Gewaltfrei – aber nicht wehrlos (I)

Es bedarf weder besonderer Fähigkeiten noch Mittel, binnen Sekunden ein Zimmer zu verwüsten, Scheiben einzuwerfen, ein Auto anzuzünden. Innerhalb von Sekunden kann eine Millionenstadt zerbombt, alles Leben auf der Erde ausgelöscht werden. Einige wichtige Gedanken über soziale Verteidigung als Alternative zum Krieg in der Ukraine.

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Direkte Gewalt bewirkt sofortige rapide Veränderungen, liefert krasse, äußerst medienwirksame Bilder. Gewaltanwendung verschafft Medienzugang. Gewalt kann politische Stimmungslagen von jetzt auf gleich umschlagen lassen, wie wir es an der plötzlichen Befürwortung der Aufrüstungspolitik der Bundesregierung vieler Bürger und Bürgerinnen seit dem Ukraine-Krieg beobachten können. Gewalt kann Ohnmachtsgefühle für den Moment überwinden helfen und Selbstwirksamkeitserleben ermöglichen. Sie ist ein Ventil für Empörungsgefühle aller Art, für Wut und Hass. Gewalt macht eine komplexe, unübersichtliche Welt verstehbar: Da sind die Bösen, die bekämpft werden müssen, da ist ein dämonisierter Putin, der „weg muss“, hier sind die Guten – und das sind „wir“. Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt im eigenen Lager wachsen, Kritik verstummt. So können die tatsächlichen Interessen und Motive der Mächtigen an Gewaltausübung und Aufrüstung leicht verdeckt werden. Gewalt ist hocheffektiv. Das ist es, was sie so verführerisch macht, was den irrationalen Mythos der erlösenden Gewalt nährt.

Reflexartig statt reflektiert spendete der Deutsche Bundestag der plötzlichen Ankündigung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers am 27. Februar 2022 frenetischen Applaus, 100 Mrd. € der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen und den „Verteidigungsetat“ noch stärker als bisher auf mehr als 2% des BIP zu erhöhen. Es war ebenso der altbekannte reflexartige Rekurs auf Gewalt als „Ultima Ratio“, Waffen in das Kriegsgebiet Ukraine zu liefern entgegen aller Wahlversprechen und bisherigen -formalen- Prinzipien. Und man beugte sich dem massiven Druck der US-Regierung, die all das schon lange vor der Invasion russischer Truppen in die Ukraine forderte.

Aufrüstung und Gewalt sind nur in einer Hinsicht hocheffektiv: sie zerstören Leben und Lebenschancen

Gewalt und Aufrüstung sind jedoch nur in einer Hinsicht höchst effektiv: Sie bewirken Zerstörung und Tod, massenhaft-unermessliches psychisches wie physisches Leid, die dauerhafte Zerrüttung sozialer Beziehungen, die Zerschlagung von Kooperation, die Vernichtung unserer Mitwelt und somit unserer Lebensgrundlagen. Gewalt und Sanktionen schaden nicht nur dem, gegen den sie sich richten, sondern auch dem, von dem sie ausgehen. Uns allen. Wir können uns unsere Kooperationspartner nicht aussuchen. Wollen wir überleben, sind wir auf eine Klimapartnerschaft auch mit Russland dringend angewiesen. Die Milliarden für Aufrüstung fehlen für die große Transformation, die der Zustand unserer Erde und unseres Klimas jetzt erfordert. Waffenlieferungen an die Ukraine werden den Krieg verlängern, das Leid der Zivilbevölkerung steigern und auf Dauer stellen. In einem nicht unwahrscheinlichen langen Guerillakrieg1 oder auch möglichen Bürgerkrieg nach einem Waffenstillstand – schon vor der Invasion des russischen Militärs herrschte im Osten der Ukraine Bürgerkrieg, gab es bewaffnete Milizen – werden die gelieferten Waffen diese Kriegsszenarien ermöglichen und anheizen. Die Dynamik von Kriegen ist unkalkulierbar. Durch eine Politik der Abschreckung und Aufrüstung der Ukraine wächst die Gefahr eines Atomkrieges.

Frieden lässt sich nur mit friedlichen Mitteln und einer langfristigen, multidimensionalen Friedenspolitik erreichen

Gibt es andere Mittel der Verteidigung als Gewalt? Das wirksamste, lebensförderlichste und auch kostengünstigste Mittel zur Überwindung von Gewalt ist eine langfristig-vernetzt denkende und dauerhaft-robuste Friedenspolitik, die konsequent der Logik des Friedens folgt und die Bedürfnisse und Interessen aller berücksichtigt. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit und eines gemeinsamen europäischen Hauses, wie es Gorbatschow Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen hatte, könnte Grundlage einer europäischen Friedenspolitik sein, eine geplante OSZE-Konferenz 2025 in Helsinki diesen Faden wieder aufnehmen. Sofort sollten Verhandlungen den Krieg beenden (die meisten Kriege werden durch Verhandlungen beendet – da könnte man doch vernünftigerweise auf die Kriegsphase von vornherein verzichten!), und das sollten alle Akteure mit allen gewaltfreien Mitteln unterstützen, besonders die EU.

Das Konzept der Sozialen Verteidigung und die Methoden des gewaltfreien Widerstands

Was können die ukrainische Regierung und die ukrainische Bevölkerung jetzt in der Kriegssituation tun, um die Gewalt zu stoppen?2 Sich gegen einen militärisch überlegenen Gegner, eine Atommacht, militärisch zu verteidigen und sich dadurch als Stellvertreter einer Auseinandersetzung zwischen der NATO und der Regierung der Russischen Föderation zur Verfügung zu stellen, bewirkt unendlich viel Leid und Zerstörung auf unabsehbare Zeit.

Genau für den Fall einer militärischen Invasion von außen oder eines Staatsstreichs von innen wurde das Konzept der Sozialen Verteidigung entwickelt, mindestens seit 100 Jahren erfolgreich angewandt und seit den 1960er Jahren wissenschaftlich erforscht. Dieses Konzept gewaltfreien Widerstandes verteidigt nicht Grenzen und Territorien, sondern Lebensweisen und Institutionen. Die von einer Invasion betroffene Bevölkerung setzt sich nicht gewaltsam gegen eine Besatzungsmacht zur Wehr, sondern verweigert die Kooperation mit den Machthabern. Dahinter steckt die Annahme, dass alle Herrschenden von einer gewissen Zustimmung und Kooperation der Beherrschten abhängig sind (G. Sharp3). Nepstad4 nennt sechs methodische Bereiche, um einem Regime diese Unterstützung zu entziehen:

  1. Die Weigerung, die Legitimität der vom Regime aufgestellten Regeln als legitim anzuerkennen.
  2. Das In-Frage-Stellen von Mentalitäten und Ideologien des Gehorsams.
  3. Die Weigerung, Gesetzen zu gehorchen und mit dem Regime zu kooperieren.
  4. Die Weigerung, dem Regime das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen.
  5. Entzug der materiellen Ressourcen für das Regime.
  6. Unterminierung der Sanktionsmacht des Regimes.

All dies kann vielfältige Formen des Widerstands annehmen wie z. B. die „dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Th. Ebert) bis hin zum Generalstreik. Chenoweth und Stephan definieren zivilen Widerstand als „Typ politischer Aktivität, der absichtlich oder notwendigerweise normale politische Kanäle umgeht und nicht-institutionelle (und oft illegale) Aktionsformen gegen einen Gegner einsetzt“ (2011, S. 12)5. Im deutschsprachigen Raum entwickelte vor allem Theodor Ebert das Konzept der Sozialen Verteidigung weiter. Er benennt drei Eskalationsstufen gewaltfreien Widerstands6:

Eskalationsstufe Subversive Aktion Konstruktive Aktion
1 Protest Funktionale Demonstration
2 Legale Nichtzusammenarbeit Legale Rolleninnovation
3 Ziviler Ungehorsam Zivile Usurpation

Methoden des Protests sind z. B. Demonstrationen, Flash Mobs, Protestnoten. Unter legale Nichtzusammenarbeit fällt der Boykott von Waren und Angeboten aller Art, an der Grenze zum Zivilen Ungehorsam sind „Dienst nach Vorschrift“ sowie besonders langsames und fehlerhaftes Arbeiten angesiedelt. Ziviler Ungehorsam bedeutet, illegitime Regeln und Gesetze nicht zu befolgen. Aus dem tschechischen Widerstand gegen die sowjetischen Truppen 1968 stammen folgende Do-Not-Instruktionen: Don´t know, don´t care, don´t tell, don´t know how to, don´t give, don´t sell, don´t show, can´t do und do nothing.

Text: Brigitte L. Ehrich, www.friedenskonzepte.de, E-Mail: dialog@friedenskonzepte.de, zuerst erschienen im Newsletter Friedensregion Bodensee e.V., Nr. 25, April 2022; Bild: Wikipedia, This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.

Quellen:

1 den der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes Oberstleutnant André Wüstner befürchtet: https://www. stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.krieg-in-osteuropa-bundeswehr-experte-rechnet-mit-guerillakrieg-in-ukraine.cefbc640-c8dd-433c-a5ec-5fc560ba50de.html, aufgerufen 22.3.2022.

2 Folgender Artikel listet je 30 gewaltfreie Handlungsmöglichkeiten für Russland wie die Ukraine auf: https:// www.lebenshaus-alb.de/magazin/014137.html

3 Gene Sharp (1973/2012). The Politics of Nonviolent Action. Manchester: Porter Sargent Publishers.

4 Nepstad, Sharon Erickson (2011).Nonviolent Revolutions. Civil Resistance in the Late 20th Century. Oxford: Oxford University Press.

5 Chenoweth, Erica & Stephans, Maria J. (2011). Why Civil Resistance Works. The Strategic Logico of Nonviolent Conflict. New York: Colombia University Press.

6 Ebert, Th. (1981). Gewaltfreier Aufstand: Alternative zum Bürgerkrieg. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft.