„S 21 – ein politischer Skandal“
Alles erstunken und erlogen, sagt Edzard Reuter mit Blick auf die Zahlen rund um Stuttgart 21 – und alle wußten es! Umso mehr unterstützt der ehemalige Daimler-Chef den Bildhauer Peter Lenk und sein S-21-Denkmal. Ein Gespräch über politischen Betrug, Satire und Martin Walser.
Herr Reuter, Ihre SPD lobt den unterirdischen Bahnhof, die Wirtschaft begrüßt den Fortschritt und Sie, als SPD-Mitglied und ehemaliger Daimler-Chef, harren aus auf einsamem Posten mit Ihrer Kritik an Stuttgart 21. Mögen Sie das Motto viel Feind, viel Ehr?
Ach was. Anfangs gefiel mir sogar die Idee recht gut, die riesengroße Gleisfläche für die Stadt zu nutzen. Bis die Diskussion losging, die schließlich 2011 zur Volksabstimmung geführt hat. Da habe ich mich schon sehr gewundert, woher die merkwürdigen Zahlen plötzlich kamen, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie realistisch sein könnten. Es wurde behauptet, zum Schluss koste es 2,5 Milliarden Euro, das könnten wir uns leisten bei einer Bautätigkeit von zehn Jahren. Ich habe das nicht geglaubt. Ich habe damals mit vielen Verantwortlichem in meiner Partei darüber geredet und war bass erstaunt, zu hören: Das ist doch völlig egal, das machen wir so, das ist eine tolle verkehrspolitische Entwicklung, die schnelle Verbindung von Paris nach Bratislava …
… die berühmte europäische Magistrale, die der ehemalige CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger auch immer beschworen hat …
… und das ist technischer Fortschritt. Davon waren auch die meisten in der SPD fest überzeugt. Für mich hat das Ganze in einem politischen Skandal geendet, den ich für einen der schlimmsten Fehltritte halte, die hier in Deutschland gemacht wurden. Weil hier die Entscheidungshoheit des Parlaments und der Regierung verlagert wurde in eine direkte Befragung des Volkes – und diese Volksabstimmung herbeigeführt wurde mit erfundenen und erlogenen Zahlen.
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Damals lagen die Baukosten merkwürdigerweise noch bei 4,5 Milliarden.
Das war damals schon erstunken und erlogen. Alle Beteiligten wussten es. Diese Volksabstimmung war ein Betrug und ein Verbrechen am demokratischen System. Und deswegen werde ich nicht aufhören zu sagen, dass die Schuldigen, die das damals verantwortet haben, eigentlich zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Das klingt nicht so, als hätten Sie Gottes Segen, den Parteifreund und SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel über Stuttgart 21 gesehen hat, jemals entdeckt?
Nein, den gibt es auch nicht. Ich kann nicht verstehen, dass Personen wie Claus Schmiedel oder Wolfgang Drexler das bis heute nicht verstehen wollen. Die Geschichte von S 21 ist die Geschichte eines politischen Betrugs.
Jetzt werden wegen Corona Rettungsschirme aufgespannt, neben denen die inzwischen zehn Milliarden für den Stuttgarter Bahnhof wie Peanuts wirken.
Mag sein, dass sich die Beträge, die heute im Kontext mit Corona debattiert werden, ebenfalls als falsch herausstellen. Sie werden jedoch heute nicht bewusst verwendet, um falsche Beschlüsse herbeizuführen. Das ist ein kardinaler Unterschied.
Wenn man die Leute an der Spitze anschaut, Dürr, Mehdorn, Grube, dann waren das entweder Daimler-Manager oder Geschäftspartner. Hätte man da nicht erwarten können, dass die ihr Geschäft beherrschen?
(lacht) Alle diese beteiligten Herren haben versucht, die Bahn als wichtiges Projekt voranzubringen. Das heißt aber nicht, dass ich die Fähigkeiten und die Qualifikation dieser Herren gleichermaßen schätze.
Kennen Sie das Bonmot, dass die Daimler-Leute geholt wurden, um die Bahn an die Wand zu fahren und als Konkurrenz zum Auto klein zu halten?
Das ist ja wohl ein Witz. Alles ging mit Helmut Kohl los, der meinen geschätzten Kollegen Heinz Dürr zur Bahn geholt hat. Das war doch kein Versuch, auf diesem Weg die Zukunft der Automobilindustrie zu sichern. Damals ging es darum, die Bahn so schnell wie möglich zu privatisieren. Das war der eigentliche Grund, und nicht die Förderung der Automobilindustrie. Wenigstens Letzteres konnte verhindert werden. Auch dank Peter Conradi.
Kommen wir zur Kunst, Herr Reuter, und damit zu Peter Lenk. Wir wissen, dass Sie ihn schätzen.
Peter Lenk ist ein uralter guter Bekannter, um nicht zu sagen Freund. Entstanden ist diese Freundschaft aus satirischem Anlass. Mein ehemaliger Vorstandskollege Werner Niefer kam in mein Büro und schimpfte: „Dieser Skandal, diese Frechheit, der Lenk zieht mich mit seiner neuen Plastik in Konstanz durch den Kakao“. Darauf habe ich mir den Lenkschen Brunnen auf der „Laube“ angesehen und gelacht, genau wie vorher schon über den Mercedesstern, den mir der Kerl als Heiligenschein auf den Kopf gesetzt hatte. Daraufhin bin ich mit Niefer an den Bodensee zu Lenk gefahren, der uns von seiner Arbeit erzählt hat. Auf der Heimfahrt haben wir beide gesagt: „Donnerwetter, hinter diesem Witzbold steckt ja ein ganz ernsthafter Mensch“. Das ist das Faszinierende an Lenk, und genau das setzt er in seinen Arbeiten um. Er macht den Menschen, die das Sagen haben, klar: Nehmt euch bloß nicht allzu ernst. Das ist eine zutiefst demokratische Aufforderung und das ist, zusammen mit seinem künstlerischen Potential, das zweifellos erheblich ist, beeindruckend.
Nicht jedem gefällt es, wenn er von Lenk öffentlich aufs Korn genommen wird. Manche versuchen auch, das zu verhindern wie Martin Walser.
Wenn von oben versucht wird, Kritik und Satire totzuschweigen, dann schadet das der Allgemeinheit. Das weiß auch Peter Lenk, deshalb ist er so beharrlich. Der ist stur wie ein Panzer, aber er lacht gleichzeitig.
Haben Sie in diesem Kosmos der heruntergelassenen Hosen und verspotteten Mächtigen eine Lieblingsfigur?
Eine der wunderbarsten Plastiken ist für mich der bereits erwähnte Martin Walser in Überlingen, wie er da auf dem alten Zossen draufhockt, mit Schlittschuhen an den Füßen. Ein Großschriftsteller, der sich in seiner Bedeutung für die deutsche Literatur wohl für eine Wiedergeburt von Goethe hält. Von Lenk dargestellt als einer, der aufpassen sollte, dass er sich nicht auf zu dünnes Eis begibt mit seinen Schlittschuhen, und dann blubblubbblub wegsackt.
Die Imperia wurde zum Wahrzeichen von Konstanz. Wird das der schwäbische S-21-Laokoon in Stuttgart auch schaffen?
Das müssen wir abwarten. Es könnte eine beispielhafte Darstellung werden. Aber dazu braucht es auf der Seite der Verantwortlichen solche Fähigkeiten wie Selbstkritik und Humor und die Erkenntnis, welche Fehler man machen kann, wenn man Verantwortung trägt. Ich hoffe, die Plastik wird in Stuttgart aufgestellt. Aber seien Sie mir nicht böse: Meine Skepsis, die Fähigkeit der Verantwortlichen zur Selbstkritik betreffend, ist groß. Ob das beispielsweise bei Herrn Mappus der Fall ist, wage ich zu bezweifeln.
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Wie wäre es, wenn man oben auf dem Bahnhofsturm den Stern abmontieren und das S-21-Denkmal drauf setzen würde? Dann könnte sich in der Landeshauptstadt wie in Konstanz ein flottes Kunstwerk von Peter Lenk drehen.
Das würde aber nicht funktionieren. Denn von so weit unten sieht man die wunderbare Satire in dieser Plastik gar nicht. Der beste Platz wäre doch gegenüber dem Bahnhof auf der Schillerstraße. Und im Übrigen, ich finde schon, der Stern hat eine besondere Bedeutung für Stuttgart, und das ist auch gut so.
Interview: Susanne Stiefel (Bild: Joachim E. Röttgers)
Zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung