Stanisław Dygat’s „Bodensee“ nun in deutscher Sprache
Der Roman „Bodensee“ von Stanisław Dygat (1914-1978) hat einen kuriosen Ruf. Man wusste schon lange, dass dieses literarische Debüt des polnischen Schriftstellers bereits während des Krieges geschrieben und dass in ihm von der Zeit seiner Internierung in Konstanz 1940 erzählt wurde. Unser Autor hat sich über das Buch hergemacht, das endlich als deutschsprachige Ausgabe vorliegt, übersetzt aus dem Französischen von Wolfgang Hartung-Gorre.
Dygats Roman erschien zunächst in französischer Übersetzung unter dem Titel „Le Lac de Constance“ 1946 in Paris (aus dem Polnischen übersetzt von Dygats Vater Antoine Dygat), dann in Polen unter dem Titel „Jezioro Bodeńskie“ (erste Auflage 1946, zweite Auflage 1955). 1986 wurde der Roman von Janusz Zaorski in Polen auch verfilmt.
Wenn man von Internierung hört und weiß, dass der Autor selbst in der Zeit vom 29.6.1940 bis zum September 1940 im Petershauser Schulhaus interniert war, und man alle Gräuel erinnert, deren Deutsche zu der Zeit fähig waren, beginnt man die Lektüre voreingenommen.
Tatsächlich waren die Verhältnisse in dem als Internierungslager genutzten Schulhaus relativ anständig: die knapp 300 dort festgehaltenen französischen, britischen und polnischen Staatsbürger aus Deutschland und dem von der deutschen Wehrmacht bereits eroberten Polen waren offenbar zu dem Zweck verhaftet worden, um sie gegen deutsche Soldaten in alliierter Kriegsgefangenschaft austauschen zu können.
Als man dieses Vorhaben im Herbst 1940 aufgab, wurden die Festgehaltenen wieder entlassen, darunter vorzeitig auch Dygat und seine Frau. Die Schule war seit ihrem Bau 1909 schon zuvor und auch danach zu diversen anderen Zwecken genutzt worden als zum Unterricht, wie Arnulf Moser in seinem informativen Anhang mitteilt.
Die Internierten wurden ordentlich verpflegt, durften Post und Pakete empfangen, sie wurden von einem deutschen Arzt betreut, sogar ein Gottesdienst in französischer Sprache wurde regelmäßig abgehalten und die Bewachung war nicht besonders streng. Offenbar bestand keine Fluchtgefahr.
Man durfte in Begleitung eines Polizisten Besorgungen in der Stadt machen. Der Ich-Erzähler berichtet im Roman auch von einem Ausflug.
Zwar ist am Beginn und am Ende des Roman die Rede davon, dass Krieg herrscht – der erste Satz des Romans heißt: „Der Krieg brach aus, und ich wurde gleich in Gefangenschaft gesetzt“ (S. 17), und zur Bekräftigung wird er als letzter Satz noch einmal wiederholt (S. 259), aber von dem, was der Krieg für Europa und schließlich die Welt bedeutete, dringt kaum ein Echo bis ins Petershauser Schulhaus. Jedenfalls macht sich der junge Ich-Erzähler weder Gedanken darüber noch zieht er Erkundigungen ein. Auch über sein unmittelbares Umfeld informiert er sich nicht, sondern berichtet darüber, dass sich die Internierten fragen, welchen Sinn der Turm habe, den man in Westen sehen kann, ob es ein Wasserturm oder ein Denkmal für Hindenburg sei (S. 29). Es handelt sich um den als Denkmal 1912 errichteten Bismarckturm.
Der Autor ist auch der Ansicht, dass man über 10 Kilometer durch ein Gewässer schwimmen müsse, um die Schweiz zu erreichen. Dabei war er mit einem Soldaten schon in der Konstanzer Altstadt unterwegs gewesen. Der Krieg war für den Erzähler am beschaulichen Bodensee nur Kulisse, wie Hans-Christian Trepte im Vorwort richtig feststellt.
Den Ich-Erzähler plagen banalere Probleme, in erster Linie die Langeweile, die Monotonie des Tagesablaufs, das Fehlen jeder Verpflichtung. Hauptthemen das Alltags sind kleinliche Streitereien, Annäherungen an mehr oder weniger interessante, blasierte oder bornierte Frauen, gelegentliche Konzerte und am Ende ein misslingender Vortrag, oberflächliche Gespräche, angeregt durch Lektüren philosophischer Texte und romantischer polnischer Bücher, das ist aber nie in die Tiefe gehend, sondern es bleibt auf der Ebene von Small Talk. Die Personen werden deshalb nicht plastisch, weil sie aus konsequent begrenzter Ich-Perspekive des Erzählers wahrgenommen werden, manchmal nur aus dem Augenwinkel, oft mit ironischen, manchmal zynischen Kommentaren.
Das ist ein Tonfall, wie er ganz in die vierziger Jahre passt, in der symbolistische, nihilistische, existenzialistische Moden und Attitüden sich ausbreiteten. Nach dem Erscheinen seines Buches wurde Dygat vor allem auf die Prägung durch die zeitgenössische amerikanische Prosa Ernest Hemingways hingewiesen. Der Umgang mit erotischen Attraktionen und Abstoßungen erinnert auch an die Art, wie nach dem Krieg in der französischen Literatur und im französischen Film die Leere des Daseins und die Flüchtigkeit erotischer Beziehungen dargestellt wurden (beispielsweise im surrealistischen Theater oder in Francoise Sagans Roman „Bonjour tristesse“ 1954).
Eine Handlung hat der Roman nicht, alle Kapitel schildern zufällige Szenen, Begegnungen, Beobachtungen in dem Klassenzimmer, in dem der Erzähler mit acht anderen Männern untergebracht ist, auf den Fluren, in den Treppenhäusern, der Mensa oder der Kapelle des Schulhauses und zweimal draußen in der Stadt – einmal real und einmal im Traum.
An einer Stelle verrät der Erzähler selbst seine Haltung: „Mehrere Kapitel, die hier ihren Platz hätten einnehmen sollen, sind verlegt worden. Ich kann sie nicht mehr auftreiben und habe keine Lust, sie neu zu schreiben! Nach reiflicher Überlegung bin ich sogar zu der Überzeugung gelangt, dass eine solche Lücke einen subtilen Grund haben könnte. Was zählt schon der Bericht über ein paar Tage angesichts der grenzenlosen Langeweile in dieser Gefangenschaft!“ (S. 160).
Die weibliche Projektionsfläche, mit der sich der Erzähler am meisten beschäftigt, ist Suzanne, die vermutlich nicht zufällig Arthur Schopenhauer liest, der sich mit dem Phänomen der Langeweile beschäftigt hat. Die andere Gesprächspartnerin Jeanne spielt Klavier, als Polin und/oder Französin natürlich Chopin, aber eben auch Schuberts „Gretchen am Spinnrade“ nach dem Text des verzweifelt wartenden Gretchens aus Goethes „Faust“. Der „Ennui“ ist ein weit verbreitetes Motiv in der existenzialistischen französischen Kultur jenes Jahrzehnts. Und polnische Intellektuelle waren auch davon infiziert.
Ein heikles Problem bei einem Roman, der sich mit dem Phänomen Langeweile befasst, besteht natürlich darin, ob er bei der Lektüre den Leser langweilen darf. Zumindest partiell muss er das wohl, um glaubhaft zu vermitteln, in welcher Sphäre der Held und Erzähler gefangen ist.
Allerdings müsste dafür das Buch eine andere Qualität aufweisen, die zumindest der deutschen Übersetzung von Dygats Roman „Bodensee“ abgeht, das wären Leichtigkeit, ein impressionistischer „Sound“, ein plaudernder Tonfall. Der Übersetzung merkt man an, dass sie über zwei Stufen zu uns LeserInnen herüber stolpert. Da wurde ein vermutlich leichtfüßiges polnisches Manuskript nicht vom Autor selbst ins Französische und von einem fleißigen, aber nicht poetischen Übersetzer ins Deutsche herübergebracht, das ist brav, aber oft uninspiriert.
Alles in allem ist es dennoch zu begrüßen, dass es den Roman „Bodensee“ nun auf deutsch zu lesen gibt und wir LeserInnen am Bodensee nachlesen können, dass der Roman eigentlich kein Bodensee-Buch ist.
Text: Oswald Burger
Bilder: Wolfgang Hartung-Gorre
Stanisław Dygat: Bodensee. Roman über den polnisch-englisch-französischen Mikrokosmos während der Internierung in Konstanz 1940. Aus dem Französischen von Wolfgang Hartung-Gorre. Mit erläuterndem Vorwort und Nachwort von Hans-Christian Trepte und Arnulf Moser.
276 Seiten
Hartung-Gorre Verlag Konstanz 2022
24,80 €