Der Klimablog (114): „Die Regierung entmachtet sich gerade selber“

Vorletzte Woche gingen Behörden in gleich sieben Bundesländern gegen Mitglieder der Gruppe Letzte Generation vor – sie sollen eine „kriminelle Vereinigung“ gebildet haben. Stoppt dieses staatliche Vorgehen nun die Aktivist:innen? Wie gehen sie damit um? Und wie sehen sie den Staat? Das erläutert die Konstanzer Klimaschützerin Eileen Blum im zweiteiligen seemoz-Interview.

Dies ist Teil 1 des Gesprächs, Teil 2 finden Sie hier.

seemoz: Bundeskanzler Olaf Scholz hält euch für „bekloppt“, Innenministerin Nancy Faeser, ebenfalls SPD, will nicht, dass ihr „dem Rechtsstaat auf der Nase herumtanzt“, Staatsanwaltschaften ermitteln wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung, CDU, CSU, FDP wollen wir hier gar nicht erst zitieren – und die Grünen schweigen. Macht euch das Angst?

Eileen Blum: Die Situation ist so absurd, dass man lachen könnte, wenn sie nicht so ernst wäre. Auf der persönlichen Ebene gibt es schon ein paar Sorgen, weil man sich ja fragt, was auf einen persönlich noch zukommen kann. Aber direkt Angst haben wir nicht, weil wir vor unseren Aktionen wissen, was kommen kann. Wir bereiten uns gründlich vor, beraten uns gegenseitig, wissen, was zu tun ist, wenn es eine Hausdurchsuchung gibt – und was die Polizei darf und was nicht.

seemoz: Aber jetzt eskalieren Justiz und Politik.

Blum: Das kommt einerseits nicht ganz überraschend. Wir werden als völlig bekloppt und rechtsstaatsfeindlich dargestellt – dabei wären wir, wie kürzlich jemand sagte, die erste kriminelle Vereinigung in der Geschichte, die dafür sorgt, dass sich der Rechtsstaat an die eigenen Gesetze hält. Wir wissen ja, dass durch den Klimawandel viele Menschen hier, aber auch in anderen Regionen sterben werden. Dass Menschenrechte in großem Maßstab verletzt werden. Dass wenn wir die Klima-Kipppunkte reißen, eine einigermaßen gut funktionierende Zivilisation und damit ein Rechtsstaat nicht mehr erhalten werden können. Zu sagen, wir seien gegen den Rechtsstaat, obwohl wir nur fordern, dass der Staat endlich das konsequent umsetzt, wozu er sich schon vor längerem verpflichtete – das ist wirklich bekloppt.

seemoz: Ihr sagt, ihr bekennt euch zum Rechtsstaat. Aber ist bei einem Staat, der so agiert, nicht ohnehin alles verloren?

Blum: Bei der aktuellen Debattenkultur geht es weniger um Fakten oder das große Ganze – man ist mehr damit beschäftigt, aufeinander einzuhauen. Dass man nicht lösungsorientiert miteinander redet, macht mir schon Sorgen. Aber das führt nicht so weit, dass wir nicht mehr an den Rechtsstaat glauben. Als Bewegung ist uns das sehr wichtig.

seemoz: Warum reagiert dann der Staat mit Razzien, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Sperrung der Website und von Konten?

Blum: Das frage ich mich auch. Vielleicht weil die Politik in einem Dilemma steckt. Wenn sie tut, was wir fordern, schreit die Qualitätspresse wie Bild: Der Staat lässt sich erpressen! Da ist es einfacher, gegen uns vorzugehen. Dabei müssten sich die Politiker um die Zukunft und die Bürger kümmern, und nicht um ihre Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl. Sie gehen nicht auf unsere Forderungen ein, weil das ihr Ego ankratzt. Und weil sie, wenn sie jetzt handeln würden, indirekt zugäben, dass ihr Nichthandeln vorher falsch war.

seemoz: Schätzt ihr die Rolle des Staats richtig ein? Es gibt ja auch andere Staatstheorien …

Blum: … welche?

seemoz: … zum Beispiel aus dem marxistischen Umfeld. Die besagen, dass die Hauptaufgabe des Staats darin besteht, die Interessen der Mächtigen zu wahren und die Besitztümer der herrschenden Klasse zu schützen. So gesehen handelt dieser Staat jetzt auftragsgemäß.

Blum: Insofern ja. Daher kommt unsere Forderung nach einem Gesellschaftsrat. Wir wollen damit eine neue Instanz schaffen, die nicht irgendwelchen Lobbys nachgibt, die politische Entscheidungen beeinflussen können. Die meisten Politiker haben zudem eher einen akademischen Hintergrund, viele sind Juristen oder ehemalige Politikstudenten – ist das noch repräsentativ? Mit dem Gesellschaftsrat gäbe es die Möglichkeit, dass unterschiedliche Menschen demokratischer zusammenkommen.

seemoz: Die Bildung eines Gesellschaftsrats ist eine von euren Forderungen?

Blum: Das ist aktuell unsere Hauptforderung.

seemoz: Wie soll das funktionieren?

Blum: Ähnliches ist in anderen Zusammenhängen bereits ausprobiert worden. Dabei gab es die Erkenntnis, dass Beschlüsse dieser Gesellschaftsräte bei der Bevölkerung oft eine größere Akzeptanz haben als die Entscheidungen von Politikern zum selben Thema. Und dass sie meistens ein bisschen fortschrittlicher und mutiger waren als das, was die Politiker meinen, dem Volk zutrauen zu können. Man müsste schauen, wie Deutschland demographisch aufgebaut ist: wie viele Junge, wie viele mit Migrationshintergrund, wie viele mit Ausbildung oder Studium – und innerhalb solcher Kategorien werden Leute ausgewählt, die sich zusammensetzen, sich mit Experten beraten und Maßnahmen für ein Ende der fossilen Energien bis 2030 vorlegen.

seemoz: Damit das funktioniert, müsste der Gesellschaftsrat die Macht übernehmen, also größeren Einfluss haben als das Bundeskanzleramt, das Bundesverkehrsministerium …

Blum: Genau. Die Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag die Einsetzung von Bürgerräten vereinbart – wenn auch nicht genau zu der Fragestellung. Zudem sind sie sich einig, dass mehr Klimaschutz gemacht werden muss …

seemoz: Ihr wollt eine Powerinstanz, die die Regierung endlich zum Handeln zwingt?

Blum: Ja, so in etwa – mit einem demokratischen Ansatz und aus der Gesellschaft heraus. Es gab ja schon mal einen Klimarat mit guten Vorschlägen, aber die sind in der Schublade verschwunden.

seemoz: Das könnte wieder passieren.

Blum: Richtig. Deswegen wollen wir, dass die Regierung diesen Rat einberuft – und dass sie zusagt, dessen Vorschläge umzusetzen.

seemoz: Ihr wollt im Bereich Klimaschutz die Entmachtung der Regierung.

Blum: Das könnte man so formulieren (lacht). Aber nicht ganz. Denn die Regierung würde ja die Fragestellung vorgeben. Andererseits: Wenn man sich die ständigen Auseinandersetzungen und Querschüsse der FDP in der Ampelkoalition vor Augen führt, entmachtet die sich gerade selber.

seemoz: Die Regierungsparteien haben mithin die Wahl, eurer Forderung nachzugeben. Oder weitere Eskalation und damit Einschränkungen des Rechts auf zivilen Ungehorsam.

Blum: Entweder gehen sie auf uns zu und setzen sich konstruktiv mit uns auseinander. Oder sie bleiben bei ihrer Haltung: „Weil ihr eure sinnvollen Maßnahmen so fordert, wie ihr das tut, werden wir sie nicht umsetzen!“ Wenn sie einen anderen Vorschlag als den Gesellschaftsrat haben und die Wissenschaft das für einen guten Weg hält, um den Klimawandel zu managen – okay, dann werden wir von der Straße gehen. Den Parteien ist natürlich freigestellt, mehr zu tun.

Eileen Blum ist ausgebildete Krankenpflegerin und arbeitet im Konstanzer Klinikum. Als aktives Mitglied der Organisation Letzte Generation war die 22-Jährige (aufgewachsen in Allensbach) vor kurzem in Berlin (wo sie sich an einer Straßenblockade des Gesundheitspersonals beteiligte). Sie hält Vorträge über Klimaentwicklung und Widerstand, leitet Aktionstrainings und ist Sprecherin der Konstanzer Gruppe von Letzte Generation. Und einen Tipp hat sie auch: Für eine Straßenaktion, sagt sie, reiche der ganz normale Sekundenkleber.

Im zweiten Teil des Gesprächs erläutert Eileen Blum unter anderem, warum die Letzte Generation zu Straßenblockaden greift und andere Protestformen eher skeptisch sieht.

Interview: Pit Wuhrer, Vjollca Veliqi / Fotos vom Protest am 27. Mai 2023 gegen die Kriminalisierung: Pit Wuhrer, andere Bilder: letztegeneration.de

Veranstaltungshinweis: Letzte Generation Konstanz lädt ein zu einem Vortrag über Klimakrise, Protestforschung und die Letzte Generation. Treffpunkt: Donnerstag, 8. Juni, 18 Uhr, am Kaiserbrunnen auf der Marktstätte, Konstanz. Anschließend gibt es auch Raum für Fragen und Diskussion.
Der Vortrag findet draußen statt, wetterangepasste Kleidung ist von Vorteil.