaler« auf Frauenchiemsee würdigen, und Wieland schlug vor, »mindestens eine Infotafel im Ausstellungsraum (…) über Hilz und seine Systemkunst in den Dreißigern und Vierzigern« anzubringen. Die Gemeinde lehnte strikt ab. Je reger sich die Öffentlichkeit für Hinz und dessen Genrebilder von der Inselidylle zu interessieren begann, desto mehr sah Wieland sich ausgegrenzt. Dabei blieb es auch, als »Extra 3« und die Süddeutsche Zeitung den Fall aufgriffen. So durfte Wieland zum Beispiel an einer Podiumsdiskussion nicht teilnehmen.
Doch Wieland hatte einen langen Atem und wandte sich in den folgenden Jahren weiter an die Gemeinde mit Anregungen, wie etwa auf dem Friedhof mit Jodl umzugehen sei. Vergeblich. »Die Ablehnung des Bürgermeisters kam nicht schroff«, erinnert sich Wieland, »sondern … eher so … wie soll man sagen … kumpelig: Da muss doch mal a Ruh’ sein! … Wen interessiert denn der ganze oide Kaas heit no?« Die Schlussstrichmentalität feierte fröhliche Urständ – und Neonazis versammelten sich zu einem mehr oder minder stillen Gedenken am Kriegsverbrecherehrenmal.
Als Norbert Lammert, damals Parlamentspräsident, am 30. Januar 2014 zum 70. Jahrestag des Endes der Leningrader Hungerblockade eine Gedenkrede vor dem Deutschen Bundestag hielt, informierte ihn Wieland, dass im Chiemsee für den Massenmörder von Leningrad ein Ehrenmal stehe. Lammert empfahl ihm, eine Petition an den Bundestag zu richten. Dieser gab nach Empfang des Gesuchs zu verstehen, dass der Bayerische Landtag zuständig sei. Also petitionierte Wieland erneut. Nach langem Warten traf schließlich mit Datum vom 28. November 2014 der Bescheid ein, der Ausschuss habe sich mit der Sache befasst, lehne es aber ab, tätig zu werden oder eingreifende Aktionen zu veranlassen, da die Gemeinde beschlossen hätte, das »Grab« 2018 aufzulassen – also einzuebnen.
Wieland traute dem Braten nicht: »Ich wollte dranbleiben, mich weiter informieren (…). Aber ungefähr ab diesem Zeitpunkt bekam ich auf Anfragen keine Auskunft mehr vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. Zufall oder nicht, man weiß es nicht. Das Wichtigste aber ist: Die Grabstellenbesitzer dachten keinesfalls daran, die Grabstelle mit dem Ehrengrab aufzulassen. Sie beantragten Verlängerung, und die wurde nach gerichtlicher Auseinandersetzung für weitere zwanzig Jahre gewährt.« Dass das Münchner Institut nicht mehr reagierte, verwundert nicht. Wer dessen unrühmliche, bislang weitgehend totgeschwiegene Haltung in den 1950er Jahren zu den Ursachen der Naziherrschaft kennt, von Sebastian Ullrich in seinem Buch »Der Weimar-Komplex« erstmals und glänzend dargelegt, ist wenig überrascht.
Klagen oder Schweigen
»Ich hab’ dann noch mal versucht«, erinnert sich Wieland, »sozusagen von Mensch zu Mensch was zu bewegen, indem ich dem Grabstelleninhaber Johannes Fisser eine freundliche E-Mail geschrieben habe. Mein Brief wurde auch beantwortet. Von dessen Anwalt mit Androhung einer Unterlassungsklage, sofern ich mich nochmals an ihn wende.«
Zwar ließ die Äbtissin Johanna Meyer (Abtei Frauenwörth) und vormalige Besitzerin des Friedhofsgeländes ihr Unwohlsein wegen des Ehrengrabes für einen Massenmörder erkennen, aber zu einer Unterstützung der Menschen, die eine Entfernung des Steins oder mindestens eine öffentlich sichtbare Kommentierung forderten, mochte sie sich nicht bereitfinden. Warum nicht? Darüber kann man nur spekulieren. Offenbar gibt es ohne Ansehen der Person eine Ehre für Tote schlechthin, die von Lebenden nicht in Frage gestellt werden soll. Auch Rudolf Dyroff, einst vielbeschäftigter Zwangssterilisierer zur Zeit der Naziherrschaft und akademischer Karrieregynäkologe nach 1945, darf der vergebenden Vergesslichkeit gewiss sein, Dyroff ist – anders als Jodl – auf dem Inselfriedhof leiblich bestattet.
