Frankreich hat gewählt: Borne is boring
Was bedeutet der Ausgang der Parlamentswahl in Frankreich vor einer Woche für die französische Politik, und vor allem: Zeichnet sich ein Richtungswechsel in den teils inhomogenen politischen Lagern ab? Hat sich die Machtbalance geändert? Eine Analyse von Bernard Schmid.
Veränderung ja, aber nicht zu viel: Am Dienstag Vormittag kurz vor zehn Uhr reichte die erst seit dem 20. Mai amtierende Premierministerin Elisabeth Borne ihren Rücktritt ein. Umgehend wurde dieser jedoch durch Staatspräsident Emmanuel Macron abgelehnt. Weniger Wandel tut’s auch.
Borne, die als farblose Technokratin gilt und zuvor Transport-, dann Arbeitsministerin war, ist mittlerweile auch in den Reihen des Regierungslagers – das mit dem Parteienbündnis Ensemble (Gemeinsam) zu den Parlamentswahlen antrat und mit 245 von insgesamt 577 Sitzen eine relative, doch keine absolute Mehrheit mehr erhielt – umstritten. Dort gilt sie manchen als „durchsichtig“.
Aber auch an Macron selbst wird dort zunehmend Kritik laut. Hatte dieser sich doch nicht erst im Parlaments-, sondern bereits im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf rar gemacht und nur selten geäußert. Und dann, wie von mehreren Seiten aus der Opposition gehöhnt wird, „vom Flughafen aus, unter laufenden Motoren“. Macrons Beiträge zum internationalen Umgang mit der Ukraine-Krise lieferten ihm einen bequemen Vorwand, um möglichst gar keine kontroverse Debatte, an welcher er selbst hätte teilnehmen können, in der französischen Innenpolitik aufkommen zu lassen. Inhaltsleer erschien dadurch der doppelte Wahlkampf, erst vor den Präsidentschafts- und dann vor den Parlamentswahlen.
Als autoritären Neoliberalismus würde man in manchen Milieus eine solche Politik bezeichnen, die es durchaus wohlwollend in Kauf nimmt, dass möglichst breite Gesellschaftskreise sich gleich ganz aus der Politik heraushalten. War dies das Ziel, ist es teilweise, jedoch nicht vollständig aufgegangen.
Lediglich die Aufmerksamkeit, die der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon durch seine lautstarken Proklamationen, er werde eine Mehrheit im Parlament erzielen und dann als Premierminister gegen den ihm verfassungsrechtlich übergeordneten Präsidenten regieren, sorgte in den letzten Wochen für eine Belebung der Debatte. Dies mag auch manche Stimmberechtigten an die Urnen getrieben haben, wenn dieser Effekt auch begrenzt war. Das Département Seine-Saint-Denis bei Paris, das ärmste ganz Frankreichs, ist gleichzeitig dasjenige, das am stärksten für Mélenchons politische Freunde stimmte, und das mit der niedrigsten Wahlbeteiligung insgesamt.
Linkspolitiker sorgt für frischen Wind
Dennoch sorgte die Agitation des Linkspolitikers für einigen frischen Wind. Vielleicht deswegen, aber eventuell auch aufgrund meteorologischer Bedingungen und ähnlicher Faktoren fiel die Stimmbeteiligung am vorigen Sonntag zwar mit 46,23 % noch etwas niedriger aus als im ersten Wahlgang eine Woche zuvor, doch erheblich höher als im zweiten Wahlgang bei der letzten Parlamentswahl vor fünf Jahren. Damals lag die Beteiligung gar nur bei gut 42 Prozent. Doch im Juni 2017 schien es um nichts zu gehen; nach dem Ausgang der damals ebenfalls einen guten Monat vorausgehenden Präsidentschaftswahlen stand nur noch auf dem Spiel, wie breit die Unterstützung für den seinerzeit neuen Amtsinhaber Macron in der Nationalversammlung ausfallen würde. Doch herrschte ein relativ breiter Konsens darüber, dass der frisch gewählte Präsident sollte regieren können. Nicht so diesmal. Von Anfang an wollte nach der Präsidentschaftswahl eine laut Umfragen stattliche Mehrheit, dass eine konträr zu Macrons Orientierungen stehende Parlamentsmehrheit zustande komme. Nur teilte sich diese Minderheit auf zwei getrennte und nicht zusammen gehende Lager links und rechts vom Regierungsblock auf.
