Das wahnsinnige Konzept der nuklearen Abschreckung (II)

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, will die deutsche Bundesregierung bis zu 35 atomwaffenfähige Tarnkappenflugzeuge des Typs F-35 vom US-amerikanischen Hersteller Lockheed Martin kaufen. Der Kampfjet fliegt mit bis zu 1,6-facher Schallgeschwindigkeit und ist atomwaffenfähig – so soll die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands weiterhin sichergestellt werden. Am 25. Juni fand auf dem Konstanzer Münsterplatz eine beeindruckende Kundgebung gegen dieses brandgefährliche Vorhaben statt, wie seemoz u. a. hier berichtete.

Nachfolgend veröffentlichen wir den zweiten Teil der Rede von Friedenaktivist Maik Schluroff, die er auf der Kundgebung hielt.

Ein „Atomkrieg aus Versehen“ ist eine reale Gefahr

In den Diskussionen über Rüstung oder Friedenssicherung durch militärische Stärke wird kaum die Gefahr eines „Atomkriegs aus Versehen“ berücksichtigt, also die Auslösung eines Atomkriegs durch technische Fehler oder  Fehlalarme. Mindestens 46-mal gab es in der Vergangenheit schwere Unfälle mit Atomwaffen.12 So verloren etwa Atombomber schon mehrfach Wasserstoffbomben, die nicht wieder gefunden werden konnten.13 Aber schlimmer noch: Die Welt ist schon mehrfach nur durch Zufall an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt.14 Es seien nur einige Beispiele aufgeführt, drei für technische Fehler und drei für Entscheidungsfehler:

1. Beinahe-Atomkrieg durch technischen Fehler „Mondaufgang“

Im Oktober 1960 meldeten US-Radargeräte in Grönland einen Großangriff sowjetischer Interkontinentalraketen auf die USA. Alle Raketensysteme gingen in Alarmbereitschaft und wurden für den Zweitschlag vorbereitet. Nur weil der sowjetische Präsident Nikita Chruschtschow zu der Zeit gerade in New York bei der UNO war, überprüfte man die Meldung. Es stellte sich heraus: Das Radarsystem hatte den Mondaufgang in Norwegen fälschlicherweise als sowjetischen Angriff interpretiert.15

2. Beinahe-Atomkrieg durch technischen „Chipfehler“

Im Juni 1980 wurde mehrfach ein Massenangriff sowjetischer Raketen auf die USA gemeldet.16 Ein Beteiligter schilderte einen dieser Vorfälle so: „Wir schlugen Alarm. Die Crews holten ihre Abschusscodes aus dem Safe. Sie steckten die Schlüssel in die Startschalter. Zbigniew Brzeziński wurde mitten in der Nacht geweckt und man teilte ihm mit, dass mit Sicherheit ein Atomangriff im Gange sei und dass er Präsident Carter wecken müsse. Acht Minuten lang wurden Vorbereitungen für den Abschuss von Atomwaffen getroffen.“17 Zum Glück fand man den Fehler noch rechtzeitig: Ein Computerchip für 47 Cent hatte gemeldet „1111“ statt „0000“: „Raketen unterwegs“.

3. Beinahe-Atomkrieg durch technischen Fehler „Braunbär“

1962, während der Kubakrise, drang nachts ein vermeintlicher Saboteur in einen US-Stützpunkt im Staat Wisconsin ein. Es war eine hochbrisante Zeit, in der die beiden Machtblöcke mit einem Atomangriff rechneten. Als der vermeintliche Saboteur weder auf den Anruf des Wachtpostens noch auf einen Warnschuss reagierte, löste der Wachtposten Alarm aus. Im zuständigen Stützpunkt, 500 km entfernt, wurden die Kampfpiloten aus dem Schlaf gerissen: das sei kein Training, sondern der Ernstfall. Inzwischen versuchte der Wachtposten, den Saboteur festzunehmen. Es war nur ein Braunbär.18 Der Offizier vom Dienst erkannte also den Fehlalarm, konnte aber den eingeleiteten Start der Kampfflugzeuge zunächst nicht abbrechen, weil er keine Funkverbindung hatte. In letzter Sekunde konnte dann durch einen Zufall der Einsatz doch noch abgebrochen werden.

Das sind nur drei Beispiele für technische Fehler, die beinahe zum Einsatz von Nuklearwaffen geführt hätten. Die Gefahr eines „Atomkriegs aus Versehen“, durch Fehleinschätzungen oder Unkenntnis der realen Lage, ist gerade in Krisenzeiten enorm hoch. Hier drei Beispiele für Beinahe-Atomkriege in Krisenzeiten:

1. Beinahe-Atomkrieg während der „Suez-Krise“

1956 verstaatlichte Ägypten die Suezkanal-Gesellschaft, die bis dahin überwiegend Frankreich und Großbritannien gehörte. Als britische Truppen Ägypten angriffen, warnte die Sowjetunion, sie zöge (nicht-nukleare) Angriffe auf London und Paris in Betracht, um die Kämpfe zu stoppen. Es war also eine hochangespannte Situation. In der Nacht des 5. November 1956 gingen bei der US-Luftabwehr mehrere Warnungen ein: über der Türkei gebe es nicht identifizierte Flugobjekte, 100 sowjetische Kampfjets flögen über Syrien, ein britischer Bomber sei über Syrien zum Absturz gebracht worden und eine sowjetische Flotte sei auf dem Weg in die Türkei. All diese Ereignisse deuteten für die USA auf eine sowjetische Offensive hin, sodass sie einen baldigen russischen Atomschlag gegen die NATO befürchteten. Gerade noch rechtzeitig stellte sich heraus: Die nicht identifizierten Flugobjekte in der Türkei waren ein Schwarm Schwäne, die sowjetischen Kampfjets waren keineswegs hundert, sondern nur eine Lufteskorte für den syrischen Präsidenten, der britische Bomber war durch mechanische Störungen abgestürzt, und die sowjetische Flotte führte nur eine planmäßige Routineübung durch.19

2. Beinahe-Atomkrieg während der „Kuba-Krise“

Nachdem die USA atomare Mittelstreckenraketen auf einem NATO-Stützpunkt in der Türkei stationiert hatten, wollte die Sowjetunion eigene Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren. Die amerikanische Regierung unter Präsident Kennedy drohte, sie werde nötigenfalls Atomwaffen einsetzen, um die Stationierung auf Kuba zu verhindern. Die sowjetischen Raketen wurden per Schiff Richtung Kuba transportiert. Vor Kuba sollte die US-Atlantikflotte die von einem sowjetischen U-Boot begleiteten Transportschiffe aufhalten. Die Amerikaner wussten nicht, dass dieses U-Boot nuklear bestückte Torpedos an Bord hatte, ausreichend, um die gesamte US-Atlantikflotte in die Luft zu sprengen. Ein US-Zerstörer warf Übungswasserbomben auf das sowjetische U-Boot ab, um es zum Auftauchen zu zwingen.

Der Kommandant des U-Boots ging wegen des Angriffs mit den Wasserbomben davon aus, dass der Krieg bereits begonnen haben könnte und er deshalb die Atomtorpedos abfeuern müsse. Für das Abfeuern der thermonuklearen Torpedos war die Zustimmung dreier Offiziere notwendig. Der Flottenkommandant Wassili Archipow20 lehnte anfangs als einziger den Abschuss der Atomtorpedos ab. Die Vernichtung der US-Flotte hätte unweigerlich einen totalen Atomkrieg ausgelöst. Archipow konnte schließlich den U-Boot-Kommandanten davon überzeugen, das Boot auftauchen zu lassen und auf weitere Befehle aus Moskau zu warten. Erst im Herbst 2002 wurde auf einer Konferenz zum 40. Jahrestag der Kubakrise in Havanna offiziell bekannt, dass ein Mann namens Archipow die Menschheit vor einem Atomkrieg bewahrt hatte.21

Weil die USA und die UdSSR damals die große Gefahr eines „Atomkriegs aus Versehen“ erkannten, wurden die sowjetischen Mittelstrecken-Raketen in Kuba und die amerikanischen in der Türkei abgebaut. In den 1980er Jahren stationierten beide Seiten erneut Mittelstreckenraten in Europa. Die Vorwarnzeit betrug damals weniger als 15 Minuten. Eine hochgefährliche Lage. Nach dem Protest von Millionen und Millionen Menschen weltweit, kamen der damalige US-Präsident Reagan und der sowjetische Präsident Gorbatschow überein, auch diese Raketen wieder abzubauen.

3. Beinahe-Atomkrieg bei der NATO-Übung „Able Archer“ (1983)

Ab 1980 verschärfte sich der „Kalte Krieg“. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion verfügten über Nuklearsprengköpfe zum mehrfachen Auslöschen des Gegners und des Rests der Menschheit. Im Fall eines gegnerischen Angriffs sollte sofort ein Gegenschlag mit der Totalzerstörung des Gegners erfolgen. US-Präsident Ronald Reagan hatte nach seinem Amtsantritt die Abrüstungsgespräche beendet, das Raketenabwehrprogramm SDI gestartet und 1983 in seinen Reden die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnet, mit dem es keine Koexistenz geben könne. Erhöht wurden die Spannungen durch den Abschuss eines Zivilflugzeugs durch sowjetische Kampfjets. Reagans pathetische Rhetorik verfolgte der ebenfalls greise und zudem von schwerer Krankheit gezeichnete sowjetische Staatschef Jurij Andropow sehr genau. Er rechnete fest mit einem amerikanischen Überraschungsangriff. Den USA war nicht bekannt, dass die sowjetische Seite wirklich einen amerikanischen Atom-Angriff fürchtete. In dieser Spannungslage im November 1983 meldeten die sowjetischen Satelliten einen Angriff mit Interkontinentalraketen. Entgegen der Vorschriften reichte der diensthabende Oberstleutnant Petrow22 diese Meldung nicht sofort weiter. So konnte die Meldung als Fehlalarm entdeckt und das atomare Inferno verhindert werden.

Wenige Tage später hielt die NATO in Europa eine große Militärübung ab, „Able Archer 83“, die einen Atomkrieg simulierte.23 Der hohe Realitätsgrad, die strenge Geheimhaltung und die damals besonders angespannte Lage lösten in der Sowjetunion Panik und die Überzeugung aus, die NATO-Übung sei nur ein Deckmantel für einen unmittelbar bevorstehenden Nuklearschlag der USA. Die Sowjetunion machte ihre Atomraketen startklar. Der deutsche Spion Rainer Rupp, Deckname „Topas“, arbeitete damals im NATO-Hauptquartier in Brüssel und hatte deshalb interne Kenntnisse. Er meldete über die DDR nach Moskau, es sei wirklich nur eine Übung. Wahrscheinlich waren diese Informationen wesentlich dafür, dass diese NATO-Übung nicht das nukleare Inferno auslöste.

Der Ausstieg Deutschlands aus der „nuklearen Teilhabe“ ist möglich

Das Konzept der nuklearen Abschreckung heißt im englischen „Mutually Assured Destruction“, abgekürzt MAD = „verrückt“ oder „wahnsinnig“. Die angeführten Beispiele für Beinahe-Atomkriege zeigen, dass das Konzept der nuklearen Abschreckung in der Tat verrückt und wahnsinnig ist. Die Atombomber in Deutschland sind keine Verteidigungswaffen. Sie tragen nichts zur Lösung der gegenwärtigen Krise bei. Im Gegenteil: Sie erhöhen die internationalen Spannungen. Sie erhöhen das Risiko eines Atomkriegs und die Unbewohnbarkeit unseres Planeten. Und sie machen Deutschland zu einem bevorzugten Angriffsziel.

Den meisten, die von Friedenssicherung durch militärische Stärke, von mehr Rüstung und von atomarer Abschreckung reden, sind diese Risiken schlicht nicht bekannt. Deshalb ist es noch möglich, die Atombomben und Atombomber in Deutschland abzuschaffen. Diese Abschaffung ist keineswegs weltfremd und unrealistisch: Teile der deutschen Parteien sind oder waren dafür. Sogar im Koalitionsvertrag der CDU-FDP-Regierung stand im Jahr 2010 ausdrücklich: Die Bundesregierung werde sich „im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.“24 Die zuständige Fachstelle des Bundestages stellte erst kürzlich fest, dass die Aufhebung der nuklearen Teilhabe nicht gegen Deutschlands NATO-Verpflichtungen verstoßen würde. Und technisch wäre das auch kein Problem: Die polnische Regierung hat bereits ihre Bereitschaft erklärt, diese Waffen zu übernehmen.

Es gab schon einige Ziele der Friedensbewegung, die von Militärköpfen als unrealistisch, als weltfremd, als undurchführbar bezeichnet, die aber dennoch erreicht wurden. So zum Beispiel in den 80er Jahren der Abbau von russischen und amerikanischen atomaren Mittelstreckenraketen in Europa, der Verzicht der Supermächte auf Antipersonenminen oder der Atomwaffenverbotsantrag der UN, der von 122 Staaten befürwortet wurde.

Die Hoffnung bleibt, dass die Abschaffung von Atomwaffen in Deutschland auch auf diese Liste kommt.

(12) https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_military_nuclear_accidents
(13) Ebda.
(14) https://atomkrieg-aus-versehen.de
(15) https://www.fwes.info/fubk-21-1-LONG-de.pdf
(16) a. a. O., S. 67
(17) http://www.documentarymania.com/player.php?title=Countdown%20to%20Zero
(18) „Am Rande des Atomkriegs Teil 1 – Von Hiroshima zur Kuba-Krise“: https://www.fwes.info/fubk-21-1-LONG-de.pdf, S. 33
(19) https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_nuclear_close_calls
(20) https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Alexandrowitsch_Archipow
(21) https://www.bundeswehr-journal.de/2016/wassili-archipow-der-mann-der-die-welt-rettete/
(22) https://de.wikipedia.org/wiki/Stanislaw_Jewgrafowitsch_Petrow, https://www.dekoder.org/de/article/petrow-kalter-krieg-atomkrieg-verhindert und https://www.fwes.info/fubk-21-1-LONG-de.pdf, S. 76
(23) https://de.wikipedia.org/wiki/Able_Archer_83
(24) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-02/abruestung-atomwaffen-westerwelle-2

Text: Maik Schluroff; Bild von WikiImages auf Pixabay