Mörder ehren – Der Fall Jodl (2)

Es wirkt wie eine Provinzposse – und ist doch viel mehr. Der Stein des Anstoßes steht auf dem Friedhof der idyllischen Fraueninsel im Chiemsee: Ein Ehrenmal für »Alfred Jodl, Generaloberst«, dessen Familie ein Anwesen in Gstad am Chiemsee gehört hat. Jodl war in seiner führenden militärischen Position für viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich.

Teil 2/2

Die offiziell Angesprochenen, Zuständigen und Involvierten aber hielten sich erneut bedeckt. Sodann entfernten Kastner und Michael Heiniger, Karikaturist und Künstler, im Rahmen einer angekündigten Aktion das bleierne »J« von der Jodl-Grabplatte. Übrigblieb ODL – das bayerische Wort für braune, stinkende Jauche. Das »J« schickten die Täter zur Aufbewahrung an das Deutsche Historische Museum in Berlin. Selbst die Bayerische Staatszeitung berichtete amüsiert bis zugeneigt.

Kampf ums »J«

Doch die Jodl-Gralshüter ruhten nicht, ließen das »J« neu herstellen und wieder einsetzen. Kastner und Freunde entschlossen sich zu einer weiteren »ästhetischen Intervention«. Am 20. Juli 2016 gossen sie eine Blutspur über Namen und Dienstgrad Jodls und befestigten erneut eine Informationstafel an dem steinernen Ehrenkreuz.

Eine von den Jodl-Erben beauftragte Firma, die darob zu einem Geschichtsbereinigungsunternehmen avancierte, entfernte die Farbe und den Text. Am 2. September 2016 erneuerte Kastner die symbolische Blutspur des Massenmörders, übergoss den unteren Bereich großflächig mit roter Farbe und setzte mit einem dokumentenechten Filzschreiber das Wort »Massenmörder« hinzu. Ein empörter älterer Beobachter verständigte die Polizei, die von Prien aus sogleich mit ihrem Boot den »Tatort« aufsuchte, Kastners Personalien aufnahm und eine Anzeige in Aussicht stellte. Tage danach versuchte eine Art »Kommando« der NPD, die Farbe zu beseitigen, was aber dazu führte, dass diese tief in die Poren des Steins eindrang. Die »Schmierfinken« demonstrierten und posierten samt ihrer Fahne für den Kriegsverbrecher. Doch trotz reger Publikumspräsenz hielt niemand es für nötig, die Polizei zu informieren bzw. herbeizurufen. Ein bayern- und deutschlandweites Echo auf die Aktionen schloss sich an.

Grabeshüter Johannes Fisser sah offenbar die Ehre seines Großenkels Jodl beschmutzt und griff, anstatt das 1953 rechtswidrig errichtete Schandmal zu entfernen, auf die Mittel der Strafanzeigen und Zivilklagen zurück. Fortan wurde Kastner juristisch wegen diverser Delikte, darunter auch »Diebstahl« (wegen des dem Berliner Museum überlassenen »J«) sowie wegen Sachbeschädigung und Nötigung verfolgt. Am 29. März 2018 verurteilte ihn Richter Martin Engl vom Münchner Amtsgericht zur Zahlung von rund 12.000 Euro und befand ihn in allen Punkten für schuldig. Seine Begründung: »Das Eigentum an dem streitgegenständlichen Kreuz und die physische Integrität des Kreuzes werden durch die Rechtsordnung geschützt. Soweit der Beklagte der Auffassung ist, dass ein entsprechender Schutz nicht bestehe, da das Kreuz eine Volksverhetzung im Sinne des Paragraphen 130, Abs. 4 StGB darstelle, ist dem nicht zuzustimmen. Eine Straftat im Sinne des Paragraphen 130 StGB ist für das Gericht im Zusammenhang mit dem Kreuz nicht ersichtlich.« Ferner: »Die Eigentumsverletzung war unter Berücksichtigung der Meinungs- und Kunstfreiheit im Sinne des Art. 5 GG nicht gerechtfertigt« etc. Letztere gelten also weniger als das Eigentum, was in einer profitorientierten Gesellschaft nichts Besonderes ist. Gleichwohl fragt man sich: Wenn das höherrangige Gut das Eigentum ist, wie verhält es sich dann mit Artikel 14 GG (»Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«)? Wie und warum dient der Besitz eines Ehrenkreuzes für einen Massenmörder dem Wohle der Allgemeinheit? Besteht die Allgemeinheit aus Faschisten? Betrachtet die Justiz die FDGO etwa als so freiheitlich, dass sie es für unabdingbar hält, die Traditionspflege der extremen Rechten in diesem Lande als gleichberechtigt zu jener in einem republikanischen Sinne, für die Kastner eintritt, zu schützen? Und dafür soll der bestraft werden oder in den Knast gehen?

