Egelsee ist überall

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Das neue Bürogebäude der Firma Meichle & Mohr, davor das unter Denkmalschutz stehende ehemalige Gasthaus „Rheingarten“, nunmehr weder Rhein noch Garten – und wohl auch keine Zukunft mehr … Foto: O. Pugliese

Welche Lehren lassen sich aus dem Neubau Zur Friedrichshöhe 10 ziehen – und welche Fragen drängen sich auf, wenn man sich vergegenwärtigt, wie eine Gartenstadt­siedlung durch Neubauprojekte wie von einem anderen Planeten langsam ihren über Jahrzehnte gewachsenen Charakter als lebenswertes Ensemble zu verlieren droht? Das Quartier Egelsee ist in Konstanz beileibe keine Ausnahme, sondern Ausdruck eines städtebaulichen Trends, der wenig Rücksicht auf historisch Gewachsenes und Nachbarschaften nimmt.

Teil II [Teil I finden Sie hier]

Was jetzt im Egelseequartier passiert, ist kein Einzelfall – das hat System. Besichtigen kann man hier beispielhaft das Ergebnis einer Politik, die dem Bau von 7900 neuen Wohnungen in nur 20 Jahren oberste Priorität einräumt und dabei alle anderen Gesichtspunkte, die für eine gute Stadtentwicklung maßgeblich wären, beiseiteschiebt. Überall beobachten wir in den letzten Jahren, wie in historisch gewachsenen Quartieren und Ortsteilen neue, massive Baukörper entstehen oder geplant werden, die weit über das hinausgehen, was ihre unmittelbare Umgebung bis dahin baulich geprägt hat: Ob in Allmannsdorf auf dem Areal der ehemaligen Gärtnerei Brunner, an der Schiffstraße zur Fähre, im Renkenweg, ob in Wollmatingen im alten Ortszentrum, ob in der Längerbohlstraße oder im Haidelmoos, ob im Paradies oder in den Vororten wie zum Beispiel an der Brunnenhalde in Dettingen oder in der Ortsmitte von Litzelstetten: Alles folgt demselben Muster, alles hat sich unterzuordnen unter den selbst verordneten Zwang, bis 2035 eine Stadt mit über 100.000 Einwohnern werden zu wollen. Grundlegend wichtige Fragen nach der städtebaulichen Qualität dieser Veränderungen, nach dem wohnungspolitischen Nutzen – für wen wird hier eigentlich gebaut? – und nach den Auswirkungen auf die Umwelt, auf das Stadtklima, die Artenvielfalt, auf das Verhältnis von Mensch und Natur in dieser Stadt, werden gar nicht mehr gestellt, auf jeden Fall nicht ausreichend berücksichtigt und nicht offen diskutiert.

„Hafenvillen“ an der Schiffstraße in Staad – Moderne Investorenarchitektur führt auch zu einer großzügigen Neu-Interpretation des Begriffs „Villa“. Foto: Werner Trapp

Die Qualität einer Stadt bemisst sich auch daran, dass sie ihre in Bauten und Quartieren dokumentierte Geschichte für ihre Bewohner bewahrt und für Einheimische wie Gäste sichtbar und erlebbar macht. Nur so entsteht städtische Identität, wächst die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt. Zu Recht steht die historische Altstadt von Konstanz unter Ensembleschutz (was einen Koloss wie das Lago Center nicht verhindert hat). Für den großen Rest, das Paradies und das gesamte rechtsrheinische Konstanz, sind solche Schutzkonzepte – mit Ausnahme des Ensembleschutzes für die Turniersiedlung und die Gartenstadt Sierenmoos – nicht entwickelt worden, sie bleiben allenfalls auf Einzelbauten beschränkt.

Während zum Beispiel die Stadt Lindau die Bedeutung ihres historischen Villenquartiers am Seeufer Richtung Bad Schachen schon in den 1980ern erkannt und durch eine Erhaltungssatzung als zusammenhängendes Ensemble von 37 Villen mit ihren Parks und Gärten unter Schutz gestellt hat, hat die Stadt Konstanz nicht nur ihr Seeufer, sondern auch ihr historisches Villenquartier im Musikerviertel bis in allerjüngste Zeit hinein einer konzeptlosen Nachverdichtung preisgegeben.

Was wir dringend brauchen in Konstanz, ist eine neue Definition und dann eine weiträumige Erfassung schützenswerter baulicher Ensembles, welche die Stadtentwicklung, die für frühere Jahrzehnte typische Architektur und die damit verbundenen Formen des Wohnens, aber auch die dazu gehörigen städtebaulichen Überlegungen dokumentieren. Das betrifft etwa, um nur Beispiele zu nennen, die „Franzosenbauten“ an der Steinstraße, die mit der benachbarten ehemaligen Jägerkaserne ein Ensemble bilden, das markante dreiflügelige Hochhaus an der Dreherkurve mit den sich anschließenden Wohnblocks, die ähnlich wie die Blocks an der Steinstraße den Bewohnern viel Grün und damit genug Flächen für Kinder zum Spielen oder einfach für Naherholung lassen. Auch für das Haidelmoos als einer geschlossenen Siedlung der 1930er Jahre bedarf es eines solchen Konzepts, genauso wie für das Egelseequartier, das sich heute noch weitgehend so präsentiert, wie es ab 1927 geplant wurde: als eine qualitätsvolle städtebauliche Ergänzung der Gartenstadt Sierenmoos nach Osten.

Die Beispiele Steinstraße und Dreherkurve gewinnen ihre Aktualität durch das, was derzeit an der Markgrafenstraße passiert. Das Grün zwischen den Wohnblocks wird so zugebaut, dass sich die Bewohner demnächst – etwas überspitzt gesagt – von Balkon zu Balkon die Hand geben können. Ist das eine überzeugende Vision, ein gutes städtebauliches Leitbild für die Zukunft dieser Stadt?

Ensembleschutz heißt vor allem auch, das wird oft vergessen, „Blickschutz“: Der Koloss, der derzeit in der Schiffstraße in die Höhe wächst (wenn man von der Fähre kommt, kurz vor der Ortsmitte rechts), erschlägt nicht nur die umliegende Bebauung, er beeinträchtigt eben auch den vertrauten und schützenswerten Blick auf die historische Ortsmitte mit dem schönen alten Rathaus, der Kirche St. Georg und den älteren Nebengebäuden. Die historische Ortsmitte von Wollmatingen wird durch den Abriss des alten Gasthofs „Linde“ und des daneben stehenden Fachwerkhauses für immer zerstört werden – ein rechtzeitiger Schutz dieses Ensembles hätte das verhindern können.

Die wohnungspolitische Grundfrage – für wen wird in Konstanz eigentlich gebaut? – ist oft genug im „Blättle“ der Bürgervereinigung Allmannsdorf und an anderer Stelle thematisiert worden. Auch hierzu bietet der Neubau im Egelseequartier ein eindrückliches Beispiel: Das abgerissene Haus war ein Dreifamilien-Haus, oben, im ausgebauten Dachgeschoss, wohnte zeitweilig der Besitzer, die Wohnungen im Erdgeschoss und im ersten Stock waren vermietet, und zwar zu einem für Konstanzer Verhältnisse durchaus moderaten Preis. Jetzt sind dort anstelle von Mietwohnungen sechs Eigentumswohnungen entstanden, eine 100-Quadratmeter-Wohnung kostete rund 700.000 Euro. Wer kann sich das leisten? Wer kauft sich hier ein, wer zieht hier zu?

Der Laubenhof – „Ein Beitrag zum Handlungsprogramm Wohnen“ – oder: zum „Handlungsprogramm Bauen für Investoren und Kapitalanleger“? Foto: Werner Trapp

Es ist allerhöchste Zeit, dass diese Frage wissenschaftlich verlässlich und exakt geklärt wird: Bauen wir in Konstanz, damit die rund 10.000 Einpendler, die jeden Tag zum Teil von weit her zur Arbeit nach Konstanz fahren, hier endlich eine kostengünstige und bezahlbare Wohnung finden? Werden die Krankenschwester, der Altenpfleger, die Grundschullehrerin, der Erzieher, die Busfahrerin oder der Fähre-Mitarbeiter, kurz: werden all die Einpendler, die jeden Tag wichtige und wertvolle Arbeit für die Stadt Konstanz und ihre Bewohner erbringen, hier auch dereinst wirklich wohnen können? Im Laubenhof zum Beispiel, wo das rund um das Baugelände auf großflächigen Werbebannern für eine fiktive „Constanze“ und ihre Familie versprochen wird? Oder gehört die Familie von Constanze auch zu den Familien, die keine 700.000 Euro für eine 100-Quadratmeter-Wohnung aufbringen können? Und die auch nichts davon haben, wenn ihre Wohnung nach 15 Jahren aus der Förderung herausfällt und die Miete dann kräftig auf das „ortsübliche Niveau“ ansteigen darf?

Last, but not least wirft der Neubau im Egelseequartier auch grundlegende Fragen nach Stadtökologie und Stadtklima auf. Was dieses Quartier heute noch auszeichnet, ist das System untereinander vernetzter Hausgärten mit ihrer vielfältigen Flora und Fauna, die Pflanzen und Tieren und damit eben auch den Bewohnern einen gesunden Lebensraum bieten. Speziell für den Erhalt der bedrohten Pflanzen- und Tierwelt sind diese zusammenhängenden Hausgärten von eminenter Bedeutung. Der jetzt genehmigte Neubau mit großer Tiefgarage hat den alten Hausgarten mit seinen Streuobstbäumen komplett beseitigt. Man könnte es auch deutlicher sagen: Dieser Bau profitiert zwar von der naturnahen Gartenstadt-Qualität des gesamten Quartiers, er selbst leistet aber zur Erhaltung dieser Qualität auch nicht den geringsten Beitrag. „Natur“ ist hier fast restlos verschwunden, zubetoniert, verbaut – um Natur noch zu genießen und zu erfahren, bleibt den Bewohnern nur noch der Blick in die Gärten der Nachbarhäuser.

Und auch diese Frage muss anlässlich dieses Neubaus gestellt werden: Überall und viel zu oft wird in Konstanz abgerissen und neu gebaut anstatt bestehende Bausubstanz energetisch zu sanieren und moderat zu erweitern. Dabei ist längst bekannt, dass Letzteres von der Bauökologie und Klimabilanz her gesehen der bessere Weg ist. Nur: Fließt diese Erkenntnis auch in die Baupolitik und Genehmigungspraxis einer Stadt ein, die 2019 als erste in Deutschland medienwirksam den „Klimanotstand“ ausgerufen hat?

Der weiterhin ungebremste Flächenfraß auch in Konstanz passt ebenso wenig zum „Klimanotstand“ wie die Tatsache, dass die Stadtverwaltung einem Schweizer Investor gestattet hat, im Büdingen-Park rund 300 der 400 dort stehenden Bäume abzuholzen, damit seine „Premiumgäste“ freie Sicht auf den See haben. Klimaschutz aber ist ohne Naturschutz, ohne Baumschutz, ohne den Schutz zusammenhängender Ökosysteme nicht zu erreichen. Da hilft es auch nicht weiter, wenn wahllos irgendwo 1000 neue Bäume gepflanzt werden.

Werner Trapp

Der Autor und Historiker Werner Trapp hat sich in Büchern und Aufsätzen mit der Geschichte des Bodenseeraumes und mit der Geschichte von Konstanz befasst. Er lebt – mit Unterbrechungen – seit 1957 in unserer Stadt, seit 37 Jahren im Allmannsdorfer Egelseequartier.

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