Wie AnarchistInnen den Krieg erleben (I)

In der Ukraine kämpft auch das rechtsextreme Asow-Regiment gegen russische Truppen. Unter anderem zu dessen Aufstieg und Rolle seit 2014 hat eine Gruppe AnarchistInnen vor Ort eine Analyse verfasst, die wir zur Diskussion stellen wollen. „Wir wissen nicht, ob die antiautoritäre Bewegung einen Krieg überleben wird, aber wir werden es versuchen“, schreiben sie. AutorInnen dieses Textes sind ukrainische AnarchistInnen, deren Namen aus verständlichen Gründen nicht genannt werden dürfen. Der Text entstand direkt vor Kriegsbeginn.

Teil 1/3
Teil 2 finden Sie hier, Teil 3 hier

[Anmerkung der Redaktion:] Der russische Präsident Wladimir Putin nennt die „Entnazifizierung“ der Ukraine als Rechtfertigung für den Einmarsch in das Nachbarland, und als Grundlage seiner Propaganda dient ihm dabei auch die Existenz des Regiments Asow. Das Freiwilligenbataillon aus Ultra-Nationalisten und offen Rechtsextremen kommt derzeit immer wieder in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine vor. Gegründet hat es sich 2014, um die ukrainische Armee gegen prorussische Separatisten im Donbas zu unterstützen. Das Erkennungszeichen der Truppe: die Wolfsangel, ein Symbol, das auch die SS benutzte. Die UN-Menschenrechtsorganisation OHCHR wirft Asow vor, schwere Verbrechen im Donbas verübt zu haben. Amnesty International prangert seit langem die von Asow ausgehende Gewalt gegen Geflüchtete, Roma und Menschen aus dem LSBTTIQ-Spektrum an.

Der militärische Teil des Verbands ist dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Im Geiste verbunden ist Asow mit Identitären, dem Dritten Weg und anderen radikalen Neonazis, nicht nur in Deutschland. 2017, auf dem Rechtsrockkonzert im Thüringischen Themar etwa, warb das Bataillon mit Flyern um Freiwillige, die „Europa vor dem Aussterben“ bewahren wollen. Auch momentan rekrutiert Asow neue Mitglieder.

Wie bedeutend ist das Asow-Regiment?

Doch wie bedeutend ist diese Einheit? Der Extremismusforscher Alexander Ritzmann sagte vor kurzem in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“, das Asow-Regiment sei eine „verschwindend kleine Gruppe“. Die Gruppierung soll derzeit nach Berichten des „Spiegel“ mehr als 2000 Personen umfassen.

Zur Parlamentswahl in der Ukraine 2019 schloss sich der politische Arm der Gruppe mit anderen rechtsextremistischen Parteien zusammen, kam aber nur auf 2,15 Prozent der Stimmen. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk twitterte kürzlich, als die „Frankfurter Rundschau“ über die Rechtsextremen bei Asow schrieb: „Leute, kümmert euch lieber um eure eigenen Rechtsradikalen. Im Ukrainischen Parlament sitzen sie nicht.“

Melnyk mag an dieser Stelle Recht haben. Aber der Botschafter, der derzeit auf Twitter in alle Richtungen wild um sich schlägt, gilt im politischen Berlin schon länger als umstritten. Allein schon deshalb, weil er in der Vergangenheit am Grab des ukrainische Nationalisten und NS-Kollaborateurs Stepan Bandera, der von einigen Historikern als „überzeugter Faschist“ bezeichnet wird, Blumen niedergelegt und Bandera als „unseren Helden“ bezeichnet hatte.

Melnyk gilt zudem als Verteidiger der rechtsextremen Kämpfer. „Mariupol wird mutig verteidigt. Und zwar vom Asow-Regiment“, twitterte er kürzlich. Oder: „Leute, liebe @tagesschau, lassen Sie doch endlich das Asow-Regiment in Ruhe. Bitte. Wie lange wollen Sie dieses russische Fake-Narrativ – jetzt mitten im russischen Vernichtungskrieg gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder in Mariupol – bedienen?“

Derweil ist die Frage berechtigt, wie beispielsweise Deutschland mit den sehr wenigen, aber doch existenten deutschen Neonazis umgehen wird, die in die Ukraine ausgereist sind und womöglich irgendwann kampferprobt zurückkehren. Und die „Zeit“ fragt, wie die Neonazis um Asow wohl nach dem Krieg wieder eingefangen werden können. „Militärisch gedrillte Neonazis mit Kampferfahrung, mit Panzerfäusten und Sturmgewehren, dürften sich kaum wieder einfach so einem demokratisch gewählten Präsidenten unterordnen.“ Eine durchaus berechtigte Sorge.

Wie verschieben sich rote Linien in Kriegszeiten?

Eine ganz andere Frage ist, wie sich rote Linien zwischen politischen Gruppen innerhalb eines Landes verschieben können, wenn es um die Verteidigung des eigenen Lebens, der eigenen Heimat geht. Das anarchistische Kollektiv Crimethinc, aktiv vor allem in den USA, hat kurz vor Kriegsbeginn, am 15. Februar, eine ausführliche und differenzierte Analyse der Aktivitäten von rechten Gruppen in der Ukraine seit den Maidan-Protesten 2014 und des Aufstiegs von Asow und der Entwicklung dieser Einheit veröffentlicht, die wir hier in die Debatte einspeisen wollen.

Normalerweise halten wir es für falsch, Texte ohne Autorennamen zu veröffentlichen, zumal von radikalen Gruppen. Dieses Mal wollen wir darüber hinwegsehen, weil wir den Text für wertvoll in der aktuellen Debatte halten, weil wir in ihm auch das Bemühen sehen, möglichst objektiv zu berichten. Wir hatten mehrfach mit Crimethinc Kontakt, wir konnten, soweit es uns möglich ist, nachvollziehen, wie der Text entstanden ist und wie er auf faktische Richtigkeit überprüft wurde. Wir haben unter anderem mit dem kleinen linken Unrast-Verlag in Münster gesprochen, der seit Jahren Bücher des Anarcho-Kollektivs ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Ebenfalls mit der langjährigen Klimaschutzaktivistin und Baumbesetzerin Hannah Poddig aus Flensburg, die gemeinsam mit MitstreiterInnen seit den G8-Protesten in Heiligendamm 2007 Texte der Gruppe übersetzt und veröffentlicht. Zuerst als eine Art Loseblattsammlung, später auch gebunden. Für das „Freie Radio Fratz“ in Flensburg hat die Gruppe um Poddig den Text als empfehlenswerte Hörfassung eingelesen.

Crimethinc ist eine radikal linke und antikapitalistische Gruppe, lose verbunden mit anarchistischen Gruppen und Einzelpersonen aus anderen Ländern. Entstanden ist die Gruppierung in den 1990er-Jahren und hat Wurzeln in der Anarcho-Punk-Szene, in der radikalen Umweltbewegung und dem „Food not Bombs“-Movement (Essensrettung). Den unten stehenden Text stellt das Kollektiv selbst nicht als der Weisheit letzten Schluss dar, sondern als Analyse und Erfahrungsbericht.

Der Krieg und die Anarchist*innen: Anti-Autoritäre Perspektiven in der Ukraine

Dieser Text wurde von mehreren antiautoritären Aktivist*innen aus der Ukraine gemeinsam verfasst. Wir repräsentieren keine Organisation, aber wir sind zusammengekommen, um diesen Text zu schreiben und uns auf einen möglichen Krieg vorzubereiten.

Außer von uns wurde der Text von mehr als zehn Personen redigiert, darunter Teilnehmende an den im Text beschriebenen Ereignissen, Journalist*innen, die die Richtigkeit unserer Ausführungen überprüften, und Anarchist*innen aus Russland, Belarus und Europa. Wir haben viele Korrekturen und Hinweise eingearbeitet und versucht, den Text möglichst objektiv zu halten.

Wir wissen nicht, ob die antiautoritäre Bewegung einen Krieg überleben wird, aber wir werden es versuchen. In der Zwischenzeit ist dieser Text ein Versuch, die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, online zu stellen.

Zurzeit wird in der Welt über einen möglichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine intensiv diskutiert. An dieser Stelle müssen wir klarstellen, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine bereits seit 2014 im Gange ist.

Aber alles der Reihe nach.