Die von Kastner anstrengte Revision wies Andreas Pollinger, Vorsitzender Richter des Landgerichts München, am 4. Dezember 2018 mit einer Begründung ab, die das Zeug hat, in die Annalen der Rechtsprechung einzugehen: Freie Meinungsäußerung sei zu schützen nicht notwendig, wenn ihr Träger etwa ein Kunstwerk ist, das ja per se nicht in der Lage sei zu sprechen. Auf dieser Grundlage gelangte die Kammer zu der Entscheidung, dass das Recht des Beklagten auf Kunstfreiheit hinter das Recht des Klägers – des Großneffen Jodls – auf Schutz seines Eigentums zurückfällt: »Das Eigentumsrecht des Klägers (an seiner Grabstelle inklusiv Ehrengrab) ist nicht – wie der Beklagte (Kastner) meint – im Rahmen der Abwägung gering bzw. als ›nicht schützenswert‹ zu bewerten, weil durch das Steinkreuz und die Gestaltung Alfred Jodl geehrt wird.«

In seinem Berufungsverfahren geriet Kastner an Andrea Titz als Vorsitzende, Leiterin des bayerischen Richterbundes, die sich insbesondere für die Vorratsdatenspeicherung engagiert. Offenbar hielt auch sie es für selbstverständlich, dass nicht das Ehrenmal für einen Verbrecher zu verurteilen ist, sondern der Künstler, der die Öffentlichkeit auf den Missstand einer maßlos-schwulstigen Ehrenbezeugung aufmerksam macht. Wie begründet Titz ihre Entscheidung, einer »Untat der Gerechtigkeit« das Wort zu reden? Sie beruft sich nicht zuletzt aus Kastners Beweggründe und erklärt zu seiner Behandlung des Steinkreuzes, dass er es »beschmiert« habe. Damit ordnet sie der Motivation und Kunstabsicht Kastners eine negative Absicht zu und rückt ihn die Nähe eines »Schmierfinks«. Sie ist offenbar weder willens noch in der Lage, die rote Farbe als Symbolisierung vergossenen Blutes, sondern nur als eine Verunstaltung anzusehen. Was hat es denn auch mit »Kunst« zu tun, wenn es dem Täter lediglich darum geht, etwas zu »beschmieren«? Noch dazu, wenn das mit einem Scheingrab geschieht?

Grabfrevel statt Protest

Tatsache ist: Laut Friedhofssatzung gibt es nur eine wirkliche Grabstätte – die zum Gedenken von den beiden Frauen aus dem Umfeld Jodls aufgestellten zwei senkrechten Grabsteine und eine waagerechte Platte mit weiteren Namen aus dem Familienkreis über deren sterbliche Überreste. Jodls Kenotaph hingegen ist ein Fremdkörper, den die Friedhofssatzung gar nicht vorsieht. Richterin Titz macht den Kenotaphen zu einem Teil der Grabstätte, indem sie zu einer manipulativen Sachverhaltswiedergabe greift und verfälschend schreibt: »Der Fuß des Steins ist etwa auf der Höhe des unteren Viertels nach links und rechts verlängert. Auf diesen Verlängerungen sind links und rechts die Lebensdaten der beiden Ehefrauen ebenfalls mit Bleibuchstaben angebracht.« Man darf von einem Meisterwerk juristischer Verdrehung sprechen. Das von keinem Gesetz und keiner Verordnung gedeckte Ehrenmal für Hitlers obersten Söldner mutiert vom Fremdkörper eines nicht Begrabenen zum Zentrum der Grabstätte, dem sich rechts und links die dort bestatteten beiden Ehefrauen zugesellen, obwohl diese schon viel länger in der Erde ruhen und – man ist versucht zu sagen – mit 25 Prozent Höhe ihrer Gedenksteine am »Ruhme« des verehrten Ehemannes teilhaben dürfen.