Der neunköpfige Gemeinderat sowie einzelne Inselbewohner wollten das Nutzungsrecht der Jodl-Grabstelle für die Zeit nach Januar 2018 nicht verlängern. Aber noch lebende Grabberechtigte klagten dagegen. Wider besseres Wissen behauptete der Inselbürgermeister vor Gericht, freie Stellen seien auf dem Friedhof nicht mehr vorhanden. Eine dubiose Erklärung. Eine »Augenscheinseinnahme« der Richter führte am 26. März 2019 zu der Verpflichtung der Gemeinde, das Grabnutzungsrecht um 20 Jahre zu verlängern. Zur Wahrung der Friedhofsruhe habe sich der Kläger bereit erklärt, den »Stein des Anstoßes«, nämlich den Namenszug und die Lebensdaten Alfred Jodls, zu entfernen und somit, heißt es weiter, »alles getan, um selbst einen etwaigen Anschein einer Gedenkstätte zu beseitigen und das Grab zum Gedenken an die dort tatsächlich bestatteten Verstorbenen zu erhalten«. Geschehen ist das nicht wirklich, und das Kenotaph ragt weiter in die Höhe.
Inzwischen hat Grabstellenbesitzer Fisser eine Tafel über den Namen »Alfred Jodl« etc. montieren lassen, so dass nun die gesamte Jodl-Familie samt Verbrecher unter dem eingravierten Eisernen Kreuz geehrt wird. Dienstgrad, Lebensdaten und Vorname des Mörders sind nicht mehr zu sehen. Es fällt auf: Die Platte ist leicht wieder zu entfernen. Offenbar spielt Fisser auf Zeit und scheint zu hoffen, dass sie für seinen Großonkel arbeiten wird.
Doch zurück ins Jahr 2014. Was immer Wieland auch tat, es änderte sich nichts. Schließlich nahm sich der Münchener Künstler Wolfram Kastner zusammen mit Freunden der Vereinigung »Das andere Bayern« der Sache an. Mit seinem Anwalt Jürgen Arnold informierte er den Bürgermeister, die Äbtissin, Ministerpräsident Horst Seehofer und Landtagsabgeordnete über das Schandmal. Alle Schreiben blieben unbeantwortet oder ergebnislos. Zugleich wandten sich die beiden im Oktober 2014 mit dem offenen Brief »Kein Denkmal für einen Kriegsverbrecher« an die Öffentlichkeit. Nichts geschah. Im Juni 2015 befestigten Arnold und Kastner schließlich eine Kunststofftafel an dem Kreuz mit der Aufschrift: »Keine Ehre dem Kriegsverbrecher! Alfred Jodl wurde im Nürnberger Prozess 1946 als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet.«
Eine größere offizielle Reaktion gab es zunächst nicht, jedoch eine lokale. Kreuz und Schild wurden verhüllt von einem schwarzen Plastiksack – vom Bürgermeister. Sepp Bierbichler, Schauspieler und Autor, dazu: »Der Sack ist das Beste überhaupt. Ihr habt den Bürgermeister zum Sackhüpfen animiert. Gratuliere. Das erzähl’ ich weiter. Das Jodl-Grab schaut jetzt aus, als stünde es in Abu Ghraib oder Guantanamo. Was die einen zum Foltern verwenden, benutzen die andern zum Vertuschen. Der unaufhaltsame Aufstieg des Sacks. Bisher kam er über den Nikolaus nicht hinaus.« Die Presse – zu diesem Zeitpunkt noch die lokale, was sich bald änderte – berichtete überwiegend zustimmend und mit dem Tenor: Recht so! Das muss doch mal gesagt werden!
Text: Helmut Donat; Bilder: oben Bundesarchiv, Bild 146-1971-033-01 / CC-BY-SA 3.0, diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert; unten: Autor Zenwort, this file is licensed under the Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.
Der Artikel beruht auf den Beiträgen von Claus-Peter Lieckfeld, Jürgen Arnold und Karlheinz Hug sowie auf Dokumenten zu dem kürzlich von Helmut Donat herausgegebenen Buch »Der Fall Jodl – Kunst gegen Kriegsverbrecher«, Donat-Verlag, Bremen 2022, 80 S., 10 Euro.