High-Tech-Landschaft Bodensee. Der Boom ist vorbei
Aus AEG ist längst Siemens geworden, das auch schon zum Verkauf steht; Byk-Gulden gibt es nicht mehr und seine Nachfolger auch nicht; die EG heißt jetzt EU und Ministerpräsident Späth ist längst Geschichte. Aber ansonsten hätte der „Nebelhorn“-Artikel von Pit Wuhrer aus dem Jahre 1988 auch heutzutage geschrieben werden können. Denn Einschätzungen und Hoffnungen, Themen und Probleme sind immer noch die selben. Oder: Haben wir denn gar nichts gelernt?
High-Tech-Landschaft Bodensee – der Boom ist vorbei
aus: Nebelhorn Nr. 81, Februar 1988, von Pit Wuhrer, Fotos (2013): Wolfram Mikuteit
High Technology, Technologietransfer, innovative Industrien – diese Fremdwörter haben eine große Anziehungskraft. Sie stehen für Fortschritt und Wachstum. Konstanz ist eines der Zentren der High-Tech-Industrie. Warum haben sich Firmen ausgerechnet diesen verschlafenen Ort ausgesucht? Wird sich die Zahl der selbständigen Computerspezialisten weiter erhöhen? Oder geht es schon wieder bergab?
Die Sonne strahlt ins Labor. Und der Ingenieur blinzelt durch die Fensterscheiben nach draußen. Der Föhn hat die Konstanzer Altstadt unwirklich nahe gerückt, der Thurgauer Seerücken glänzt in allen Details und die metereologische Meßstation auf dem Säntisgipfel leuchtet, als sei sie nur einen mehrstündigen Fußmarsch weit entfernt. Dem Mann, der hier mit neuesten Forschungsgeräten und hochkomplizierten Apparaten an der Entwicklung von amorphen Tonköpfen für Tonbandmaschinen arbeitet, gefällt es. „So einen Arbeitsplatz findest du in Europa nicht so schnell“, sagt er. Ein Blick aus dem Fenster – und die Forschungsarbeit gehe schneller von der Hand.
Der Ingenieur im obersten Stockwerk des Fabrikgebäudes der AEG ist nicht der einzige, der in Konstanz so redet. Auch in den umliegenden Großraumbüros und Versuchsstätten ist die „unverbrauchte Natur“ für Entwicklerinnen, Programmiererinnen, Hard- und SoftwarespezialistInnen von Bedeutung.
„Bei CTM wurde immer untertariflich bezahlt“, sagt Rosa Maria Heim, die aus Rheinfelden kam und zehn Jahre lang in dem Unternehmen arbeitete. „Aber als nach der Übernahme durch SEL Gerüchte umliefen, denen zufolge der Betrieb nach Stuttgart verlegt werden sollte, haben viele in Gedanken mit der Kündigung gespielt – an den Neckar wollte niemand ziehen.“ Rosa Maria Heims ehemaliger Chef, Otto Müller, sah das ähnlich. „Als wir von Kalifornien nach Deutschland zurückkehrten, habe ich nicht lange überlegen müssen, wo ich den Fertigungsbetrieb für meinen Rechner gründe“, erzählte er mir. „Für mich kamen nur drei Orte in Frage: Freiburg, München und Konstanz, mit seiner Nähe zur Schweiz, keine Autostunde von Kloten entfernt, und dann der See, die Berge, die wunderschöne Landschaft, der nahe Schwarzwald. Wenn schon arbeiten, dann hier.“
Erholsame Erde, einigermaßen frische Luft und halbwegs sauberes Wasser: das lockt. Gabi Straschewski, Betriebsrätin in der Computer-Gesellschaft-Konstanz (CGK): „Die Leute kommen von überall her, vor allem aus Norddeutschland. Während Computerbetriebe im Norden Probleme mit ihren Stellenausschreibungen hatten, konnte CGK früher über Bewerbungen nicht klagen.“ Und Detlef Dürr, Betriebsratsvorsitzender von Modcomp und selber Entwickler: „Wir wundern uns über jeden im Betrieb, der aus Konstanz kommt.“ Es sind so wenige.
