Kretschmann hat das Ziel verfehlt
Flaues Bedauern über den Radikalenerlass und ausführliches Gejammer über seine eigene rote Vergangenheit. Ministerpräsident Kretschmann nimmt nach langem Zögern Stellung zu einer Studie Stellung. Darin aber enttäuscht er einmal mehr die vom Berufsverbot Betroffenen und die aufmerksame und informierte Öffentlichkeit.
Es ist mal wieder typisch Kretschmann. In einem Offenen Brief „an die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ (lediglich veröffentlicht auf den Internetseiten des Staatsministeriums) nimmt er zum Thema Berufsverbote Stellung. Im Wesentlichen referiert er eine in der Universität Heidelberg entstandene Studie zum Thema „Verfassungsfeinde im Land? Der ‚Radikalenerlass‘ von 1972 in der Geschichte Baden- Württembergs und der Bundesrepublik“. (Hg.: Edgar Wolfrum, Göttingen: Wallstein, 2022, ISBN 978-3-8353-5160-8).
Berufsverbote waren Unrecht
Diese Studie kommt zu dem Schluss, dass generell Unrecht geschehen ist und bestätigt damit die umfangreichen Untersuchungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1986. Kretschmann macht sich diese Bewertung nicht zu eigen.
Das Bedauern von Kretschmann beschränkt sich auf ein Zitat von Helmut Schmidt, dass mit dem „Radikalenerlass“ mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden sei. Er vermeidet bewusst jeglichen Hinweis darauf, dass es die beiden Ex-Nazis Innenminister Schiess und Ministerpräsident Filbinger waren, die mit riesigem Aufwand Jagd auf „Verfassungsfeinde“ machten. Nach dem erzwungenen Rücktritt des Ex-Marinerichters Filbinger machten CDU geführte Landesregierungen weiter Jagd auf linke Demokraten und zwar bis 1991. Auch ein weiterer Hintergrund, den der Leiter des Forschungsprojekts Edgar Wolfrum in einem Spiegelinterview benennt, blendet Kretschmann aus. „Der Radikalenerlass wurde in der Zeit der linkesten Regierung seit Bestehen der Bundesrepublik gefasst. Die konservativen Länder mit Bayern und Baden- Württemberg an der Spitze entfachten einen regelrechten Kulturkampf, für sie war der Radikalenerlass ein Geschenk des Himmels“, sagte der Heidelberger Professor. „Auf diese Weise konnten sie die linksliberale Bundesregierung wegen ihres ›Schmusekurses gegenüber der Sowjetunion‹ ständig als ›Kommunistenfreunde‹ angreifen. “ (Spiegel Online vom 19.1.2023).
Zum größten Teil geht der Offene Brief nicht weiter als die genannte Studie. Im Gegenteil Kretschmann fällt über weite Strecken hinter deren Erkenntnisse zurück. Es war nichts anderes zu erwarten. Er verweigert klare Worte, wie sie die frühere Wissenschaftsministerin Theresa Bauer im Geleitwort der oben genannten Studie findet: Es ist Aufgabe und Pflicht jeder Regierung, ihr eigenes und früheres Regierungshandeln aufzuarbeiten und immer wieder kritisch zu reflektieren, nicht zuletzt, um mit jüngeren Generationen historische und gegenwärtige Diskussionen zu führen und demokratische Institutionen und demokratisches Denken zu stärken. (…) Baden-Württemberg machte sich in-dieser Zeit einen Namen als »schwarze Berufsverbotsprovinz“.
Kretschmann verteidigt die Schnüffelpraxis
Interessant ist der Offene Brief von Kretschmann an den Stellen, an denen er seinen eigenen Senf dazu gibt. „Bei der Umsetzung des Radikalenerlasses ist dieses Augenmaß verloren gegangen. Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt, das war falsch. Einzelne mögen dann zu Recht sanktioniert worden sein, manche aber eben auch nicht. Sie haben zu Unrecht durch Gesinnungs-Anhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt. Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.“
Dann stellt er die unhaltbare Behauptung auf: „Anschuldigungen“ sei damals „nachgegangen“ worden, „wo wirklich belastbare Erkenntnisse über gravierende verfassungsfeindliche Aktivitäten vorlagen. Denn Verfassungsfeinde haben im öffentlichen Dienst – und vor allem auch in seinen erzieherischen und sicherheitsrelevanten Bereichen nichts verloren.“
„Mit dieser Formulierung“, so die „Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote Baden-Württemberg“, „wird der Anschein erweckt, es hätte bei vom damaligen Radikalenerlass-Betroffenen in diesen Bereichen unprofessionelles oder außerdienstliches Fehlverhalten vorgelegen, einen solchen Fall hat es aber nicht gegeben. Eine solche Spaltung der Betroffenen in „Gute“ und „Böse“ können wir nicht akzeptieren.“
Vor diesem Hintergrund ist das „Bedauern“ nun wirklich keine Entschuldigung (denn darum muss man bitten) und von Rehabilitation oder Entschädigung ist erst recht keine Rede.
Von seiner ursprünglichen Idee einer erneuten Einzelfallprüfung ist man offensichtlich abgekommen. Laut Staatsministerium sind die Akten nicht mehr vorhanden (taz ). Die Verfassungsschutzakten und Urteile sind natürlich noch vorhanden, aber auf Basis der damaligen Schnüffeleien die ganze Prozedur nochmal durchzugehen ist ja politischer und juristischer Unsinn.
Großes Gejammer wegen „Tunnelblick“
Das wirklich interessante seines Offenen Briefs liegt darin, wie Kretschmann mit seiner politischen Vergangenheit umgeht. Erklärte er seine Mitgliedschaft bei den Maoisten bei einem Fernsehinterview im vergangenen Jahr noch mit „christlich imprägnierten Impulsen“ so übt er in bester Tradition linker Sekten jetzt eine heftige Selbstkritik:
„Auch für mich persönlich sind die Ergebnisse dieser Forschungen sehr aufschlussreich. Und das auch aus einem persönlichen Grund – weil mir hier die größte Verirrung meines eigenen Lebens gespiegelt wird, nämlich der Linksradikalismus meiner Studienzeit. Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbildung hatte wie ich, einen solchen «Tunnelblick“ entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann. Dass der demokratische Staat sich dann auch zur Wehr setzt und Zweifeln an der Verfassungstreue nachgeht, erscheint mir aus heutiger Sicht nur logisch und konsequent.“
„Diese Art der Selbstgeißelung, durch die sich der Geläuterte ermächtigt fühlt, die Verfolgung der Unverbesserlichen umso mehr zu feiern, entbehrt nicht einer gewissen Komik – vor allem, wenn man weiß, dass gerade Maoisten für solche Rituale berüchtigt waren und der KBW sich dem Maoismus verbunden fühlte. Kretschmann scheint hier nur die Inhalte im Sinne des bürgerlichen Staats ausgetauscht zu haben.“ (Claudia Wangerin, www.telepolis.de, 20.1.2023)
Der damalige Rektor der Uni Hohenheim George Turner jedenfalls – so Kretschmann – „hat die Großmäuligkeit hinter dem revolutionären Gehabe von damals gut durchschaut und nicht so ernst genommen“ und deshalb seine Beziehungen spielen lassen, Kretschmann rasch in den Schuldienst zu bringen.
Auch heute gilt, dass man das Bedauern von Kretschmann nicht ernst nehmen kann. Er setzt offensichtlich auf eine biologische Lösung, denn von den heute zwischen 70 und über 80jährigen Betroffenen sind nicht wenige bereits verstorben.
Resonanz ist katastrophal
Die öffentliche und veröffentlichte Resonanz auf den Brief ist für Kretschmann katastrophal. Der DGB Baden-Württemberg erklärte: „Der Brief des Ministerpräsidenten ist ein positives Signal – inhaltlich ist er jedoch mehr als enttäuschend. Er enthält gerade mal ein flaues Bedauern über das zigfach von baden-württembergischen Behörden begangene Unrecht. Zu einer Rehabilitation der Betroffenen ist der Ministerpräsident offenkundig nicht bereit. Das ist angesichts der eindeutigen Faktenlage ein Armutszeugnis.“
Martin Gross, Landesbezirksleiter ver.di Baden-Württemberg sagt u.a. „Es ist aber schade, dass Kretschmann weiterhin nicht auf Zuschreibungen wie Verblendung, Verirrung oder Demokratiefeinde verzichten kann. So wird ein falscher Generalverdacht letztlich fortgeführt. Viele waren einfach nur zur falschen Zeit Mitglied in der falschen Partei oder Organisation. Verirrt und verblendet war schon eher eine Politik, bei der ein Politiker wie Hans Filbinger mit nationalsozialistischer Vergangenheit zwar Landesvater werden konnte, ein DKP-Mitglied wie Werner Siebler aber nicht Briefträger.“
Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagt: „Der Brief ist ein schlechtes Beispiel für den Gemeinschaftskundeunterricht an unseren Schulen. Es zeichnet funktionierende Demokratien aus, wenn sie nicht nur Fehler der Vergangenheit eingestehen, sondern diese auch ernsthaft korrigieren.“
Und im Mannheimer Morgen (hier nur ein Beispiel einer kritischen Pressestimme) kommentiert Walter Serif „Ob sich die Betroffenen mit den Ausführungen in Kretschmanns Brief zufrieden geben, wird der Ministerpräsident am 8. Februar erfahren -. dann lädt er die Initiativgruppe,40 Jahre Radikalenerlass“ in die Staatskanzlei ein. Das ist eine schöne Geste, aber schon der Name der Initiative zeigt, wie viel Zeit die Politik verplempert hat, um sich mit jenem düsteren Kapitel zu befassen. Dass Kretschmann zwar angemessene Worte gefunden hat, aber leider eine Entschädigung ablehnt, liegt weniger daran, dass er Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU nehmen will. Der Ministerpräsident fühlt sich in der Sache wohl befangen. Er war damals als Maoist selbst ein Opfer des Radikalenerlasses, hatte aber das Glück, dass ihm der staatliche Schuldienst nur für kurze Zeit verwehrt blieb. Vielleicht traut sich Winfried Kretschmann aus diesen persönlichen Gründen. nicht ohne Wenn und Aber zu. sagen: Der-Staat hätte den Radikalenerlass nie anwenden dürfen. Dadurch hat er bei vielen Menschen Vertrauen verspielt und den Opfern persönliches Leid zugefügt. Auch die „wehrhafte Demokratie“ rechtfertigt keinen Überwachungsstaat.“
Und an anderer Stelle heisst es bei Serif: „Vielleicht würde sein Urteil anders ausfallen, wenn ihm der Schuldienst damals länger verwehrt geblieben wäre. Vielleicht wäre aus ihm ein verbitterter Mann geworden.“
Die vom Berufsverbot Betroffenen beraten nun, wie sie sich bei dem Gespräch mit Kretschmann am 8. Februar verhalten sollen. Von ihren Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigung werden sie nicht abrücken.
Alle verwendeten Quellen und weitere Stellungnahmen und Pressestimmen unter: www.berufsverbote.de
Siehe auch mein Beitrag vom Januar 2022:
Radikalenerlass: Ein schändlicher Jahrestag
Jochen Kelter:
Die alten Nazis lassen grüssen
Brief von Jochen Kelter an das Staatsministerium:
Jochen Kelter wartet seit Monaten auf Antwort
Ein ausführlicher Beitrag der Stuttgarter Zeitung aus dem Jahr 2014 vergleicht das Berufsverbot von Jochen Kelter mit dem sehr glimpflich ausgegangenen Fall Kretschmann:
Kretschmann und der Radikalenerlass
Text: Thomas Willauer
Symbolbild: Pixabay