Zerstörung als „faktische Antwort“ auf das Angebot von Kiew (2/2)

Gernot Erler spricht im zweiten Teil des Interviews über die Lage in Russland, das Bedrohungsgefühl weiterer Länder angesichts des russischen Angriffs und vage Friedenshoffnungen.

Teil 2, Teil 1 lesen Sie hier.

Storz: Wie sehen Sie heute Russland: eine Diktatur, eine Autokratie, eine imperialistische Diktatur, ein ideologiefreier Mafia-Staat?

Erler: Russland ist auf dem Weg zurück in eine „Selbstherrschaft“, also in eine Autokratie, wie wir sie aus der Zarenzeit kennen, aber eine mit Weltmachtansprüchen.

Storz: Woher kommt, nach einem Jahr eines erschütternden und zermürbenden Vernichtungskrieges, der Widerstandswille des ukrainischen Volkes? Denn ohne den nützten alle Waffenlieferungen nichts. Und wie überraschend war und ist der für die professionellen westlichen politischen Apparate?

Erler: Dieser Freiheitswille ist bewundernswert. Die Ukrainer wissen, was ihnen bei einem russischen Sieg bevorsteht. Ich glaube, am meisten überrascht war der Kreml.

Die Ukraine kämpft um ihren Weiterbestand als souveräner Staat, also ums Überleben

Storz: Worin besteht nach Ihren Kenntnissen das Kriegsziel von Putin-Russland? Und hat sich daran in den letzten Monaten etwas geändert?

Erler: Hören wir auf das, was Putin gesagt hat. Er bestreitet die Existenz der Ukraine und spricht ihr folgerichtig jedes Existenzrecht ab. Taktische Rückzüge, von der Ukraine militärisch erzwungen, ändern daran nichts.

Storz: Offizielle Stellen in Norwegen signalisieren, das Land fühle sich bedroht, Russland sei als „unberechenbar“ einzuschätzen. Zudem gibt es Gerüchte, Russland wolle die westlich ausgerichtete Regierung von Moldau stürzen. Stehen wir vor einer weiteren Eskalation des Krieges von Seiten Putin-Russlands?

Erler: Ich kann die Sorgen nachvollziehen, die sich in der gesamten Region östlich der EU ausbreiten. Wer sich tatsächlich wie der russische Präsident über die Gebote der „Europäischen Friedensordnung“ und die wichtigsten internationalen Regeln hinwegsetzt, muss als „unberechenbar“ gelten. Putin hat selbst mit dem Einsatz von Waffen extremer Zerstörungskraft gedroht, die bisher noch nicht zur Anwendung gekommen sind. Eine Atommacht verfügt außerdem immer über Eskalationsoptionen.

Putin bestreitet die Existenz der Ukraine und spricht ihr folgerichtig jedes Existenzrecht ab

Storz: Wie bewerten Sie nach einem Jahr das Instrument der Wirtschaftssanktionen? Schwächen diese die russische Wirtschaft und Kriegswirtschaft? Das wird im Westen von vielen bezweifelt. Ein Beispiel: Jüngst wurde auch der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt, dass Österreich unverändert 80 Prozent seines Gases von Gazprom bezieht.

Erler: Die zehn bisherigen Sanktionspakete werden aufgrund von Gegenmaßnahmen in ihrer Wirkung abgeschwächt und zum Teil auch umgangen. Mit Sanktionen kurzfristig den Krieg für Putin unbezahlbar zu machen, ist Illusion. Aber die meisten Ökonomen rechnen mittelfristig mit einer Schwächung der russischen Volkswirtschaft.

Storz: Gibt es nach einem Jahr eines aus der Perspektive von Putin-Russland komplett misslungenen, jedoch noch längst nicht gescheiterten Krieges Hinweise, dass Putins Machtbasis bröckelt oder geschmälert ist?

Erler: Nein. Nach der Verfolgung und Ausschaltung jeglicher Opposition hat Putin nichts zu befürchten. Das würde sich bei einer militärischen Niederlage aber ändern, wenn sich die Schuld und Verantwortung dafür nicht mehr allein auf die militärische Führung abschieben lässt.

Storz: Wenn Sie die Logik des Denkens und Handelns von Putin und seines Apparates analysieren: Wie wird er vermutlich weiter agieren, was werden seine nächsten Schritte sein?

Erler: Logisch wäre für ihn, alles auf einen militärischen Erfolg zu setzen und dabei den Einsatz der Mittel zu erhöhen.

Nach der Verfolgung und Ausschaltung jeglicher Opposition hat Putin nichts zu befürchten

Storz: Wie definieren Sie, Stand heute, das Kriegsziel der Ukraine? Deckt sich das mit dem Ziel des Westens? Und: Gibt es ein klar erkennbares Kriegsziel der Bundesregierung?

Erler: Ich wiederhole: Die Ukraine kämpft um ihren Weiterbestand als souveräner Staat, also ums Überleben. Der Westen und die Bundesregierung unterstützen die Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch bei diesem Überlebenskampf. Russland hat sich mit dem Überfall auf das Nachbarland einem Risiko ausgesetzt, das größer als erwartet ausfällt. Die Verantwortung dafür trägt nicht der Westen, sondern allein der russische Präsident.

Storz: Ist das das eigentliche Kriegsziel des Westens: mit der Ukraine als ebenso nützlichem wie verratenem Idioten materiell und militärisch Russland möglichst stark zu schaden?

Erler: Nein.

Storz: Sie sprachen von einem Mikado-Spiel, davon, dass beide Seiten auf militärische Erfolge setzen, dass es aber mit Getreideabkommen und China-Initiative sinnvolle Ansätze gebe, die aufzugreifen und auszubauen seien. Wer hat — nach Ihrer Erfahrung in Sachen internationaler Verhandlungen und Konfliktmanagement — heute die Autorität und die Pflicht, diese Aufgabe des positiven Aufgreifens und Ausbauens zu übernehmen?

Erler: Die Augen richten sich notgedrungen auf Vermittler, die von beiden Seiten respektiert werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist hier an erster Stelle zu nennen. Andere Politiker haben sich angeboten. Wenn beide Seiten bereit sind, die Kriegslogik hinter sich zu lassen, wird es an der Vermittlung nicht scheitern.

Das Interview führte Wolfgang Storz. Dieser Text erschien zuvor bei „bruchstücke. Blog für konstruktive Radikalität“. Bild: Archiv/privat.