Die Ankündigung, Macron zur Cohabitation mit einer Linksregierung zwingen zu können, hat letztendlich nicht funktioniert. Das durch Mélenchon angeführte Bündnis NUPES (Neue soziale und ökologische Union der kleinen Leute) unter Einschluss der eigenen Wahlplattform „Das unbeugsame Frankreich“ – abgekürzt LFI -, der sozialdemokratischen, grünen und kommunistischen Partei wurde bei der Sitzverteilung nur zweitstärkste Kraft. Das Innenministerium gesteht ihm offiziell 131 Sitze zu, die Pariser Abendzeitung Le Monde in ihrer Dienstagsausgabe (Papier) dagegen 142. Diese Unklarheiten resultieren auch daraus, dass vor allem das Innenministerium künstlich Wahlergebnisse, die aus den „Überseegebieten“ wie von den französischen Antillen und La Réunion im Indischen Ozean stammen, aus dem Gesamtresultat von NUPES ausklammert, nicht jedoch bei anderen Parteien. Auf den genannten Inseln wurde sehr stark für NUPES gestimmt.
Den formalen Grund dafür bildet, dass die Wahlabsprachen zwischen den NUPES bildenden Parteien formal nur für Festlandfrankreich galten, während in den „Überseegebieten“ eigene Bündnisse gebildet wurden, zum Teil unter Einschluss sich als antikolonial verstehender Parteien wie in Französisch-Polynesien. Aber natürlich ging es dem Innenministerium darum, das Ergebnis des Oppositionsbündnisses auf der Linken herunterzurechnen. Dies hat seinen psychologischen Effekt auch nicht verfehlt: In der Wahlnacht verkündeten Prognosen auf den Fernsehbildschirmen „150 bis 170“ Sitze. Als am Montag früh dann nur noch 131 erschienen, war der subjektive Eindruck eines – relativen – Erfolgs der Linken verflogen. Schon vor dem ersten Wahlgang hatte sich das Innenministerium eine andere Kontroverse mit dem Linksbündnis geliefert: Es wollte die Ergebnisse der an ihm beteiligten Parteien nur getrennt aufschlüsseln, was Macrons Anhänger bei Ensemble hätte deutlich in Führung erscheinen lassen. Mélenchon forderte dagegen eine gemeinsame Erfassung wie bei den Mitgliedsparteien des Regierungsbündnisses. Der oberste Verwaltungsgerichtshof zwang die Regierung dann zur gemeinsamen Nennung der Mitglieder von NUPES. Dies verhindert allerdings nicht, dass es nun voraussichtlich zu keiner gemeinsamen Fraktion derselben kommt: Mélenchon fordert eine solche, doch die sozialdemokratische, grüne und parteikommunistische Führung stellen dem ihre Apparatinteressen dagegen. Die Finanzierung der einzelnen Parteien läuft über die parlamentarische Repräsentation.
Dies wird auch dafür sorgen, dass es darauf hinauslaufen könnte, NUPES trotz des höchsten Stimmenergebnisses nach Ensemble – mit 32,74 Prozent der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang, bei dem nicht alle Parteien flächendeckend vertreten waren, gegen 39 % für die Macron-Anhänger – nicht als stärkste Oppositionskraft erscheinen zu lassen. Denn kommt es auf der Linken zur getrennten Fraktionsbildung, dann wird die stärkste einzelne Oppositionsfraktion der neofaschistische Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“) mit voraussichtlich 89 Sitzen stellen. Erstmals seit 1988 und der Wiedereinführung des nur 1986 vorübergehend durch das Verhältniswahlrecht ersetzten Mehrheitswahlrechts wird die extreme Rechte damit über Fraktionsstärke verfügen. Trotz des Mehrheitswahlrechts. Bei ihrer jetzt erreichten Stärke stellt dies kein Hindernis mehr dar. In mehreren französischen Bezirken wie dem von Perpignan, welcher vier Abgeordnete stellt, holte der RN sämtliche Wahlkreise.
