»Wir machen nicht mit!« (I)

Verfolgt, ermordet, totgeschwiegen und heute so gut wie vergessen. Eine Erinnerung an den von den Nationalsozialisten ermordeten Philosophen, Publizisten und radikalen Kriegsgegner Theodor Lessing anlässlich seines 150. Geburtstages.

Dies ist der erste Teil des Essays. Die zwei weiteren Teile lesen Sie morgen und übermorgen.

Mitte Juni 1924 fiel Hannover in Schockstarre. Unfassbares war geschehen: Fritz Haarmann hatte jahrelang und unter den Augen der Polizei, getarnt als ihr Gehilfe, mindestens zwei Dutzend Sexualmorde begangen. Sogar Kannibalismus war dabei. Davon habe ich, im Niedersächsischen geboren und aufgewachsen, schon vor meiner Einschulung gehört. Als Kinder sangen wir das Lied:
»Warte, warte noch ein Weilchen,
dann kommt Haarmann auch zu dir.
Mit dem kleinen Hackebeilchen
macht er Hackefleisch aus dir.«

Von Theodor Lessing, der über den Serientäter 1925 das Buch »Haarmann – die Geschichte eines Werwolfes« publizierte, erfuhr ich erst etwas, als ich weit über Dreißig war. Die Gründe dafür sind so einfach wie banal. Keiner ist in der Lage gewesen, sich so des Themas anzunehmen. Lessing war – so ist es der Neuausgabe seiner lange vergriffenen Lebenserinnerungen »Einmal und nie wieder« zu ablesbar – eine der wenigen geistigen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts von universalem Gepräge: Dichter, Mediziner, Philosoph, Psychologe, Wanderlehrer, Vortragsredner, Journalist, Kritiker, Begründer der ersten Arbeiterunterrichtskurse in Dresden (1904) und Mitbegründer der Volkshochschule Hannover (1919). Zudem lehrte er in seiner Heimatstadt als Professor an der Technischen Hochschule und erkannte klarer als die meisten seiner Zeitgenossen schon 1923 die Gefahren, die von Hitler und den Nationalsozialisten ausgingen.

Lessing lag manchen schwer im Magen

Aufmerksam beobachtete Lessing den Haarmann-Prozess und bot in seinem Buch eine eminente Analyse des Charakters des Massenmörders, übte Kritik am Gericht und am Verlauf des Verfahrens, bezeichnete die Verteidiger als völlig überfordert. Vor allem scheute Lessing nicht vor einer schonungslosen Aufdeckung der gesellschaftlichen und ordnungspolitischen Missstände jener Zeit zurück, die Haarmanns Wüten erst ermöglicht und begünstigt hatten. Lessing schrieb, eine »Verteidigung« sei eben nur möglich, wenn sein Anwalt klargemacht hätte, was »zwangssüchtiger Triebirrsinn« bedeute, oder »wenn er, die ›Schuld‹ auf Umwelt, Zeit, Verrottung der Zustände abwälzend, zum flammenden Ankläger von Polizei und Sittlichkeit der Stadt Hannover, ja, zum Richter einer ganzen Kultur« geworden wäre. Da Lessing seine Meinung schon während des Prozesses in einem Aufsatz bekannt machte, schloss man ihn von der weiteren Beobachtung des Verfahrens aus. Das Gericht fühlte sich verunglimpft. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich weiter dem Fall Haarmann zu widmen. Zum Leidwesen vieler Hannoveraner, denen Lessing seither im Magen lag.

Als er am 25. April 1925 im Prager Tagblatt in einer Glosse auch noch vor der Wahl des ehemaligen Feldmarschalls Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten warnte – am Schluss des Artikels hieß es, geradezu prophetisch: »Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: ›Besser ein Zero als ein Nero.‹ Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht« –, da war das Maß voll. Eine reichsweite Schmähkampagne gegen den Dozenten an der Technischen Hochschule, den »verleumderischen Juden«, begann. Aufgehetzte Studenten, aus allen Richtungen mit Sonderzügen nach Hannover gereist, störten Lessings Vorlesungen, riefen zu deren Boykott auf, verlangten, ihm die Lehrbefugnis zu entziehen und ihn aus der Universität zu entfernen. Hinter alldem sowie hinter der Gründung eines »Kampfausschusses gegen Lessing« standen deutschnationale, völkische und antisemitisch gesinnte Kreise, die an dem verhassten Kulturkritiker, Pazifisten und Juden ein Exempel statuieren und ihn zur Strecke bringen wollten. Unterstützung fanden sie bei Lessings Professorenkollegen, die sich mit seinen Gegnern solidarisierten. Auch nach seiner Beurlaubung im Wintersemester 1925/26 ging die Kampagne weiter. Am 7. Juni 1926 drohten an die tausend Studenten mit einem Wechsel an die Technische Universität in Braunschweig. Der preußische Kultusminister C. H. Becker und Lessing vereinbarten daraufhin, dass er fortan seine Lehrtätigkeit einstellte und bei reduzierten Bezügen einer unbefristeten Beurlaubung zustimmte. Damit gehörte Lessing zu den Geistesgrößen in Deutschland, die lange vor 1933 von der universitären Lehre ausgeschlossen wurden – ein »Vorspiel« auf den »Auszug des Geistes«, der nicht erst im »Dritten Reich«, sondern schon in der Weimarer Republik begann, so Jörg Wollenberg in seinem Beitrag zu Lessings Lebenserinnerungen »Einmal und nie wieder«.

