Gewaltfrei – aber nicht wehrlos (II)
Innerhalb von Sekunden kann eine Millionenstadt zerbombt, alles Leben auf der Erde ausgelöscht werden. Doch die Mehrheit der Menschen befürwortet Techniken des gewaltfreien Widerstands, die ihre Wirksamkeit bereits vielfach unter Beweis gestellt haben.
Teil 2/2, Teil 1 finden Sie hier
Ein unverzichtbares Merkmal jeder gewaltfreien Aktion ist jedoch die zur subversiven Aktion parallel verlaufende konstruktive Aktion, in der das Gewünschte schon im Hier und Jetzt Gestalt annimmt. Im Falle einer Okkupation könnten das Formen demokratischer Selbstverwaltung und Selbstorganisation sein, aber auch konsensorientierte Dialogformate, in die auch Angehörige der Besatzung einbezogen werden. Mit ziviler Usurpation ist der Aufbau von Parallelstrukturen gemeint: Das ist der Fall, wenn zivilgesellschaftliche Akteure parallel zu den offiziellen eigene Institutionen aufbauen wie z. B. zivilgesellschaftliche Steuersysteme, Sicherheitskräfte, Schulen, Gesundheitseinrichtungen etc.. So hatten Frauen in Afghanistan während der ersten Taliban-Herrschaft Schulen für Mädchen in Privaträumen heimlich eingerichtet. Schon vor vielen Jahren identifizierte Gene Sharp 198 verschiedene Methoden gewaltfreien Widerstands.
Den Krieg nicht mitmachen: Zonen des Friedens
Eine Möglichkeit des Selbstschutzes und der Gewaltminderung ist die Einrichtung von Zonen des Friedens. In der Ukraine suchten einige Dörfer den Dialog mit den russischen Soldaten und konnten so ihre Heimat vor Kampfhandlungen und Zerstörungen bewahren7. In ihrem Buch „Opting Out of War“8 stellt die US-amerikanische Organisation „Collaborative for Development Action“ 13 Fallbeispiele vor, in denen sich Gemeinden und ganze Regionen aus einem sie umgebenden Gewaltkonflikt heraushalten konnten. Die meisten Menschen wollen in Ruhe und Frieden ihr gewohntes Leben führen, notfalls auch unter den Bedingungen einer Besatzung. Doch sie kommen in den Medien nicht zu Wort. Die Medien suggerieren, dass der mediengerecht inszenierte Kampfeswillen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj und des Kiewer Bürgermeisters Klitschko den Willen der gesamten Bevölkerung repräsentiere.
Die meisten Menschen wünschen ein ruhiges Leben in Frieden und würden dies nur mit gewaltfreien Mitteln verteidigen.
Eine repräsentative Befragung9 von 2015 – nach der Euromaidan-Revolution und der Sezession der Krim sowie der Donbas-Region! – zeigt ein völlig anderes Bild: Mehr als ein Drittel (35%) der UkrainerInnen hielten gewaltfreien Widerstand für die wirkungsvollste Option im Falle eines militärischen Angriffs, und 71,1% wollten sich aktiv an mindestens einer Aktion des gewaltfreien Widerstands beteiligen. Nur 24% waren bereit, sich mit Waffen zu verteidigen. Es ist kein gutes Zeichen für den Frieden, wenn – wie in der jetzigen Situation – die Frauen außer Landes fliehen und eine Männer-Minderheit andere Männer an die Waffen zwingt und alleine über Krieg und Frieden entscheidet. Die Frauen sind nicht nur aktuell die Verliererinnen, sondern werden es auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges sein. Gewaltfreier Widerstand bewirkt keine Massenflucht, alle – Frauen wie Männer, Junge wie Alte, Starke wie Schwache – können sich beteiligen und so mitentscheiden und die Zukunft gestalten.
Gewaltfreie Methoden zur Beendigung einer Besatzung und zur Erreichung eines Regimewechsels sind weit erfolgreicher als gewaltförmige Mittel
Entgegen des weit verbreiteten Glaubens an die Wirksamkeit von Gewalt hat empirische Forschung eindeutige Beweise geliefert, dass Gewaltlosigkeit weit effektiver ist als Gewalt. Nach Karatnycky und Ackerman10 wurden zwischen 1972 und 2002 67 autoritäre Regime beseitigt, mehr als 70% davon mit gewaltfreien Mitteln. Chenoweth und Stephan (2011) wiesen nach, dass gewaltfreie Aufstände mehr als doppelt so erfolgreich waren als gewaltsame. Im Spezialfall einer militärischen Besatzung hatten gewaltlose Bewegungen zu 35% einen vollen Erfolg, 41% zumindest einen Teilerfolg erzielt, während bewaffneter Widerstand zu 54% scheiterte. Die Beibehaltung einer konsequent gewaltfreien Strategie bei massiver Gegengewalt konnte die Erfolgsaussichten um 22% erhöhen (S.51).
Es gibt zahlreiche Beispiele erfolgreicher gewaltfreier Aufstände in der Geschichte. Das Ende des DDR-Regimes wurde unter dem Banner „Keine Gewalt“ herbeigeführt. Auch Polen und die baltischen Staaten erstritten sich ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion nicht mit NATO-Unterstützung und Waffen, sondern mit einer „singenden Revolution“, die ohne Waffen Parlamente verteidigte.11
Paroli bieten mit ausgestreckter Hand
So erfolgreich Soziale Verteidigung und Gewaltfreier Widerstand sind – um nachhaltigen Frieden zu schaffen, müssen weitere Bemühungen hinzukommen. Die Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach12 hält es für erforderlich, schon während der Anwendung der Methoden der Sozialen Verteidigung den Kampfmodus zurückzudrängen, da er Feindbilder schaffen und verfestigen kann und die Gefahr birgt, in Gewalthandlungen zu eskalieren. Außerdem werde der Prozess der Konflikttransformation durch den Kampfmodus blockiert. Deshalb verfährt Gewaltfreie Aktion und friedenslogische Politik immer zweigleisig: Zur subversiven Aktion gehört die konstruktive Aktion (s.o. Th. Ebert), zum „Paroli-Bieten“ die ausgestreckte Hand zum Gegner, der Vertrauensaufbau.
- Paroli-Bieten umfasst die Bestimmtheit und die Beharrlichkeit der Widerstandshandlungen.
- Gleichzeitig suchen gewaltfreie Akteure Vertrauen aufzubauen und die Beziehung der Konfliktparteien zu verbessern durch Empathie, Offenheit, Aufzeigen von Gemeinsamkeiten, Ermunterung zum Perspektivwechsel u. ä.13
Soziale Verteidigung und Ziviler Widerstand sind nur dann friedensstiftend, wenn die Akteure unabhängig vom Verhalten des Gegners und situativen Faktoren Dialogräume offenhalten und zusammen mit allen Konfliktpartnern an der Transformation der zugrunde liegenden Konflikte arbeiten.
Text: Brigitte L. Ehrich, www.friedenskonzepte.de, E-Mail: dialog@friedenskonzepte.de, zuerst erschienen im Newsletter Friedensregion Bodensee e.V., Nr. 25, April 2022; Bild: skyler-110 auf mPixabay.
Quellen:
7 Tagesspiegel 28.2.2022 sowie Videos auf Twitter. https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/014129.html.
8 Anderson, Mary B. &Wallace, Marshall (2013). Opting OutWar. Strategies to PreventViolent Conflict. Boulder/ London: Lynne Rienner Publishers.
9 Maciej Bartkowski / Kiewer Internationales Institut für Soziologie (KIIS) https://www.nonviolent-conflict.org/blog_post/ukrainians-vs-putin-potential-for-nonviolent-civilian-based-defense/ aufgerufen 22.3.2022.
10 Karatnycky, A. & Ackerman, P. (2005). How Freedom is Won: From Civil Resistance to Durable Democracy. Washington: Freedom House.
11 Ein erfolgreiches Beispiel zivilen Widerstandes gegen die Russifizierungpolitik des Zaren Nikolaus II. in Finnland 1899-1907: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/014140.html.
12 H.-M. Birckenbach (2018). Friedenslogik und Soziale Verteidigung – Wie passt das zusammen? In: Bund für Soziale Verteidigung. Schnee von gestern oder Vision für morgen? Neue Wege Sozialer Verteidigung. Dokumentation der Jahrestagung des BSV 2018, S. 55.
13 Vgl. Bläsi, B. (2001). Konflikttransformation durch Gütekraft: InterpersonaleVeränderungsprozesse. Münster: Lit.
Ich stimme den anderen beiden Kommentatoren zu und will noch etwas ergänzen.
Es wird hier die soziale Verteidigung als große „Alternative zum Krieg in der Ukraine“ angepriesen. Das kann verantwortlich gemacht werden, wenn nur das Ziel Frieden ausgerufen und verfolgt wird. Die Ziele Freiheit und Souveränität einer Gesellschaft spielen dann keine Rolle. Das zeigen allein die angeblichen Erfolgsmodelle, die in den Texten genannt werden: Polen und die baltischen Staaten hätten sich friedlich von der Sowjetunion losgelöst.Klar haben sie das. Aber warum? Die Sowjetunion war damals kein imperialistischer Staat mehr, hatte Mühen, allein im Kernland Russland die eigene Macht zu erhalten. Und vor allem: Polen, die baltischen Staaten und alle anderen befreiten sich, als die Sowjetunion damals zerfiel, also gar nicht mehr eingreifen konnte, auch nicht wollte. Heute ist die Politik von Russland grundsätzlich anders: imperialistisch geprägt, also auf Ausdehnung ausgerichtet, und jederzeit bereit, Krieg zu führen. Mit den Instrumenten der sozialen Verteidigung (Generalstreik, Demonstrationen, Verweigerung von Kooperation, Dialogräume) kann in einem besetzten Land dem Besatzer `das Leben schwer gemacht werden`, mehr allerdings nicht. Ich kann damit weder die Freiheit noch die Souveränität eines Landes verteidigen. Und darum geht es der Ukraine heute und muss es auch EU und den USA gehen. Diese Ratschläge der Friedensbewegung laufen auf einen Punkt hinaus: die Empfehlung an die UkrainerInnen, ergebt Euch, dann habt Ihr Frieden (und vor allem wir auch!), lasst die Russen die Macht übernehmen und eine Diktatur errichten, dann könnt Ihr versuchen, mit sozialer Verteidigung gegen die russischen Herrscher vorgehen. Dann sollte das auch offen gesagt werden.
Ich fürchte Herr Oelschläger hat recht, so weh es tut. Der zivile Widerstand ist notwendig und richtig, soweit er möglich ist. Im Angesicht der Massengräber, von Kriegsverbrechen und Zerstörung, wird er nur begrenzt etwas ausrichten können. Den Betroffenen muss es zynisch erscheinen, mir erscheint es naiv und ja, was dort gerade geschieht, wirft über den Haufen, was auch im ich vorher dazu gedacht hatte. Es ist traurig, mit einem Ende dieses Krieges ist auf lange Zeit nicht zu rechnen. Der militärische Widerstand ist entscheidend. Was den Menschen dort blüht, wenn die Ukraine überrannt würde, das sieht man dort, wo die Russen abgezogen sind. Längerfristig dürfte auch Moldawien in Gefahr sein.
Man sieht aktuell was mit der Bevölkerung in den von der russischen Armee kontrollierten Gebieten passiert, Vergewaltigungen und Mord.
https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-freitag-123.html#Butscha
Es geht Putin darum die Ukraine auszulöschen. Es kann doch niemand ernsthaft so Naiv sein zu Glauben mit etwas zivilem Ungehorsam hier noch etwas ausrichtet.
Wenn die Ukrainer:innen sich nicht militärisch Verteidigen werden sie abgeschlachtet wie man sieht.
Natürlich muss man auch den diplomatischen Faden nach Russlandaufrecht erhalten. Doch solange Putin nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit ist, bleibt nur der militärische Weg.
Erst wenn er militärisch in der Ukraine scheitert, wird er zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein.