„Wir sind vier der über tausend …“ (3)
Mehrere Hundert Konstanzer Opfer von Nazi-Verbrechen kommen in der NS-Dauerausstellung im Konstanzer Rosgartenmuseum nicht vor. Die vielen Frauen und Männer, die der NS-Sterilisationspolitik – die nicht nur Heinz Faulstich als den ersten planmäßigen Massenmord der Nazis betrachtet – zum Opfer fielen, werden dort genauso wenig sichtbar wie die Konstanzer Opfer der „Euthanasie“-Morde. So, als gehörten ihre Schicksale nicht zur Konstanzer Stadtgeschichte. Nun gibt es seit kurzem eine zusätzliche Schautafel – auf der allerdings die Opfer der NS-Krankenmorde unter der banalisierenden Rubrik „Repressionen im Alltag“ subsumiert werden.
Das Erbgesundheitsgericht Konstanz leitete für über tausend Frauen und Männer eine Unfruchtbarmachung ein; 508 Patientinnen und Patienten der Konstanzer Heil- und Pflegeanstalt (heute: ZfP Reichenau) wurden in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet. Wie viele dieser Menschen aus Konstanz selbst stammten, wird erst nach entsprechenden – bisher leider unterbliebenen – Forschungen der Stadt oder des Landkreises bestimmbar sein. Ohne diesen Recherchen vorgreifen zu wollen ist aber bereits eines sicher: Es sind mehrere Hundert.
Wobei das Fehlen entsprechender Forschungen nicht als Entschuldigung für die Ausklammerung dieser Opferschicksale in der neuen NS-Dauerausstellung gelten darf: Mit den vielen sorgsam recherchierten Opferbiografien der Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“, die seit 2006 Stolpersteine für T4-Opfer und zwangssterilisierte Frauen und Männer verlegt, hätten Informationen zur Genüge vorgelegen. Und auch Heinz Faulstich, von 1973 bis 1991 stellvertretender Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhaus Reichenau, hat in seinem 1993 erschienenen Werk „Von der Irrenfürsorge zur ‚Euthanasie’. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945“ genau belegt, wie übereifrig gerade Konstanzer Täter ans Werk gingen.
Täter hatten eine Handlungsoption, ihre Opfer nicht
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, erlassen im Juli 1933 unmittelbar nach der Errichtung des NS-Einparteienstaats, und in Kraft getreten zum 1. Januar 1934, war die erste präventive legislative Maßnahme des nationalsozialistischen Regimes zur Verhinderung „erbkranken Nachwuchses“. Nach den Bestimmungen des Gesetzes wurden bis zum Ende des „Dritten Reichs“ etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert: neben körperlich und psychisch beeinträchtigten Menschen auch FürsorgeempfängerInnen, Langzeitarbeitslose und „Asoziale“. Nach Meinung der nationalsozialistischen Machthaber sollten sich diese „Ballastexistenzen“ und „unnützen Esser“ wenigstens nicht fortpflanzen dürfen. ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen und LehrerInnen hatten im Fall bestimmter erblich bedingter Auffälligkeiten und Krankheitsbilder die Pflicht zur Anzeige beim Gesundheitsamt, das nach Erstellung eines Gutachtens bei einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Erbgesundheitsgericht die Sterilisation der angezeigten Person beantragte.
Dabei ging es vor allem um die Sterilisierung der „in Freiheit lebenden“ und dadurch „besonders fortpflanzungsgefährlichen Erbkranken“. So mussten etwa Leiter von Hilfsschulen zunächst alle SchulabgängerInnen, später auch alle früher entlassenen SchülerInnen dem Gesundheitsamt Konstanz melden. Die jungen Frauen und Männer wurden einzeln vorgeladen und mittels eines mehrseitigen „Intelligenzprüfungsbogens“ einer intensiven Befragung unterzogen. Viele der im Staatsarchiv Freiburg liegenden Akten des Erbgesundgerichts enthalten diese ausgefüllten Fragebögen. Darin wurde nach den Hauptstädten von Frankreich und England gefragt, nach der Bedeutung von Luther und Hus, warum es Tag und Nacht wird, wie oft eine Kuh pro Tag gemolken werden muss und auch die Staatsform wollte man wissen. Fragen, an denen heute so mancher scheitern würde.
Die Ergebnisse dieser – unter Druck vorgenommenen – Befragung eingeschüchterter Menschen flossen je nach Belieben in das amtsärztliche Gutachten ein, das die Grundlage zur Feststellung von „erblichem Schwachsinn“ liefern sollte. In einem der Gutachten ist beispielsweise zu lesen: „Als Mitarbeiter des Führers kennt sie nur noch Göring.“ Grund genug, bei so viel Unwissen auf eine vermeintliche „Erbkrankheit“ zu schließen. Der Willkür war freien Lauf gelassen.
