Zerstörung als „faktische Antwort“ auf das Angebot von Kiew (1/2)
Gernot Erler saß jahrzehntelang für die SPD im Bundestag und profilierte sich als Außen- und Sicherheitspolitiker und als Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Im Interview mit Wolfgang Storz spricht er über die Logik des aktuellen Krieges.
Teil 1
Storz: Zu Beginn eine Spekulation. USA und EU schlagen Ukraine und Russland vor: Sofortiger Waffenstillstand, alles bleibt an Ort und Stelle, keine weiteren Bedingungen, Überwachung der Waffenruhe durch die UNO, dann Beginn von Friedensverhandlungen mit dem Ziel der Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Einfach diese Spekulation, weil hunderttausende BürgerInnen, angeführt von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht, dies in diesen Wochen fordern. Würden Sie als ehemaliger SPD-Außenpolitiker und einer der erfahrensten Russland-Kenner in Deutschland, der Ukraine raten, darauf einzugehen?
Erler: Das ist keine Spekulation, sondern eine Wunschvorstellung. Sie scheitert daran, dass beide Seiten weiterhin auf einen militärischen Erfolg setzen. Putin und Selenskyj sehen sich in einem Mikado-Spiel: Wer zuerst wackelt, hat verloren.
Storz: Trotzdem die Nachfrage: Putin gilt ja im Westen als der unbeirrbare Kriegstreiber, an dem bis heute jegliche Verhandlungen scheitern. Vielleicht ist es und er doch anders, vielleicht ginge er auf eine solche Initiative doch ein. Wäre sie also nicht doch einen Versuch wert?
Erler: Bei den vielen russischen Verlusten kann Putin nicht nach Hause kommen mit einem Waffenstillstand und der Fortschreibung des Status quo.
Tägliche Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur sollen das Land zur Kapitulation zwingen
Storz: Initiativen wie die von Wagenknecht und Schwarzer reüssieren in der deutschen Bevölkerung vor allem mit der Behauptung, es werde alles getan, um der Ukraine Waffen zu liefern, es werde jedoch nichts oder viel zu wenig getan, um via Diplomatie einen Waffenstillstand zu erreichen. Garniert und geschürt wird dieses Misstrauen mit vielen Erzählungen, vor allem verbreitet von Sarah Wagenknecht, es habe letztlich beinahe erfolgreiche Geheimverhandlungen mit der Ukraine und Russland gegeben, unter anderem von einem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten, die jedoch in der Schlussrunde vor allem von der britischen Regierung von Boris Johnson und der US-Regierung torpediert worden seien. Haben Sie ein eigenes Bild von diesen oder etwa noch anderen Geheim-Verhandlungen, über die unter anderem die angesehene US-Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ berichtet hatte?
Erler: Heute knüpfen Putin wie Selenskyj ihre Verhandlungsbereitschaft an Vorbedingungen, die einer Kapitulation der anderen Seite gleichkommen. In keinem der Aufrufe und Manifeste findet sich ein Vorschlag, wie man aus dieser Situation herauskommt.
Storz: Der Vernichtungskrieg von Putin-Russland gegen die und in der Ukraine hat sich eben gejährt. Gab es in dieser Zeit eine Gelegenheit, bei der Sie aufmerkten und sagten: Das wäre eine Gelegenheit, um in Verhandlungen einzusteigen, die darf nicht verpasst werden?
Erler: Es gab die erfolgreichen Verhandlungen über den Getreideexport. Warum fühlte sich niemand ermutigt, an diesem Erfolg anzuknüpfen und die Gesprächsthemen zu erweitern?
Storz: Ein beobachtender Laie, der sich nur von den allgemeinen Medienberichten nährt, fragt sich schon: Warum gibt es denn in diesen langen Kriegsmonaten nie eine energische Initiative von USA, EU und China, um einen Waffenstillstand durchzusetzen?
Erler: Ich wiederhole – solange beide Seiten auf den militärischen Erfolg setzen, kann keine Initiative von außen Erfolg haben.
Bei den Verlusten kann Putin nicht mit einem Waffenstillstand und der Fortschreibung des Status quo nach Hause kommen
Storz: Ist die jüngste Friedensinitiative von China ein erster Aufschlag? Oder nicht mehr als ein Propaganda-Trick?
Erler: Die chinesische Initiative ist zu begrüßen. Man darf weiterhin China, das sich als Weltmacht sieht, nicht aus der Verantwortung lassen. Nach wie vor sieht China die Schuld für den Krieg eher bei den USA als bei Russland.
Storz: Zur Erinnerung: Im März 2022 bot Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj die Neutralität als Kompromiss an, also den Verzicht auf eine ursprünglich angestrebte NATO-Mitgliedschaft. Zudem war er bereit, die Frage der Krim und der besetzten Gebiete des Donbass auf 15 Jahre einzufrieren, um in dieser Zeit eine diplomatische Lösung zu finden. Steht dieses Angebot denn noch? Auf dieser Basis müsste doch mindestens ein Waffenstillstand erreicht werden können.
Erler: Seit März 2022 hat sich vieles verändert. Russland hat zahlreiche Städte und Dörfer verwüstet oder sogar unbewohnbar gemacht. Tägliche Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur sollen das Land zur Kapitulation zwingen. Vier Gebiete wurden annektiert. Faktisch war das die Antwort auf Kiews damaliges Angebot.
Storz: In politischen Kreisen, die den Waffenlieferungen kritisch bis grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, wird häufig dieses Bild vertreten: Die Ukraine ist im Kern unverändert korrupt, Rechtsradikale haben großen Einfluss auf die Politik, und der demokratische Maidan-Aufstand von 2013/14 ist letztlich ein vor allem von den USA finanzierter Umsturz zu Lasten von Putin-Russland gewesen — quasi von Demokratie keine Spur. Welches Bild haben Sie von der Ukraine?
Erler: Die Ukraine kämpft ums Überleben. Das ist ihr Recht, unabhängig von den bekannten Defiziten in ihrer politischen Kultur. Letztere werden aber an anderer Stelle eine wichtige Rolle spielen: Bei den Bemühungen des Landes um einen EU-Beitritt.
Das Gespräch führte Wolfgang Storz. Dieser Text erschien zuvor bei „bruchstücke. Blog für konstruktive Radikalität“. Bild: spdfraktion.de (Susie Knoll/Florian Jänicke).