Antifaschistische Grenzgänge
Vor über einer Woche wurde für Ernst Bärtschi in Kreuzlingen ein ‚Stolperstein‘ verlegt – erstmals in der Schweiz. Mehrfach hat seemoz über diesen mutigen Mann, den Schweizer Fluchthelfer, und seine Geschichte berichtet. Und erst dann fiel uns auf und ein, dass im „Nebelhorn“ schon 1983 ein lesenswerter Artikel – vier Wochen vor Bärtschis Tod – zu lesen war. Stefan Keller, heute angesehener Journalist in der Schweiz und Programmleiter des literarischen Bodmanhauses in Gottlieben, war vor 30 Jahren der Autor – die aktuellen Fotos machte Wolfram Mikuteit
Antifaschistische Grenzgänge
aus: Nebelhorn Nr. 30, November 1983, von Stefan Keller
Am 12. Oktober 1938 wurde in Berlin der Schweizer Aluminiumarbeiter Ernst Bärtschi zusammen mit den deutschen Schreinern Karl Durst und Andreas Fleig vor den nationalsozialistischen Volksgerichtshof gestellt. Sie hatten Flüchtlinge in die Schweiz gerettet, SPD- und Gewerkschaftsschriften nach Deutschland gebracht und dem Aufbau einer illegalen Organisation Vorschub geleistet.
Bärtschi wurde zu 13 Jahren schwerem Kerker in Einzelhaft verurteilt. Ernst Bärtschi lebt heute wieder in Kreuzlingen, achtzigjährig, halb vergessen. Er hat ein böses Magenleiden, sozial geht es ihm und seiner Frau schlecht.
Bärtschis „hochverräterische“ Laufbahn, wie sie der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in der Anklageschrift zu rekonstruieren versuchte, beginnt im Frühjahr 1933:,,Alsbald nach der nationalsozialistischen Revolution wanderten unter anderen der Gewerkschaftssekretär im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund Anton Döring und die Gewerkschaftssekretäre im Deutschen Metallarbeiterverband August Faatz und Ottomar Schmitt aus Frankfurt a.M. nach der Schweiz aus, wo sie zunächst in der Gastwirtschaft „zum Grünen Hof“ in Kreuzlingen Unterschlupf fanden, (…). Im April oder Mai 1933 erschien auch der Parteisekretär der SPD Ernst Schöttle aus Stuttgart in Kreuzlingen.“
Den „Grünen Hof“ betreibt zu jener Zeit Heinrich Abegg, ein engagierter Sozialdemokrat, einst Mitbegründer der „Thurgauer Arbeiterzeitung“, welcher den Emigranten, bis sie im November 1933 von der Fremdenpolizei nach St. Gallen übersiedelt werden, Privatquartiere besorgt: ,,Die Eltern des Angeschuldigten Bärtschi nahmen Döring und Schmitt auf; in dem benachbarten Hause des Angeschuldigten Fleig fand Faatz Wohnung.“
Andreas Fleig ist ein seit Jahrzehnten in der Schweiz niedergelassener, fünfzigjähriger Deutscher. Auch Ernst Bärtschi hat seine Jugend in Deutschland verbracht. Der Vater arbeitete als Schuhmacher in Tuttlingen, war Aktivist im Streik von 1918 und – keiner habe um seine Nationalität gewusst — Stadtverordneter der SPD. 1920 ist die Familie nach Kreuzlingen gezogen.
„Die Angeschuldigten Bärtschi und Fleig lernten durch den ständigen Umgang mit den Emigranten bald deren gegen den Nationalsozialismus gerichtete Einstellung kennen. Diese erzählten selbst, dass sie unversöhnliche Gegner des Dritten Reiches seien, sich in marxistischen Organisationen an führender Stelle betätigt hätten und sich mit den neuen Verhältnissen in Deutschland nicht abfinden könnten. (…) Schon nach kurzer Anwesenheit in der Schweiz sprachen sie von der Absicht, illegale Gewerkschaftsorganisationen in Deutschland aufzuziehen. (…) Sie setzten sich (…) mit marxistischen Spitzenfunktionären in Verbindung, so mit dem französischen Gewerkschaftssekretär Grumbach, mit dem Leiter des Transportarbeiterverbandes in Holland, Edo Fimmen, und wohl auch mit dem ehemaligen Vorsitzenden der SPD, Wels, der sich damals in Prag aufhielt.“
Er habe, erzählt Bärtschi, bei den Verhören später möglichst immer nur das gestanden, was der GESTAPO sichtlich schon bekannt gewesen sei, ansonsten gerne den naiven Eidgenossen gespielt. Über seine Zeit in Tuttlingen beispielsweise, hätten die nie etwas herausgefunden und auch von seinen Taten nur einen Teil entdeckt. In Wirklichkeit habe er, als Arbeitsloser, bereits im März 1933 damit angefangen, Leute herüberzuholen.