Faulstich belegte bereits 1993, dass das Erbgesundheitsgericht Konstanz gesetzliche Vorgaben aus eigenem Antrieb übererfüllte und weit über das von den Nazi-Machthabern Geforderte hinausging. So zeigte er auf, dass in Konstanz nur zwischen zwei und vier Prozent der Sterilisationsanträge abgelehnt wurden – wohingegen der Reichsdurchschnitt der Ablehnungen bei etwa elf Prozent lag. „Kam das Konstanzer Erbgesundheitsgericht tatsächlich einmal zu einem ablehnenden Beschluß, so legte Amtsarzt Dr. Rechberg Berufung ein, ähnlich einem Staatsanwalt, der das Urteil für zu milde hält“, schreibt Faulstich. „Häufig drang er beim Obergericht damit durch.“
Faulstichs Fazit: „Wenn man berücksichtigt, daß zusätzlich [zur vorher angeführten Gesamtzahl der Sterilisationsopfer, S.B.] noch 30.000 Abtreibungen aus eugenischer Indikation durchgeführt wurden und 5–6000 Frauen und etwa 600 Männer an den Folgen des Eingriffs starben, kann man das Zwangssterilisationsprogramm ohne weiteres als den ersten planmäßigen Massenmord des Nationalsozialismus bezeichnen.“
Nur eine Schautafel
Eine der über tausend Frauen und Männer, für die das Gesundheitsamt und das Erbgesundheitsgericht Konstanz eine Unfruchtbarmachung durchsetzte, hieß Hilda Berta Schroff.
Sie wurde am 5. April 1911 in Wollmatingen geboren und katholisch getauft. Ihre Eltern waren der Landwirt Max Schroff und Emma Schroff (geborene Stadelhofer). Hilda wuchs zusammen mit fünf weiteren Geschwistern in der Radolfzeller Straße 56 auf. Sie besuchte die Volksschule in Wollmatingen und absolvierte danach eine Lehre in der Seidenweberei Schwarzenbach. Als Hausangestellte lebte sie später bei einem holländischen Ehepaar in Genf, mit dem sie auch in die Niederlande umzog, bevor sie Ende 1934 nach Konstanz zurückkehrte. Sie wohnte wieder im Elternhaus und arbeitete als Hausgehilfin in unterschiedlichen Einrichtungen, unter anderem als Küchenmädchen in der Konstanzer Heil- und Pflegeanstalt und zuletzt in der Emmishofer Straße als Hausgehilfin der „Corsa-Bar“.
Wie Hilda Schroff 1937 ins Visier der Fahnder zur „Aufartung“ des „gesunden Volkskörpers“ geriet, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Wohl aber, dass sie am 14. April 1937 von Dr. Kurt Mollweide, Facharzt für Innere Medizin, angezeigt wurde, der bei ihr „Schizophrenie“ vermutete. Ihm soll ihr „eigentümliches, unfreies und gebundenes Leben“ aufgefallen sein. Auf Basis eines von Medizinalrat Dr. Held verfassten amtsärztlichen Gutachtens („Seit Jahren gilt sie als merkwürdig, verschroben und verschlossen.“) stellte das Gesundheitsamt Konstanz am 9. September 1938 den Antrag auf Unfruchtbarmachung der damals 26-jährigen jungen Frau.
Am 3. Oktober 1938 kam es zur Verhandlung vor dem Erbgesundheitsgericht. Den Vorsitz hatte Amtsgerichtsrat Dr. Heidlauff, als Beisitzer fungierten Medizinalrat Dr. Voncken (Stockach) und Obervertrauensarzt Dr. Montfort (Überlingen). Hilda Schroff kam mit ihrem Vater. „Die beiden Erschienenen erklären übereinstimmend, sie könnten sich keinesfalls mit einer Unfruchtbarmachung einverstanden erklären, da nicht angenommen werden könne, dass die Hilda Berta Schroff an Schizophrenie leide. Insbesondere erklärte die Unfruchtbarzumachende, sie müsse zwar zugeben, dass sie schon als Kind sehr ängstlich gewesen sei und auch jetzt noch sehr häufig Angstgefühle habe. Trotzdem sei sie jedoch gut in der Lage, die ihr als Hausgehilfin obliegenden Arbeiten zur Zufriedenheit ihres Arbeitgebers auszuführen.“ Verzweifelte Einwände, die das Gericht jedoch nicht gelten ließ: „Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass etwaige Nachkommen der Hilda Berta Schroff ebenfalls an schweren geistigen oder körperlichen Erbschäden leiden werden.“ Mit dieser Standardbegründung, die sich in den meisten der Sterilisationsbeschlüsse findet, ordneten die Richter ihre Unfruchtbarmachung an.