Der Künstler nimmt sich nicht mehr eines Schandmals an, sondern »beschmiert« eine »Grabstätte«, begeht also Grabfrevel. Da nutzt auch der wie blanker Hohn wirkende Hinweis auf ein »ehrenwertes Motiv« nichts. Auch ihr »guter Rat«, Kastners Kunst hätte sich doch auch »ohne Beschädigung fremden Eigentums verwirklichen lassen«, kommt einer Verhöhnung des zu Unrecht Verurteilten nahe.

Wo ist der Respekt der Richter Engl und Pollinger sowie der Richterinnen Wand und Titz, des Bürgermeisters der Gemeinde Chiemsee und des Ehrenmalhüters Fisser vor den Opfern von Leningrad? Statt sich mit den eigentlich Schuldigen und mit deren Denken, Reden und Handeln zu befassen, macht die Justiz denjenigen, welcher sich der Opfer annimmt, zum Täter. So muss sich Richterin Titz vorhalten lassen, durch ihr Urteil einen der grausamsten Vertreter des Naziregimes mindestens begünstigt und stattdessen einen Nazigegner bestraft zu haben.

Auf allen Ebenen bewerteten die mit dem »Fall Jodl« befassten Gerichte das Eigentumsrecht höher als das Recht auf Meinungs- und Kunstfreiheit. In der Urteilsbegründung des Amtsgerichts Rosenheim schreibt Richterin Christina Wand am 2. Mai 2017: »Der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob der Jodl-Kenotaph auf dem Friedhof hätte errichtet werden dürfen und ob es sich um einen Kenotaphen handelt (ja, was denn sonst? H.D.), konnte abgelehnt werden, da dies nicht entscheidungserheblich ist. Denn es kommt im Rahmen des Tatbestandes der Sachbeschädigung nur darauf an, ob es sich um eine fremde Sache handelt, und nicht, ob die Sache dort rechtmäßig errichtet worden ist.« Das ist geradezu eine Steilvorlage dafür, auf einem Friedhof – man finde nur eine Verwaltung, die das mitmacht – mit der gleichen Würdelosigkeit und Unverfrorenheit ein Kenotaph für Hitler zu errichten. Sollte danach jemand aus der Sicht des Inhabers das Ehrenmal beschädigen oder gar »beschmieren«, die bundesrepublikanische Justiz würde, ob rechtmäßig oder unrechtmäßig erworben, sein Eigentum schützen. Man darf solche »Logik« wohl als Absurdität in höchster Potenz bezeichnen.

Gegen die wegen des »besonderen öffentlichen Strafverfolgungsinteresses« gefällten Urteile, für die die Staatsanwältin in Traunstein und Richterin Titz verantwortlich zeichnen, hat Kastner Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus. Notfalls will er zum Europäischen Gerichtshof gehen, wohl in der Hoffnung, dass man sich dort mehr aus Jodl macht, als es an deutschen Gerichten der Fall ist.

Im Juli 2019 regte Kastner auf der Insel eine Gedenkveranstaltung an. Michael Heininger las aus den Erinnerungen hungernder Leningrader Kinder, die die von Jodl befohlene Hungerblockade überlebten. Eine mobile Informationstafel, vor dem Kenotaph aufgestellt, informierte über den »Fall Jodl«. Erschienen war auch der Chiemseer Altbürgermeister Holger Lex. Er prangerte Kastner an und machte ihn dafür verantwortlich, dass durch seine »andauernden Aktionen« die breite Öffentlichkeit erst von der Grabstätte Kenntnis erhalten habe. Es ist die alte Leier: Nicht die Verantwortlichen und Mitverantwortlichen, zu denen auch Lex gehört, sind schuld, sondern der Überbringer der schlechten Nachricht.