»Die verfluchte Kultur«

Lessing hielt an seiner Gegnerschaft zu den Deutschvölkischen und Nationalsozialisten fest, warnte weiter vor dem Bündnis von »Hakenkreuz und Stahlhelm« und dessen Folgen für den Frieden in Europa und auf der Welt. Dennoch ist er selbst in Hannover weithin vergessen. Selbst in dem Streit um die Hindenburgstraße und deren Umbenennung ist Lessings Name nicht einmal gefallen. Auch heute erinnert man sich nicht gern an ihn und an die Boykotthetze von 1924 bis 1926, die einst jeder in Hannover mitbekommen hat. Man tut so, als habe er nie existiert. Die Nazis hingegen vergaßen ihn nicht. Ende August 1933 reisten drei fanatisierte Deutsche nach Marienbad in die Tschechoslowakei, und einer von ihnen erschoss den dorthin emigrierten Lessing durch ein Fenster seines Arbeitszimmers.

Hans Mayer hat Lessings »Einmal und nie wieder« als seine bedeutendste Veröffentlichung bezeichnet – »als Aufschreibung seiner Jugendgeschichte und als Liebeserklärung an Hannover«. Aber der Erinnerungen sind mehr. Sie legen Zeugnis ab von dem Versuch, den Werdegang und das Schicksal eines geistigen Menschen zu deuten. Kaum jemand hat sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in deutschen Gefilden so aufrichtig und redlich wie Lessing bemüht, bei der Schilderung seines Weges nichts zu beschönigen – selbst auf die Gefahr hin, seinen Gegnern und Feinden durch das Bekennen eigener Schwächen und Peinlichkeiten in die Hände zu spielen.

Der Nationalökonom und Pazifist Oskar Stillich (1872-1945) hat errechnet, dass man aus Deutschland ein soziales Paradies hätte machen können, wäre das im Ersten Weltkrieg in die Waffenproduktion gesteckte Geld für friedliche Zwecke verwandt worden. Jeder Familie hätte ein Eigenheim gebaut werden können, dazu zahllose soziale Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Badeanstalten, Freizeitheime, Begegnungsstätten, Volkshochschulen etc.

Theodor Lessing, am 8. Februar 1872 in Hannover geboren, zog eine ähnliche Bilanz. In seiner Schrift »Die verfluchte Kultur« (1921) schreibt er über den Ersten Weltkrieg: »In runden Zahlen ausgedrückt kostete er von 1914 bis 1918 ungefähr zehn Millionen Menschen das Leben. An Geld kostete jede Sekunde seiner Dauer etwa 6.000 deutsche Silbermark. Jede Minute eine halbe Million. Jede Stunde dreißig Millionen. Mit jedem Tage seiner Dauer gingen Werte von 700 Millionen Mark für die Erde verloren. Mit der Hälfte dieser im wörtlichen Sinn verpulverten Kraft hätte man die Wüste Sahara in einen blühenden Garten verwandeln, den Atlantischen Ozean untertunneln können, hätte aufkaufen und urbar machen können halb Patagonien, Chile und Brasilien, hätte jedem deutschen Jungen ein kleines Fürstentum sichern können. Alle diese Milliarden Goldes brachte man spielend zusammen, als es galt, die Jahrhunderte geweihten Münster der Gotik, die unwiederbringlichen Schlösser des Barock in Trümmer zu schießen; als man aber jüngst bemüht war, für Deutschland das verfallende Haus zu erretten, darin Goethe geboren ward und aufwuchs, da erbettelte man mit Mühe die wenigen hundert Mark vergeblich. Sicher aber hat jener englische Staatsmann recht, welcher jüngst sprach das echt europäische Wort: Der Weltkrieg war ein Geschäft, das sich nicht bezahlt machte.«

Viel stärker jedoch als die wirtschaftlichen Folgen nahmen sich die moralischen Schäden aus. Der Glaube an den Fortschritt der Geschichte war auf den Schlachtfeldern zerrieben, Europa zum Tollhaus und »Menschenschlachthaus« (Wilhelm Lamszus) geworden, das Vertrauen in das Recht tiefgreifend erschüttert, die Hoffnung, der Geheimdiplomatie, zwischenstaatlichen Anarchie und des Rüstungswahns Herr zu werden, zunichtegemacht. Der Erste Weltkrieg war nicht nur ein Attentat auf den Frieden, sondern auch ein Attentat auf die mühsam erkämpften Errungenschaften der Zivilisation. In seinen »Satiren und Novellen« (1923) bemerkte Lessing lapidar, aber treffend: »Im August 1789 beschlossen die Menschen, Weltbürger zu werden. Im August 1914 beschlossen sie das Gegenteil.«

Text: Helmut Donat, Bilder: Eveline de Bruin auf Pixabay, Donat Verlag

Literatur

– Helmut Donat: Wider den unrühmlichen Umgang mit der Vergangenheit – Theodor Lessing und die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover, Bremen 2022.
– Theodor Lessing: Bildung ist Schönheit – Autobiographische Zeugnisse und Schriften zur Bildungsreform, Bremen 1995.
– Theodor Lessing: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, Bremen 1997.
– Theodor Lessing: Einmal und nie wieder – Lebenserinnerungen. Hrsg. von Helmut Donat unter Mitwirkung von Jörg Wollenberg, Bremen 2022.