Auf beiden Seiten der Grenze werden Anlaufstellen geschaffen mit weitreichenden Verbindungen durchs Land. In Konstanz etwa bei Karl Durst, einem ehemaligen Stadtrat. In Kreuzlingen bei Fleig. Zur Fluchthilfe macht sich Bärtschi meistens allein auf den Weg, einen zweiten, ausgefüllten Tagespassierschein in der Tasche. Die ganze Familie habe jeweils solche Scheine gelöst und dem Ernst abgegeben, berichtet seine Schwester.
„Keine Ahnung, wieviele Menschen auf solche oder ähnliche Art dem faschistischen Terror entkamen.“
Gute Beziehungen zum Zoll, er deklariert in der Regel Schokolade und Zigaretten, vor verschärften Kontrollen wird er wiederholt gewarnt. Die Flüchtlinge weist er an, möglichst wenig zu reden. Lässt sie außerdem Watte in die Nase stopfen, um eine Erkältung vorzutäuschen und die Sprache zu verstecken. Neben Emigranten, von denen er aus Sicherheitsgründen oft weder Herkunft noch Name weiß (und umgekehrt), ermöglicht er auf diese Weise auch zahlreichen Widerstandskämpfern, das Land zu Besprechungen mit Exilierten zu verlassen.
In anderen Fällen benützt Bärtschi die Route über den See: „Im Mai 1936 war die hochverräterische Betätigung des Paul Nusch in Offenbach entdeckt worden. Nusch, gewarnt durch einige Festnahmen, wandte sich an Döring wegen seiner Verbringung nach der Schweiz, Döring unterrichtete Fleig (…) und dieser setzte Durst davon in Kenntnis, dass demnächst ein Mann mit dem Stichwort: „Können Sie mir 10 RM wechseln?“ bei ihm anlaufen werde und über die Grenze gebracht werden müsse. Durst verständigte seine Ehefrau für den Fall seiner Abwesenheit. Bei ihr sprach dann auch Nusch vor, und sie meldete dessen Ankunft dem Fleig. Da zu dieser Zeit infolge verschärfter Grenzkontrollen keine Möglichkeit bestand, Nusch mit einem falschen Grenzausweis in die Schweiz zu bringen, erklärte sich Bärtschi bereit, ihn mit seinem Zweisitzer-Paddelboot über den Bodensee zu fahren. Frau Durst geleitete Nusch dann nach dem Konstanzer Horn, von wo aus ihn Bärtschi nach Kreuzungen fuhr. (…) Etwa drei Wochen später rief die Ehefrau Nusch bei Frau Durst an. Auf Bitten des Angeschuldigten Fleig beförderte Bärtschi sie gleichfalls im Paddelboot vom Konstanzer Horn nach Kreuzlingen.“
Während einer der Fahrten, sagt Bärtschi, sei ihnen auf dem Rückweg das deutsche Zollboot begegnet; er habe stramm gegrüßt, die hätten ebenfalls salutiert und sich nicht weiter um ihn gekümmert. Etwas Kaltschnäuzigkeit oder Schauspielkunst sei in der Sache halt schon vonnöten gewesen, was ihm persönlich wohl ganz gut liege.
Ihr wahrscheinlich prominentester Klient wird der Fluchthelfergruppe im Dezember 1936 wieder durch die Verbindungsleute in St. Gallen angekündigt. Der ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete Johann Unterleitner befinde sich in Gefahr und wolle mit seiner Familie auswandern. Auch in dieser Angelegenheit ermittelte später der Oberreichsanwalt minutiös.
Keine Ahnung, wieviele Menschen auf solche oder ähnliche Art dem faschistischen Terror entkamen, und wohin es sie weiter verschlug. Die meisten, entsinnt sich Bärtschi, hätten nach Amerika gewollt. Im Thurgau konnten sie sicher nicht bleiben, hier rühmte sich der Polizeichef 1939, „dass bei ihm kein einziger Emigrant sei, weil er alle rechtzeitig hinausschmiss.“ („Thurgauer AZ, 5.9.39).
Doch in der Anklageschrift 1938 galt die Unterstützung „strafrechtlich verfolgter Gesinnungsgenossen“ beim Grenzübertritt nur als eines von verschiedenen „Verbrechen“. Den drei Männern wurde vorgeworfen, „seit dem Sommer 1933 bis zu ihrer Festnahme fortgesetzt und gemeinschaftlich miteinander und mit anderen das hochverräterische Unternehmen, die Verfassung des Reichs mit Gewalt zu ändern, vorbereitet zu haben, wobei die Tat
1) darauf gerichtet war, zur Vorbereitung des Hochverrats einen organisatorischen Zusammenhalt herzustellen oder aufrechtzuerhalten,
2) auf Beeinflussung der Massen durch Verbreitung von Schriften gerichtet war,
3) im Ausland und dadurch begangen worden ist, dass die Angeschuldigten es unternommen haben, Schriften zum Zwecke der Verbreitung im Inland aus dem Ausland einzuführen (…)“
Im Auftrag Dörings reist Bärtschi häufig nach Frankfurt mit Koffern voller Flugblätter, die er manchmal eigenhändig in Wohnsiedlungen verteilt. Mit Zeitschriftenpacken oder mit Filmnegativen der Druckvorlagen. Auf der ersten Reise habe er in Frankfurt sogar Geld abheben können von einem unentdeckten Gewerkschaftskonto. Im Zug spricht er Leute an, verschenkt Zigaretten, Schokolade, gibt sich als nazibegeisterter Tourist aus, lässt erzählen. Einmal habe er Flak-Geschütze fotografiert, das sei dann über Kanäle an den französischen Sicherheitsdienst gegangen, gottseidank nie aufgeflogen. Während Bärtschi die Verbindung nach Frankfurt besorgt, versieht Karl Durst jene nach Schwenningen und Mannheim. Bei Fleig laufen Material und Anweisungen ein. Noch viele andere Leute sind in diese Aktionen verwickelt; die Anklageschrift nannte aus Konstanz etwa Pauline Gutjahr, welche schon 1936 zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wird, aus Kreuzlingen den Sohn Fleigs und einen Alfred Munz.
Am 8. Mai 1938 werden Bärtschi und Fleig verhaftet. Ein gewerkschaftlicher Verbindungsmann aus Frankfurt hat sich angemeldet. Als die beiden — ausgerechnet jetzt zu zweit — ihn am Treffpunkt vor der Konstanzer Post abholen wollen, steht er da gefesselt zwischen zwei Zivilpolizisten. Er versucht noch mit Verrenkungen auf seine Hand- und Fußschellen aufmerksam zu machen, Fleig winkt hinüber… Am 10. Mai folgt die Festnahme Karl Dursts.
Abgeurteilt von der 2. Kammer des Volksgerichtshofes wird Ernst Bärtschi nach Ludwigsburg gebracht. Die offizielle Schweiz rührt keinen Finger für ihn. Zwangsarbeit bei der Firma Bosch am Tag, nachts in Einzelhaft, fast immer in Ketten und je länger, je weniger zu essen. Gelegentlich ein zensierter Brief: „Mir geht es gut, leider bin ich nur noch 48 Kilo schwer.“ Im Kontakt mit freien Arbeitern seien auch Kassiber möglich gewesen. Später die Bombardierungen, Brandbombenflüssigkeit, die am Zellenfenster heruntertropft, Gestank verwesender Leichen unter Trümmern im Frühjahr.
Im April 1945 wird Bärtschi deportiert – Richtung Dachau in kalten Viehwagen und ohne Schuhe zu Fuß, auf eiternden Füßen, unter Fliegerangriffen. Vor Aichach, nahe Augsburg, begegnen sie endlich den amerikanischen Befreiern. Man transportiert ihn nach Strassburg in ein Sammellager. Ihm eilts nicht mit der Heimkehr, er macht den Umweg über Paris, beeindruckt von all der Freundlichkeit, der Rücksichtnahme, die sie in Frankreich seiner Geschichte entgegenbringen. Pfingsten 1945 trifft er in Basel ein, wird ärztlich untersucht und ins Sanatorium gesteckt, ein Verfahren wegen Desertion wird fallengelassen.
1950 hob das Amtsgericht Thiergarten, Berlin NW 40, die Verurteilung Ernst Bärtschis auf. Für die sieben abgesessenen Jahre wurden ihm schließlich 35 000 Mark Entschädigung zuerkannt, berechnet als Stundenlohn der Arbeit bei Bosch. Er war längst nach Kreuzlingen zurückgekehrt, hatte wieder in der Aluminiumfabrik angefangen. Von Parteifreunden war er nach großem Empfang enttäuscht worden, man hatte ihm bedeutet, er möge jetzt bloß nichts Besonderes erwarten, es habe ihn wirklich niemand gezwungen, diese Sachen zu machen seinerzeit.
Ernst Bärtschi verschwand in den Kanton Solothurn und ließ sich zwanzig Jahre nicht blicken.
Autor: Stefan Keller