Danach schien die Familie im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles versucht zu haben, ihre Tochter vor diesem Schicksal zu bewahren: Hildas im Staatsarchiv Freiburg verwahrte Akte dokumentiert, dass sie jede postalisch zugestellte amtliche Anordnung, sich in der Konstanzer Frauenklinik einzufinden, und auch jede Androhung von Zwangsmaßnahmen ignorierte. Bis das Gesundheitsamt den Landrat aufforderte, Hilda Schroff durch Polizeibeamte in die Klinik zu überstellen: Am 1. Februar 1939 schließlich bestätigte Dr. Kurt Welsch, der Leiter der Frauenklinik, die Unfruchtbarmachung der an vermeintlich „angeborenem Schwachsinn“ leidenden Frau. „Die Operierte wurde am 17.2.1939 als geheilt entlassen“. Die Rechnung über 68 Reichsmark ging an die Staatskasse.
Zwei Jahre später – die Konstanzer Heil- und Pflegeanstalt war nach der Deportation von 508 PatientInnen in die Gaskammern von Grafeneck und Hadamar geschlossen worden, sie beherbergte nun eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) – wurde Hilda Schroff in die Heilanstalt Emmendingen eingewiesen. Dort starb sie drei Jahre später am 30. Mai 1944 im Alter von nur 33 Jahren, laut Totenschein an Lungentuberkulose und Lungenkrebs. Ob diese Angabe stimmt, oder ob sie eines der circa 230.000 Opfer der „dezentralen Euthanasie“ ist, die durch Verweigerung medizinischer Behandlung, systematisches Verhungernlassen, durch Überdosierung von Medikamenten oder Injektionen ermordet wurden, ist heute nicht mehr feststellbar.
Dennoch weist keine Schautafel und kein Ausstellungsstück in der Konstanzer NS-Dauerausstellung auf Opfer wie Berta Schroff und auf die Konstanzer Täter hin. Ein halbes Jahr nach ihrer Eröffnung wurde die Ausstellung nun um eine zusätzliche Schautafel zu „Euthanasie“-Morden ergänzt – als lediglich einem von vielen Aspekten der „Repressionen im Alltag“. Sehr allgemein gehalten (und historisch leider auch fehlerhaft) ist dieser Schautafel nicht zu entnehmen, wie viele Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt diesen Verbrechen zum Opfer fielen.
Planmäßiger Massenmord – nicht einfach bloße „Repression“
Das vorgebrachte Argument des Platzmangels, der lediglich eine „kursorische Behandlung“ der an Konstanzerinnen und Konstanzern verübten Krankenmorde und Zwangssterilisationen zulasse, verfängt nicht, wenn die Ausstellungsfläche neben der bereits im letzten Artikel angeführten Vitrine mit einer Perücke aus der Inszenierung von Schillers „Kabale und Liebe“ aus dem Jahr 1948 (!) unter anderem sogar hinreichend Raum bietet für mehrere Schautafeln, die uns darüber aufklären, welche Prominenten aus Berlin in der Nachkriegszeit an den Bodensee kamen: René Deltgen, Gustav Knuth, Lola Müthel, Johannes Riemann und Elisabeth Flickenschild scheinen für „Konstanz im Nationalsozialismus 1933–1945“ relevanter zu sein als Berta Amann, Emma Wippler, Hilda Schroff und all die anderen Frauen und Männer dieser großen Konstanzer Opfergruppe.
Wo Schicksale wie jenes von Hilda Schroff als „Repressionen im Alltag“ banalisiert werden, erscheint eine „strukturbedingte“ Lückenhaftigkeit wenig glaubhaft.
In unserer Stadt darf kein Platz sein für die Marginalisierung nationalsozialistischen Unrechts.
Sabine Bade für den Arbeitskreis NS-Eugenik Konstanz
(Fotos: Privatarchive Banholzer, Didra, Frey und Schroff)
Die Serie wird fortgesetzt. Demnächst folgen Informationen darüber, wie sich andernorts, etwa am nördlichen Bodensee-Ufer, Landräte und Bürgermeister aktiv für die Aufarbeitung dieses Kapitels der NS-Verbrechen einsetzen – während die Universitätsstadt Konstanz einen vollkommen anderen Weg geht.
Wie immer wieder herausragend recherchiert, und auf den Punkt gebracht .Die Beiträge von Sabine Bade sind für mich ein Highlight der Seemoz Lektüre. Umso schändlicher die Ignoranz der Organisator:Innen der im Artikel benannten Austellung,,Opfergruppen und Aspekte der NS Verbrechen mit fadenscheinigen Begründungen nicht konkret zu benennen und somit wichtige Aspekte des NS Terrors zu unterschlagen.