Bayerische Landtagsabgeordnete schlugen vor, eine Informationstafel auf oder vor dem Friedhof aufzustellen. Was sollte aber darauf stehen und was nicht? Der für die Inschrift der Tafel ausersehene Direktor der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zeigte offenbar kein besonderes Interesse daran.

Anderenorts ist Kastner indes besser angesehen. Im Juni 2022 verlieh ihm die Humanistische Union den Preis »Aufrechter Gang«. Und die SPD München-Süd ehrte ihn im Monat darauf für sein ehrenamtliches Engagement und seine Zivilcourage mit dem »Franz-Xaver-Krenkl-Preis«.

Nicht »interpretationsoffen«

Gegen das Urteil des Landgerichts München Anfang Dezember 2018, in dem es u.a. heißt, das Eigentumsrecht des Klägers sei nicht als »gering bzw. als ›nicht schützenswert‹ zu bewerten, weil durch das Steinkreuz und die Gestaltung Alfred Jodl geehrt wird«, sowie gegen das Urteil des Amtsgerichts München von Ende März 2018 legte Kastners Anwalt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, das eine Annahme mit Beschluss vom 30. März 2021 ablehnte und dazu eine zehnseitige Erläuterung gab. Darin steht unter anderem geschrieben – und auch diese Auffassung dürfte in die Annalen der Rechtsprechung und Kunstgeschichte eingehen –, Kunst habe »interpretationsoffen« zu sein, und daher stellten die von Kastner »durchgeführten Aktionen« keine Kunstwerke dar. Die der Beschwerde beigefügte Stellungnahme des hochangesehenen Professors der Kunstgeschichte, Wolfgang Ullrich, der die Interventionen am Scheingrab sehr wohl als Kunst anerkennt, haben die Juristen ignoriert. Offenbar kennen sie Käthe Kollwitz’ »Nie wieder Krieg!« nicht, und auch Pablo Picassos »Guernica« scheint ihnen noch nicht unter die Augen gekommen zu sein. Denn was ist daran »interpretationsoffen«? Konstantin Wecker hat die Haltung der Richter auf den Punkt gebracht: »Dass sie nicht die Kunst verstehen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Aber sie haben definitiv nicht zu bestimmen, wie Kunst zu sein habe.«

Am 10. Januar 2022 haben Kastner und sein Anwalt Arnold Strafanzeige gegen zwei Richter und eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts wegen des Verdachts der Rechtsbeugung eingereicht. Ein Frankfurter Gericht ist dem, weil »kein Anfangsverdacht« vorliege, nicht gefolgt. Eine neue Wende hat der »Fall Jodl« indes durch eine Anzeige einer Frau erhalten, die jüdisch-ungarischer Herkunft ist und beim Amtsgericht München gegen den Jodl-Grabschützer Fisser Klage eingereicht hat wegen Beleidigung, verbunden mit dem Verlangen nach einem Schmerzensgeld. Für den 1. Dezember 2022 ist eine »Güteverhandlung« anberaumt. Der Richter empfiehlt Fisser die Zahlung und den Abbau des Kenotaphs. Anderenfalls gebe es ein Urteil. Man darf gespannt sein, was dabei herauskommen wird. Vielleicht sollte das Gericht Fisser nahelegen, auf dem Friedhof ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Leningrader Hungerblockade zu errichten.

Bilder: oben Bundesarchiv, Bild 146-1971-033-01 / CC-BY-SA 3.0, diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert; unten: Autor Zenwort, this file is licensed under the Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.

Der Artikel beruht auf den Beiträgen von Claus-Peter Lieckfeld, Jürgen Arnold und Karlheinz Hug sowie auf Dokumenten zu dem kürzlich von Helmut Donat herausgegebenen Buch »Der Fall Jodl – Kunst gegen Kriegsverbrecher«, Donat-Verlag, Bremen 2022, 80 S., 10 Euro.