Der Blick geht nach rechts
Dadurch ist ein Riegel aufgesprengt, wurde das Mehrheitswahlrecht doch lange als eine Art Schutzwall gegen die extreme Rechte hingestellt. Und das Regierungslager oder Teile davon tun erkenntlich einiges dafür, dass auch weitere Riegel fallen.
Denn wenn nun künftig mit wechselnden Mehrheiten regiert werden könnte wie zuletzt von 1988 bis 1991 – damals hatten die Neofaschisten zuerst einen Sitz, nach dem Tod ihrer Abgeordneten Yann Piat null -, dann richtet sich deren Blick erkennbar nach rechts. Zwar würde ein Bündnis mit den Konservativen in Gestalt von Le Républicains (LR) genügen, um Ensemble mehrheitsfähig werden zu lassen. Doch LR sind in bekannter Weise gespalten, in einen zur extremen Rechten neigenden Flügel – dessen Vertreter Eric Ciotti erhielt im vorigen Dezember bei einer innerparteilichen Abstimmung zwischen 39 und 40 Prozent –, einen zunehmend von den Macron-Anhängern angeworbenen Mitte-Rechts-Flügel und einen Rumpf zwischen beiden. Ein Teil des Regierungslagers schlussfolgert daraus offenkundig, dass man bei einer Mehrheitsfindung zu seiner Rechten am besten gleich auf ein Kontinuum bis hin zum RN setzt, um nicht an dieser Spaltungslinie Halt machen zu müssen.
Auffällig forderte Justizminister Eric Dupont-Moretti am Wahlabend mehrfach anwesende Vertreter des RN in den Fernsehstudios dazu auf, ihre Partei solle sich nun „konstruktiv“ zeigen und den Texten sowie den Budgets für den Ausbau der Justiz zustimmen, während er Mélenchon einen Polizeifeind schimpfte. Gerne würde die extreme Rechte übrigens eine Stärkung der Justiz unterstützen, sofern es um Strafjustiz geht – sicherlich nicht um Arbeitsgerichte, erst recht nicht um erleichterte Verwaltungsgerichtsverfahren im Ausländerrecht, welche sie mitsamt den Widerspruchsrechten am liebsten kappen würde. In der Nacht zum Dienstag erklärte überdies eine Abgeordnete des Regierungslagers, Céline Calvez, man werde ab jetzt eben „die Stimmen des RN in der Nationalversammlung holen“. Dies führte zu einem vorübergehenden Aufschrei auf der Linken. In einem nicht geringen Teil der Öffentlichkeit hat es der RN hingegen geschafft, als „normal“ zu gelten. Dem autoritären Neoliberalismus passt dies wiederum grundsätzlich ins Kalkül – auch wenn die von Ensemble und LR gewünschte und geforderte Anhebung des Rentenalters auf 65 derzeit am RN ebenso wie an NUPES scheitern würde.
Text: Bernard Schmid, Foto: Jean-Luc Mélenchon, Wikipedia, This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license.
Was in unserem Nachbarland vorgeht, sollte auch uns aufmerken lassen: „“Ya mon grand père par terre!!!“
Ich habe noch nie so etwas Gewalttätiges auf einer Demonstration gesehen. Auf Frauen und Männer einschlagen, die am Boden liegen und mit erhobenen Armen um Hilfe flehen.
Was für eine Stufe der Barbarei. Diese Typen sind Barbaren.
Die Polizei wird am Ende jemanden umbringen.“
https://twitter.com/jdicajdisrien/status/1638951074131238912
(Übersetzt mit deepl)
„Völlig unfassbarer Einsatz. Die französische Polizei nimmt da Todesfälle bewusst in Kauf, bzw. ist das fast zu wohlwollend ausgedrückt. Wäre das in Moskau oder Peking, würde da ganz anders drüber berichtet.“
https://twitter.com/RoPoppZurich/status/1639530441819471872
Die Linke? 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind gegen das Gesetz, 70 Prozent aller dafür, den Streik fortzusetzen.
Sie begehren übrigens auch deswegen auf, weil Macron ohne das demokratische Parlamentsvotum sein Gesetz durchpeitscht. Insofern: Es ist alles ganz anders.
https://twitter.com/AnnikaJoeres/status/1639522345780912128