Wie AnarchistInnen den Krieg erleben (II)

Im zweiten Teil der Analyse der historischen Vorbedingungen des aktuellen Krieges in der Ukraine gehen die anarchistischen AutorInnen näher auf die im Westen weitgehend unbekannten gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland ein.

Teil 2/3

Teil 1 finden Sie hier, Teil 3 hier.

Igor Girkin hat laut seinen eigenen Worten, „den Startschuss zum Krieg abgegeben“. Girkin, Oberst des FSB (Staatssicherheitsdienst, Nachfolger des KGB) der Russischen Föderation und Anhänger des russischen Imperialismus, beschloss, die pro-russischen Proteste zu radikalisieren. Er überquerte mit einer bewaffneten Gruppe von Russen die Grenze und besetzte (am 12. April 2014) das Gebäude des Innenministeriums in Slawjansk, um Waffen in Besitz zu nehmen. Pro-russische Sicherheitskräfte begannen, sich Girkin anzuschließen. Als Informationen über Girkins bewaffnete Gruppen auftauchten, kündigte die Ukraine eine Anti-Terror-Operation an.

Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft war entschlossen, die nationale Souveränität zu schützen. Dabei waren sie sich bewusst, dass die Armee nur über geringe Kapazitäten verfügte, und organisierte eine große Freiwilligenbewegung. Diejenigen, die in militärischen Angelegenheiten einigermaßen kompetent waren, wurden Ausbilder*innen oder bildeten Freiwilligenbataillone. Einige Menschen schlossen sich der regulären Armee und den Freiwilligenbataillonen als humanitäre Freiwillige an. Sie sammelten Geld für Waffen, Lebensmittel, Munition, Treibstoff, Transportmittel, die Anmietung von Zivilfahrzeugen und Ähnliches. Oft waren die Teilnehmer*innen der Freiwilligenbataillone besser bewaffnet und ausgerüstet als die Soldaten der staatlichen Armee. Diese Bataillone bewiesen ein hohes Maß an Solidarität und Selbstorganisation und übernahmen faktisch die staatlichen Aufgaben der Territorialverteidigung, sodass die (damals schlecht ausgerüstete) Armee in der Lage war, dem Feind erfolgreich zu widerstehen.

Die von den pro-russischen Kräften kontrollierten Gebiete begannen rasch zu schrumpfen. Dann griff die reguläre russische Armee ein.

Wir können drei wichtige Zeitpunkte hervorheben:

1) Das ukrainische Militär realisierte, dass Waffen, Freiwillige und Militärspezialist*innen aus Russland kamen. Daher begann es am 12. Juli 2014 eine Operation an der ukrainisch-russischen Grenze. Während des Vormarsches wurde das ukrainische Militär jedoch von russischer Artillerie angegriffen und die Operation scheiterte. Die Streitkräfte erlitten schwere Verluste.

2) Die ukrainischen Streitkräfte versuchten Donezk zu besetzen. Bei ihrem Vormarsch wurden sie in der Nähe von Ilowaisk von regulären russischen Truppen umzingelt. Bekannte von uns, die einem der Freiwilligenbataillone angehörten, wurden ebenfalls gefangen genommen. Sie erlebten das russische Militär aus erster Hand. Nach drei Monaten konnten sie im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zurückkehren.

3) Die ukrainische Armee kontrollierte die Stadt Debaltseve, die über einen großen Eisenbahnknotenpunkt verfügte. Dadurch wurde die direkte Verbindungsstraße zwischen Donezk und Lugansk unterbrochen. Am Vorabend der Verhandlungen zwischen Poroschenka (dem damaligen Präsidenten der Ukraine) und Putin, die einen langfristigen Waffenstillstand einleiten sollten, wurden ukrainische Stellungen von Einheiten angegriffen, die von russischen Truppen unterstützt wurden. Die ukrainische Armee wurde erneut eingekesselt und erlitt schwere Verluste.

Im Moment (Februar 2022) haben sich die Parteien auf einen Waffenstillstand und einen bedingten „Waffenstillstand“ geeinigt, der trotz ständiger Verstöße eingehalten wird. Jeden Monat sterben mehrere Menschen.

Russland bestreitet die Anwesenheit regulärer russischer Truppen und die Lieferung von Waffen in Gebiete, die nicht unter der Kontrolle der ukrainischen Behörden stehen. Die gefangen genommenen russischen Soldat*innen behaupten, sie seien für eine Übung in Alarmbereitschaft versetzt worden und hätten erst bei ihrer Ankunft am Zielort gemerkt, dass sie sich mitten im Krieg in der Ukraine befanden. Bevor sie die Grenze überquerten, entfernten sie die Symbole der russischen Armee, so wie es ihre Kolleg*innen auf der Krim taten. In Russland haben Journalist*innen Friedhöfe von gefallenen Soldat*innen gefunden, auf denen allerdings alle Informationen über ihren Tod fehlen: Die Grabinschriften auf den Grabsteinen geben als Todesdatum nur das Jahr 2014 an.

Unterstützer*innen der nicht anerkannten Republiken

Auch die ideologische Basis der Maidan-Gegner*innen war vielfältig. Die wichtigsten gemeinsamen Überzeugungen waren die Ablehnung der Gewalt gegen die Polizei und die Ablehnung der Ausschreitungen in Kiew. Menschen, die mit russischen Kulturerzählungen, Filmen und Musik aufgewachsen sind, hatten Angst vor der Zerstörung der russischen Sprache. Anhänger*innen der UdSSR und Bewunderer*innen ihres Sieges im Zweiten Weltkrieg glaubten, dass die Ukraine mit Russland verbündet sein sollte, und waren unglücklich über den Aufstieg radikaler Nationalist*innen. Die Anhänger*innen des Russischen Kaiserreiches sahen in den Maidan-Protesten eine Bedrohung des russischen Reichsgebietes. Die Vorstellungen dieser Verbündeten lassen sich anhand eines Fotos erklären, das die Flaggen der UdSSR, des Russischen Kaiserreichs und das St. Georgs-Band (als Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg) zeigt. Wir könnten sie als autoritäre Konservative bezeichnen, als Verfechter der alten Ordnung.

Die pro-russische Seite bestand aus Angehörigen der Polizei, der Wirtschaft, der Politik und aus dem Militär, die mit Russland sympathisierten; gewöhnlichen Bürger*innen, die durch Fake News verängstigt waren; verschiedenen ultrarechten Einzelpersonen, darunter russische Patriot*innen und verschiedene Arten von Monarchist*innen; pro-russischen Imperialist*innen; aus der Task-Force-Gruppe „Rusich“ und der „Gruppe Wagner“. Ebenfalls darunter: der berüchtigte Neonazi Alexei Milchakov, der kürzlich verstorbene Egor Prosvirnin, der Gründer des chauvinistischen russisch-nationalistischen Medienprojekts „Sputnik und Pogrom“, und viele andere. Es gab auch autoritäre Linke, die die UdSSR und ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg feierten.

Der Aufstieg der extremen Rechten in der Ukraine

Wie wir beschrieben haben, gelang es der Rechten, während des Maidan Sympathien zu gewinnen, indem sie Kampfeinheiten organisierte und bereit war, der Berkut physisch entgegenzutreten. Die Anwesenheit von Militärwaffen ermöglichte es ihnen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und andere zu zwingen, mit ihnen zu rechnen. Obwohl sie offen faschistische Symbole wie Hakenkreuze, Wolfsangeln, keltische Kreuze und SS-Logos verwendeten, war es schwierig, sie zu diskreditieren, da die Notwendigkeit, die Kräfte der Janukowitsch-Regierung zu bekämpfen, viele Ukrainer*innen zur Zusammenarbeit mit ihnen veranlasste.

Nach dem Maidan unterdrückte der rechte Flügel aktiv die Kundgebungen der pro-russischen Kräfte. Zu Beginn der Militäroperationen begannen sie, Freiwilligenbataillone zu bilden. Eines der bekanntesten ist das Bataillon „Asow“. Zu Beginn bestand es aus 70 Kämpfern; heute ist es ein Regiment mit 800 Soldat*innen, das über eigene gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, eine Panzerkompanie und ein eigenes dem NATO-Standard entsprechendes Projekt, die Unteroffiziersschule, verfügt. Das Asow-Bataillon ist eine der kampfstärksten Einheiten der ukrainischen Armee. Es gab auch andere faschistische militärische Formationen wie die ukrainische Freiwilligeneinheit „Rechter Sektor“ und die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“, die jedoch weniger bekannt sind.

Folglich erlangte die ukrainische Rechte in den russischen Medien einen schlechten Ruf. Aber viele in der Ukraine betrachteten das, was in Russland verhasst war, als ein Symbol des Kampfes der Ukraine. So wurde beispielsweise der Name des Nationalisten Stepan Bandera, der in Russland als Nazi-Kollaborateur gilt, von den Demonstrant*innen aktiv adaptiert, um Russland zu verspotten. Einige nannten sich Judeo-Banderaner, um Anhänger*innen von in Russland verbreiteten Verschwörungsideologien über entweder Jüd*innen oder Anhänger*innen von Bandera, die sie beide jeweils für die Maidan-Proteste verantwortlich machten, zu trollen.

Mit der Zeit geriet das Trollen außer Kontrolle. Rechtsextreme trugen offen Nazi-Symbole; gewöhnliche Unterstützer*innen des Maidan behaupteten, sie seien selbst Banderaner, die russische Babys essen, und erstellten entsprechende Memes. Die Rechtsextremen fanden ihren Weg in den Mainstream: Sie wurden zu Fernsehsendungen und anderen medialen Plattformen eingeladen, in denen sie als Patriot*innen und Nationalist*innen dargestellt wurden. Liberale Unterstützer*innen des Maidan stellten sich auf ihre Seite und glaubten, dass die Nazis ein von den russischen Medien erfundener Schwindel seien. In den Jahren 2014 bis 2016 wurde jede*r, der bereit war zu kämpfen, willkommen geheißen, egal ob es sich um einen Nazi, einen Anarchisten, einen Kopf des organisierten Verbrechens oder eine unehrliche Politikerin handelte.

Der Aufstieg der extremen Rechten ist darauf zurückzuführen, dass sie in kritischen Situationen besser organisiert waren und anderen Rebell*innen wirksame Kampfmethoden vorschlagen konnten. Etwas Ähnliches leisteten die Anarchist*innen in Belarus, wo es ihnen ebenfalls gelang, die Sympathie der Öffentlichkeit zu gewinnen, allerdings nicht in einem so bedeutenden Ausmaß wie die Rechtsextremen in der Ukraine.

2017, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war und der Bedarf an radikalen Kämpfer*innen zurückging, haben der SBU (Inlandsgeheimdienst der Ukraine) und die Regierung die rechte Bewegung kooptiert und jeden inhaftiert oder neutralisiert, der eine „systemfeindliche“ oder unabhängige Perspektive für die Entwicklung der rechten Bewegung vertrat – darunter Oleksandr Muzychko, Oleg Muzhchil, Yaroslav Babich und andere.

Heute ist sie immer noch eine große Bewegung, aber ihre Popularität ist vergleichsweise gering, und ihre Führer sind mit dem Geheimdienst, der Polizei und der Politik verbunden; eine wirklich unabhängige politische Kraft stellen sie nicht dar. Im demokratischen Lager wird das Problem der Rechtsextremen immer häufiger diskutiert, und mensch entwickelt Kenntnisse der Symbole und Organisationen, mit denen mensch es zu tun hat, anstatt die Bedenken stillschweigend zu verdrängen.

Die Aktivitäten von Anarchist*innen und Antifaschist*innen während des Krieges

Mit dem Ausbruch der militärischen Handlungen kam es zu einer Spaltung zwischen jenen, die pro-ukrainisch sind und den Anhänger*innen der sogenannten DNR / LNR („Volksrepublik Donezk“ und „Volksrepublik Lugansk“).

In den ersten Kriegsmonaten herrschte in der Punk-Szene eine weit verbreitete „Nein zum Krieg“-Stimmung, die jedoch nicht lange anhielt. Analysieren wir das pro-ukrainische und das pro-russische Lager.

Pro-Ukraine

In Ermangelung einer schlagkräftigen Organisation zogen die ersten anarchistischen und antifaschistischen Freiwilligen als Einzelkämpfer*innen, Militärsanitäter*innen und Freiwillige in den Krieg. Sie versuchten, eine eigene Truppe zu bilden, was jedoch aufgrund mangelnder Erfahrungen und Ressourcen nicht gelang. Einige schlossen sich sogar dem Asow-Bataillon und der OUN („Organisation Ukrainischer Nationalisten“) an. Die Gründe dafür waren banal: Sie schlossen sich den Truppen an, die am leichtesten zugänglich waren. Infolgedessen wandten sich einige Menschen rechter Politik zu.

Menschen, die nicht an den Kämpfen teilnahmen, sammelten Geld für die Behandlung von Verletzten im Osten und für den Bau eines Luftschutzbunkers in einem Kindergarten in der Nähe der Front. Es gab auch ein besetztes Haus namens „Autonomie“ in Charkiw, ein offen anarchistisches soziales und kulturelles Zentrum, das sich zu dieser Zeit auf die Unterstützung der Flüchtenden konzentrierte. Sie stellten Wohnungen und einen Umsonstladen zur Verfügung, berieten die Neuankömmlinge, verwiesen sie auf Ressourcen und führten Bildungsaktivitäten durch. Darüber hinaus wurde das Zentrum zu einem Ort für theoretische Diskussionen. Leider wurde das Projekt im Jahr 2018 eingestellt.

Alle diese Aktionen waren Einzelinitiativen bestimmter Personen und Gruppen. Sie erfolgten nicht im Rahmen einer gemeinsamen Strategie.

Eines der bemerkenswertesten Phänomene dieser Zeit war eine ehemals große radikal-nationalistische Organisation, „Autonomnyi Opir“ (Autonomer Widerstand). Sie begann sich 2012 nach links zu orientieren; 2014 war sie so weit nach links gerückt, dass sich einzelne Mitglieder sogar als „Anarchist*innen“ bezeichneten. Sie bezeichneten ihren Nationalismus als Kampf für „Freiheit“ und als Gegengewicht zum russischen Nationalismus, wobei sie die zapatistische Bewegung und die Kurd*innen als Vorbilder anführten. Im Vergleich zu den anderen Projekten in der ukrainischen Gesellschaft galten sie als die am nächsten stehenden Verbündeten, weshalb einige Anarchist*innen mit ihnen zusammenarbeiteten, während andere diese Zusammenarbeit und die Organisation selbst kritisierten. Die Mitglieder der AO beteiligten sich auch aktiv an den Freiwilligenbataillonen und versuchten, die Idee des „Antiimperialismus“ unter den Militärs zu verbreiten. Sie setzten sich auch für das Recht der Frauen ein, am Krieg teilzunehmen; weibliche Mitglieder der AO nahmen an den Kampfhandlungen teil. Die AO unterstützte Ausbildungszentren bei der Ausbildung von Kämpfer*innen und Ärzt*innen, meldete sich freiwillig zur Armee und organisierte das Sozialzentrum „Zitadelle“ in Lemberg, wo Flüchtende untergebracht wurden.

Dieser Text erschien zuerst in KONTEXT:Wochenzeitung

Symbolbild von Samuel F. Johanns auf Pixabay