Die Maidan-Proteste in Kiew

Im Jahr 2013 kam es in der Ukraine zu Massenprotesten. Ausgelöst wurden sie, als die Berkut (Spezialeinheiten der Polizei), protestierende Student*innen verprügelte, die gegen die Weigerung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, protestierten. Diese Auseinandersetzung war für große Teile der Gesellschaft eine Initialzündung. Allen wurde klar, dass Janukowitsch die Grenze überschritten hatte. Die Proteste führten schließlich dazu, dass der Präsident flüchtete.

In der Ukraine werden diese Ereignisse als „Revolution der Würde“ bezeichnet. Die russische Regierung stellt sie als einen Nazi-Putsch, ein Projekt des US-Außenministeriums usw. dar. Die Demonstrant*innen selbst waren ein bunter Haufen: Rechtsextreme Aktivist*innen mit ihren Symbolen, liberale Politiker*innen, die über europäische Werte und die europäische Integration sprachen, bürgerliche Ukrainer*innen, die gegen die Regierung auf die Straße gingen, und ein paar Linke. Unter den Demonstrant*innen herrschten anti-oligarchische Einstellungen vor; – während Oligarchen, die Janukowitsch nicht unterstützten, die Proteste finanzierten, weil er und sein enger Kreis während seiner Amtszeit versucht hatten, das Großkapital zu monopolisieren. Für andere Oligarchen stellte der Protest also eine Chance dar, ihre Unternehmen zu retten. Auch viele mittelständische und kleine Geschäftsleute nahmen an den Protesten teil, weil Janukowitschs Leute sie nicht frei arbeiten ließen und Geld von ihnen verlangten. Die breite Bevölkerung war unzufrieden mit dem hohen Maß an Korruption und der Willkür der Polizei. Die Nationalist*innen, die Janukowitsch mit der Begründung ablehnten, er sei ein pro-russischer Politiker, gewannen wieder deutlich an Einfluss. Belarussische und russische Exilant*innen schlossen sich den Protesten an, da sie Janukowitsch als Freund der belarussischen und russischen Diktatoren Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin ansahen.

Wenn du Videos von der Maidan-Kundgebung gesehen hast, ist dir vielleicht aufgefallen, dass der Grad der Gewalt hoch war; die Demonstrant*innen hatten keinen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, also mussten sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Die Berkut umhüllte Blendgranaten mit Schraubenmuttern, die nach der Explosion Splitterwunden hinterließen und einigen Menschen ins Auge flogen; deshalb gab es viele Verletzte. In der Schlussphase des Konflikts setzten die Sicherheitskräfte militärische Waffen ein und töteten 106 Demonstrant*innen.

Als Reaktion darauf stellten die Demonstrant*innen selbstgebaute Granaten und Sprengstoffe her und brachten Schusswaffen auf den Maidan. Die Herstellung von Molotow-Cocktails wurde von kleinen Einheiten übernommen.

Bei den Maidan-Protesten 2014 setzten die Machthaber*innen Söldner*innen (Tituschkas) ein; gaben ihnen Waffen, koordinierten sie und versuchten, sie als organisierte loyale Kräfte einzusetzen. Es kam zu Kämpfen mit Knüppeln, Hämmern und Messern.

Entgegen der Darstellung, der Maidan-Protest sei eine „Manipulation durch die EU und die NATO“, hatten die Befürworter*innen der europäischen Integration zu einem friedlichen Protest aufgerufen und die militanten Demonstrant*innen als Handlanger*innen verspottet. Die EU und die Vereinigten Staaten kritisierten die Besetzung von Regierungsgebäuden. Selbstverständlich beteiligten sich „pro-westliche“ Kräfte und Organisationen an dem Protest, aber sie kontrollierten ihn nicht insgesamt. Verschiedene politische Kräfte, darunter die extreme Rechte, mischten sich aktiv in die Bewegung ein und versuchten ihre Agenda zu beeinflussen. Sie fanden sich schnell zurecht und wurden zu einer organisierenden Kraft, da sie die ersten Kampfgruppen aufstellten und alle einluden, sich ihnen anzuschließen – und sich von ihnen ausbilden und anleiten zu lassen.

Allerdings war keine der Kräfte absolut dominant. Der Grundtenor war, dass es sich um eine spontane Protestbewegung handelte, die sich gegen das korrupte und unpopuläre Janukowitsch-Regime richtete. Vielleicht kann der Maidan als eine der vielen „gestohlenen Revolutionen“ eingestuft werden. Die Opfer und Anstrengungen Zehntausender gewöhnlicher Menschen wurden von einer Handvoll Politiker*innen zunichte gemacht, die sich ihren Weg zur Herrschaft und Kontrolle über die Wirtschaft bahnten.

Die Rolle der Anarchist*innen bei den Protesten 2014

Auch wenn Anarchist*innen in der Ukraine auf eine lange Geschichte zurückblicken können, wurden während der Herrschaft Stalins alle, die in irgendeiner Weise mit den Anarchist*innen in Verbindung standen, unterdrückt. Die Bewegung starb aus, was zur Folge hatte, dass die Weitergabe revolutionärer Erfahrungen zum Erliegen kam. In den 1980er Jahren begann sich die Bewegung dank der Bemühungen von Historiker*innen zu erholen, und in den 2000er Jahren erhielt sie durch die Entwicklung von Subkulturen und Antifaschismus einen großen Auftrieb. Doch im Jahr 2014 war sie noch nicht bereit für ernsthafte historische Herausforderungen.

Vor dem Ausbruch der Proteste waren die Anarchist*innen als individuelle Aktivist*innen oder in kleinen Gruppen verstreut. Nur wenige waren der Meinung, dass die Bewegung organisiert und revolutionär sein sollte. Zu den bekannten Organisationen, die sich auf solche Ereignisse vorbereiteten, gehörte die „Revolutionäre Konföderation der Anarcho-Syndikalisten von Makhno“ (RKAS von Makhno), die sich jedoch zu Beginn der Unruhen selbst auflöste, da sie keine Strategie für die neue Situation entwickeln konnte.

Die Ereignisse auf dem Maidan waren vergleichbar mit einer Situation, in der du einer direkten Auseinandersetzung mit den Spezialeinheiten nicht mehr entkommen kannst und du gezwungen bist entschlossen zu handeln – dein Arsenal aber nur aus Punk-Texten, Veganismus, 100 Jahre alten Büchern und bestenfalls aus der Erfahrung der Teilnahme am antifaschistischen Widerstand auf der Straße und an lokalen sozialen Konflikten besteht. Folglich herrschte große Verwirrung, als die Leute versuchten zu verstehen, was vor sich ging.

Zu diesem Zeitpunkt war es nicht möglich, eine gemeinsame Perspektive auf die Situation zu entwickeln. Die Anwesenheit der Rechtsextremen auf den Straßen hielt viele Anarchist*innen davon ab, die Proteste zu unterstützen, da sie nicht neben den Nazis auf der gleichen Seite der Barrikaden stehen wollten. Dies brachte eine Menge Kontroversen in die Bewegung; einige Leute beschuldigten diejenigen, die sich entschlossen, sich den Protesten anzuschließen, des Faschismus.

Die Anarchist*innen, die an den Protesten teilnahmen, waren mit der Brutalität der Polizei und mit Janukowitsch selbst und seiner pro-russischen Haltung unzufrieden. Sie konnten jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die Proteste nehmen, da sie im Wesentlichen zu den Außenseiter*innen zählten.

Schließlich beteiligten sich die Anarchist*innen einzeln und in kleinen Gruppen an der Maidan-Revolution, hauptsächlich in nicht-militanten Initiativen und Hilfspositionen. Nach einer Weile beschlossen sie, zusammenzuarbeiten und ihre eigene „Hundertschaft“ (eine Kampfgruppe von 60-100 Personen) zu bilden. Doch bei der Registrierung der Einheit (ein obligatorisches Verfahren auf dem Maidan) wurden die zahlenmäßig unterlegenen Anarchist*innen von den rechtsextremen Teilnehmenden mit Waffen auseinander getrieben. Die Anarchist*innen blieben, versuchten aber nicht mehr, große organisierte Gruppen zu bilden.

Unter den auf dem Maidan Getöteten befand sich der Anarchist Sergei Kemsky, der ironischerweise post mortem zum Helden der Ukraine ernannt wurde. Er wurde in der heißen Phase der Konfrontation mit den Sicherheitskräften von einem Scharfschützen erschossen. Während der Proteste richtete Sergei einen Appell an die Demonstrant*innen mit dem Titel „Hörst du es, Maidan?“, in dem er mögliche Wege zur Entwicklung der Revolution skizzierte und dabei die Aspekte der direkten Demokratie und der sozialen Transformation hervorhob. Der Text ist hier auf Englisch verfügbar.

Der Beginn des Krieges: Die Annexion der Krim

Der bewaffnete Konflikt mit Russland begann vor acht Jahren, in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014, als das Parlamentsgebäude und der Ministerrat der Krim von unbekannten bewaffneten Männern in ihre Gewalt gebracht wurden. Sie benutzten russische Waffen, Uniformen und Ausrüstung, trugen aber nicht die Symbole der russischen Armee. Putin hat die Beteiligung des russischen Militärs an dieser Operation damals bestritten, sie allerdings später persönlich in dem dokumentarischen Propagandafilm „Krim: Der Weg in die Heimat“ zugegeben.

In diesem Zusammenhang muss mensch wissen, dass die ukrainische Armee zur Zeit Janukowitschs in einem sehr schlechten Zustand war. Die provisorische Regierung der Ukraine wusste, dass auf der Krim eine reguläre russische Armee mit 220.000 Soldat*innen operierte, und wagte es nicht, sich ihr entgegenzustellen.

Nach der Besetzung waren viele Bewohner*innen mit Repressionen konfrontiert, die bis zum heutigen Tag andauern. Auch unsere Genoss*innen gehören zu den Betroffen. Wir können kurz auf einige der bekanntesten Fälle eingehen. Der Anarchist Alexander Koltschenko wurde zusammen mit dem pro-demokratischen Aktivisten Oleg Sentsov verhaftet und am 16. Mai 2014 nach Russland überstellt; fünf Jahre später wurden sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Der Anarchist Alexei Shestakovich wurde gefoltert, mit einer Plastiktüte auf dem Kopf gewürgt, geschlagen und mit Vergeltungsmaßnahmen bedroht; ihm gelang die Flucht. Der Anarchist Evgeny Karakashev wurde 2018 wegen des Teilen eines Beitrages auf Vkontakte (einem sozialen Netzwerk) verhaftet; er befindet sich weiterhin in Haft.

Desinformation

In russischsprachigen Städten in der Nähe der russischen Grenze fanden pro-russische Kundgebungen statt. Die Teilnehmenden fürchteten die NATO, radikale Nationalist*innen und Repressionen gegen die russischsprachige Bevölkerung. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es zwischen vielen Haushalten in der Ukraine, in Russland und in Belarus familiäre Bindungen, aber die Ereignisse auf dem Maidan führten zu einem schweren Bruch in den persönlichen Beziehungen. Diejenigen, die sich außerhalb Kiews aufhielten und das russische Fernsehen verfolgten, waren davon überzeugt, dass Kiew von einer Nazi-Junta eingenommen worden war und dass es dort „Säuberungsaktionen“ gegen die russischsprachige Bevölkerung gab.

Russland startete eine Propagandakampagne mit folgenden Botschaften: „Bestrafer“, d. h. Nazis, kommen von Kiew nach Donezk, sie wollen die russischsprachige Bevölkerung vernichten (obwohl Kiew auch eine überwiegend russischsprachige Stadt ist). In ihren Desinformationsmeldungen verwendeten die Propagandist*innen Fotos der extremen Rechten und verbreiteten alle Arten von Fake News. Während der Feindseligkeiten tauchte eine der gefährlichsten Falschmeldungen auf: die angebliche Kreuzigung eines dreijährigen Jungen, der angeblich an einen Panzer gebunden und über die Straße geschleift wurde. In Russland wurde diese Geschichte auf staatlichen Sendern ausgestrahlt und verbreitete sich im Internet.

Unserer Meinung nach spielte 2014 die Desinformation eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des bewaffneten Konflikts: Einige Einwohner*innen von Donezk und Lugansk hatten Angst, dass sie getötet werden könnten, griffen deshalb zu den Waffen und riefen nach Putins Truppen.

Dieser Text erschien zuerst in KONTEXT:Wochenzeitung

Bild: Kiew, Maidan, Bild von skyler-110 auf Pixabay