In den High-Tech-Betrieben von Konstanz ist der Kontakt zur Natur, der Freizeitwert einer Landschaft, zur Produktionsgröße aufgestiegen. Die dritte Industrielle Revolution entfaltet sich in Gebieten, die von der ersten (schwerindustriellen) und der zweiten (massenkonsumptiven) Industriellen Revolution verschont geblieben sind. Während die ersten Fabrikanten dort ansiedelten, wo Eisenerz- und Kohlevorkommen die Schwerindustrie ermöglichten und die Fabrikherren der Massenproduktion (Autos, Elektrotechnik, Konsumgüter) ihre Werke in den Ballungszentren bauen ließen, sind die High-Tech-Unternehmer von den herkömmlichen Infrastrukturen nicht mehr abhängig.
Die früheren Industrialisierungsschübe haben die Landschaften nachhaltig zerfressen und die vielgliedrigen handwerklichen und mittelständigen Produktionsstrukturen vernichtet, welche eine wesentliche Voraussetzung für die neue Industrialisierung sind. Ruhrgebiet, Saarland, die Küstenregionen, das Rhein-Main-Gebiet bilden teilweise und ganz zerstörte Lebensräume, in denen die Großindustrie das Handwerk weitgehend verschlungen hat; Baden-Württemberg blieb davon weitgehend unberührt. So ist das Land, durch die EG aus einer Randlage in den Mittelpunkt Europas gerückt, zum Aufmarschplatz der elektronischen Revolution geworden.
Die Politik der baden-württembergischen Landesregierung ist nur das Tüpfelchen auf dem „i“. Ihre „forschungs- und technologieorientierte Förderpolitik“ und ihre „innovationsorientierte und investitionsgetragene Strategie zur Sicherung der Wachstums- und Wettbeberbsfähigkeit“ schaffen die klimatischen Rahmenbedingungen und geben den Unternehmen Gewissheit, dass sie sich auf diesen Regionalstaat in jeder Hinsicht verlassenkönnen. Schließlich will der baden-württembergische Mmisterpräsident Lothar Späth eine „möglichst konforme Wellenlänge zwischen Wirtschaft und Politik“ erzielen. Überall im Land schießen subventionierte Technologieparks und -zentren aus dem Boden.
Hochschulen richten Technologie-Transfer-Zentren ein, in denen sich studentischer Forschungsgeist mit unternehmerischem Profitstreben paaren soll. Und neuartige Verkehrsnetze erschließen zügig den Südwesten der BRD – Glasfaserkabel werden künftig die Bedeutung von Autobahnen, Schienenstrecken und Wasserstraßen erlangen. Noch in diesem Jahr, so die Oberpostdirektion in Stuttgart, sollen alle größeren Städte auf dieseWeise miteinander verbunden und an Richtfunkstellen angeschlossen sein.
Eine ähnliche Umstrukturierung findet im Bildungsbereich statt. Auf Kosten der „Diskussionswissenschaften“ werden die Universitäten in den Dienst des Unternehmertums gestellt – das Kultusministerium baut die naturwissenschaftlich und technisch orientierten Fachbereiche aus und reduziert die Sozial- und Geisteswissenschaft auf ein Minimum. Parallel dazu werden die Hochschulen den leistungsorientierten Strukturen der Industrie angepasst. Nicht zufällig hieß ein universitäres Symposium im Mai 1985 „Innovation, Eliten und Ausbildungssystem“. Nicht zufällig auch der Veranstaltungsort: Konstanz.
Konstanz ist nach München und Stuttgart die Stadt mit der – relativ gesehen – dritthöchsten Dichte an Computerunternehmen in der BRD. Am Bodensee gibt es weitere Unternehmen, die dem High-Tech-Sektor (Mikro- und Optoelektronik, Werkstofftechnik, Biotechnik, Lasertechnik und Informations- und Kommunikationstechnik) zuzuordnen sind: Dornier in Immenstaad (gehört zum größten SDI-Konzern in der BRD: Daimler-Benz); Bodenseewerk-Gerätetechnik in Überlingen (Eigentümer: die US-Firma Perkin-Elmer); Contraves in Stockach (eine Rüstungsfabrik von Bührle-Oerlikon).
Doch das Zentrum ist die Konzilstadt. Dass die beschauliche Stadt zu einem Mittelpunkt der technologischen Entwicklung wurde, hat sie ihrer Nähe zur Schweiz zu verdanken. Im zweiten Weltkrieg verlagerten die pharmazeutischen Byk-Gulden-Werke (Berlin) ihren Sitz nach Konstanz, „um Herstellungsvorschriften, Verträge und Wertpapiere in Sicherheit zu bringen.“ Das „traditionsreiche Unternehmen der forschenden pharmazeutischen Industrie“ (beide Zitate aus der Eigenwerbung), das inzwischen zu den zehn größten pharmazeutischen Unternehmen der BRD gehört, beschäftigt weltweit 4500 Menschen.
Der Weltkrieg führte auch die Elektronikfirma Pintsch, ein reines Rüstungsunternehmen, nach Konstanz. Pintsch, später von Telefunken aufgekauft und 1958 von AEG übernommen, war so etwas wie die Großmutter der Konstanzer Informations- und Kommunikationsfabriken. Aus Pintsch wurde die AEG, die derzeit mit über 1200 Beschäftigten Magnettongeräte, Briefsortieranlagen mit Anschriftenleser, Videocodiereinrichtungen und Verteilmaschinen, Computersysteme für grafische Datenverarbeitung und automatische Datenerfassungsgeräte herstellt. Aus einer Zusammenarbeit zwischen Nixdorf, dem nach Siemens bekanntesten Rechnerunternehmen in der BRD, und AEG entstand 1972 die Telefunken-Computer GmbH, die zwei Jahre darauf von Siemens übernommen wurde und inzwischen CGK heißt. Die CGK (über 670 Beschäftigte) stellt Schriftenleser von der Beleglese-Sortier-Maschine zum optischen Handleser und Spracherkennungsprozessoren her. Aus AEG entwickelte sich ebenfalls das Spezialunternehmen ATM (jetzt: Modcomp; eine hundertprozentige AEG-Tochter mit 40 Prozent Rüstungsanteil, das Automatisierungssysteme und Kommunikationstechnologie fertigt (340 Beschäftigte). CTM, ein Unternehmen, das Daten- und Textsysteme für vorwiegend mittelständige Firmen produziert (400 Beschäftigte), hat mit der Zellteilung der Computerbranche weniger zu tun. Aber immerhin: Firmengründer Otto Müller entwickelte 1960 für AEG-Konstanz den Kleincomputer TR 10.
Aus Konstanz kommen die Briefverteilungsanlagen, die in den Hauptpostämtern vieler Länder die Briefe automatisch sortie ren; hier werden die Lesepistolen für die Scanner-Aufdrucke weiterentwickelt, die auf vielen Warenpackungen zu finden sind; hier haben Ingenieure und Programmierer die Software in Panzern soweit gebracht, dass die Geschützrohre jede Bodenwelle ausgleichen.
Am Ufer des Bodensees wurden Computer entwickelt, die die Bundeswehr und Energieversorgungsunternehmen (z.B. im AKW-Bereich) einsatzfähig halten. Computer, die Lagerbestände über Spracheingabe festhalten. Computer, die handschriftlich ausgefüllte Überweisungscheques lesen. Computer, die betriebsinterne Daten in vielfarbene grafische Zeichnungen umsetzen. Und Programme. Programme, die den maschinenlesbaren Personalausweis der BRD überhaupt erst ermöglichten. Dieser brachte die BRD auf dem Weg zum Überwachungsstaat einen großen Schritt voran. Programme, die eine minutiöse betriebliche Kontrolle ermöglichen: Wer kommt wann, isst was in der Kantine, verbringt wieviele Minuten auf der Toilette?
Die mittelgroße Stadt am See beherbergt inzwischen rund fünfzig Unternehmen, die dem Informations- und Kommunikationssektor zuzuordnen sind. AEG, CGK, Modcomp und CTM sind die größten; Firmen wie Columbus Contact, die Leiterplatten, lötlose Verdrahtungssysteme und Messstellenumschalter fertigen, oder GSC, die mit CTM-Systemen den EDV-Einsatz in Fertigungsbetrieben optimieren, wuchern an den Randzonen. Die Kleinunternehmen sind, sagen Immo Göpfrich und Rainer Meschenmoser vom Konstanzer Wirtschaftsförderungsamt, Ergebnis eines ,,,Spin-Off-Effekts“. Dieser könne sich noch verstärken, wenn sich die lokalen Banken „gründerfreundlicher“ zeigten, und das mit 1,75 Millionen Mark aus der Stadtkasse geförderte Technologiezentrum und die vier Transferzentren der Konstanzer Fachhochschule keine Akzeptanzprobleme mehr zu gegenwärtigen hätten. „Die Arbeitsplätze“, hofft Göpfrich, „erlangen zusehends symbiotischen Charkter“, sind immer mehr von betriebsübergreifender Zusammenarbeit geprägt. Vernetzung ist das Stichwort. Unternehmer tauschen Informationen aus und nutzen die staatlichen Forschungseinrichtungen, die der Industrie entgegenkommen sollen.
In einer Zeit, in der Universitäten die gleiche Bedeutung besitzen wie einst Kohle- und Erzvorkommen, da Gehirne und der Informationsfluss zwischen denselben einen Wert erlangen, den früher Bodenschätze für die Kapitalisten hatten, versinken herkömmliche Infrastruktureinrichtungen zur Geschichte und bilden bestenfalls noch eine Kulisse für industriearchäologische Freiluftmuseen.
Wer mir da gegenübersitzt, hatte seine Frau schon am Tag zuvor am Telefon verraten: „Er ist das größte lebende Genie in der Computerentwicklung Europas.“ Otto Müller sieht zwar so unscheinbar aus wie er heißt, aber Genies erkennt man nicht an der Nasenspitze. Woran dann? Am Ruhm? Den hat er nur in Insiderkreisen und in Konstanz, wo manche Leute meinen, dass der tote Nixdorf heute noch im Grabe rotiere, weil er den Müller damals hat gehen lassen. Am Geld? Daran fehlt’s nicht, wie die Luxusvilla in Litzelstetten zeigt. Bevor er und seine Frau Ilse ihren Anteil an CTM für 15 Millionen Mark verkauften, hätten sie 10 Millionen „Erspartes“ auf dem Konto gehabt. Kein im Reichtum Aufgewachsener redet vom „Erspartem“; davon sprechen nur die Aufsteiger. Und Aufsteiger waren sie beide: Otto Müller, 52, der Erfinder und Konstrukteur, mit einem Gespür für die Marktentwicklung im Rechnerbereich; Ilse Müller, 48, ohne die „der Beste“, wie sie sagt, sich nicht hätte durchsetzen können. Er entwickelt die Ideen und sie, die „Vollblut-Innovations-Unternehmerin“ (Ilse Müller über Ilse Müller), setzt diese um.
1960 entwickelte Otto Müller einen Kleincomputer für AEG. Die Firma, damals im Großrechnergeschäft, wollte davon nichts wissen. „Die glaubten damals, der Computer sei ein Gerät“, sagt Müller, „dabei ist der Rechner ein System.“ Die Annahme, dass Rechnerkosten nur sinken, wenn die Rechner größer werden, teilten zu der Zeit alle Firmen auf dem Computersektor. IBM brauchte lange, um sich umzustellen. Der TR 10 für AEG war Müllers erste Entwicklung. Ihr folgte das System 820 für Nixdorf, mit dem das Paderborner Unternehmen einen „Weltschlager“ (Müller) landete. Dieser Arbeitscomputer („mit ihm habe ich die heutigen Personal Computer vorweggenommen“) gründete auf einer ebenso einfachen wie genialen Idee: Während zuvor mehrere Terminals in direkter Abhängigkeit mit dem Datenmaterial im Großrechner arbeiteten und sich dabei gegenseitig blockierten, entwicklete Müller unabhängige Arbeitsplätze, die – mit einem eigenen Speicher versehen – die Daten morgens aus dem Rechner abrufen und sie abends zurückspeisen. Damit war die Dezentralisierung in der elektronischen Datenverarbeitung möglich geworden.
Nach Entwicklungen im „landschaftlich wunderbaren“ Kalifornien kamen die Müllers nach Konstanz; nicht nur „weil in Paderborn entweder die Glocken läuten oder es zu regnen beginnt“, sondern weil Ilse Müller im Verbund mit anderen High-Tech-Unternehmen am See eine Art Silicon-Valley erträumte. Entscheidend war auch die Nähe zu Kloten. „Wir sind hier international besser angebunden als Stuttgart oder München.“ Vom Bodensee aus könne man fast jede Hauptstadt Europas erreichen und abends wieder zurück sein.
Mit dem in Kalifornien erdachten CTM 70-Rechner begründen der Denker und seine Managerin, die im CDU-Wirtschaftsrat sitzt, ihre Firma am Bodensee; 1983 folgt mit CTM 9032 der erste 32-Bit-Rechner der BRD. Ein Jahr später verdrängt der Waffenfabrikant und Mehrheitsgesellschafter Diehl die Müllers aus ihrem Betrieb – „mit Hilfe der Scheiß-Stadtverwaltung von Konstanz“, wie Otto Müller zitiert werden will („Schreiben Sie das nur auf“). Von ihm bekomme diese Gemeinde keinen Pfennig Steuern mehr. Die Stadt habe nicht die Gründerfamilie unterstützt (Otto und Ilse), sondern sich einem Großkonzern zu Füßen geworfen, weil dieser mehr Sicherheit verspreche. Die Gründstücksfirma des alten Diehl sei so an das Gebiet Oberlohn-Nord gekommen, und mit dem Gründstück hätte das branchenfremde Unternehmen Oberwasser bekommen. Der Groll, der in seinen Worten mitschwingt, kommt aus der Erkenntnis, dass „es vor 15 Jahren noch möglich war, ein Unternehmen in dieser Branche aufzubauen. Heute nicht mehr. Jetzt braucht man ganz andere Kapitalreserven.“
Der Gründerboom scheint vorbei zu sein, bevor ihn die Öffentlichkeit registriert hat. Die Entwicklung wird von Industriefirmen bestimmt, die für staatlich geförderte Mittelstandsgründungen nur ein müdes Lächeln übrig haben. Von Technologiezentren, Technologieparks und ähnlichem hält Müller jedenfalls nicht viel. Die basteln, während er denkt. „Bastler probieren etwas aus, wenn sie intelligenzmäßig nicht weiterkommen“, sagt er. Bei ihm laufe alles im Kopf ab. Er erdenke sich den Rechner im Kopf, optimiere ihn zwei bis drei Mal und erst dann würde das System zu Papier gebracht: „Im Kopf radiert es sich leichter.“ Derzeit sitze er an seinem sechsten Rechner, der an die größten europäischen Computerfirmen verkauft werden soll, erklärte er. Inzwischen hat Siemens seine neueste Entwicklung gekauft, ohne die Exklusivrechte zu bekommen – für ein Projekt dieser Bedeutung ist dies ungewöhnlich. Müllers neuer Mikroprozessor, den er in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf die Mainau oder auf Spaziergängen ersann, hat 65 000 Schnittstellen und soll 25 Millionen Befehle pro Sekunde ausführen können. „Die Denkarbeit gleicht der eines Schachspielers, der hundert Partien gleichzeitig im Kopf hat und kein einziges Remis zulassen darf, sonst funktioniert das System nicht“, erläutert Ilse Müller. Der vielleicht schnellste Mikroprozessor der Welt, ein Großrechner zum Preis eines Kleinen, ist ein evolutionärer Schnitt in der Rechnerarchitektur.
Sie kommen von überall her, die modernen Industrienomaden. Die Firmen rekrutieren ihre Beschäftigten oft auswärts, die Müllers wollten gar im mittleren Management keine KonstanzerInnen haben, „weil die auf ihrem Feierabend bestehen und in den Weinkneipen rumhocken.“ Das ist schlecht für den Profit. Auswärtige, die niemanden außer ihren KollegInnen kennen, ihre sozialen Beziehungen daher innerhalb des Betriebes finden und zudem mit Freude an ihrem Computer-Programmen schaffen, sind da flexibler. Auch deswegen, weil sie sich oft in hohem Maße mit ihrer Arbeit identifizieren. In den High-Tech-Firmen sind die Hierarchien anders als in den Fabriken, wo Malocherlnnen schuften. Die Hierarchien sind nicht so durchsichtig, oft kommt der Druck nicht von oben, sondern von der Seite; von oben werden unmögliche Termine vorgegeben, die von den Abteilungen eingehalten werden müssen. Da übt dann die Gruppe den direkten Zwang aus, nicht der Boss. Wer keine Überstunden klopft, zwingt die anderen in der Gruppe zu noch mehr Arbeit; an die Stelle des offenen Diktats von oben ist der soziale und moralische Druck getreten.
In manchen Betrieben – zum Beispiel CTM, wie Rosa Maria Heim berichtet – hat der Schaffenseifer der ersten Jahre allerdings etwas nachgelassen: „Es sind vor allem die Jungen, die bis in die Nacht hinein auf die Tasten hauen, die älteren machen häufig pünktlich Feierabend.“
Der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad in den Computerfirmen (zwischen zehn und 26 Prozent) ist ein Ausdruck der Identifikation der Beschäftigten. Während die MetallarbeiterInnen der Region (Organisationsgrad zwischen 75 und 98 Prozent) an Gussöfen, Schmiedehämmern und Walzstraßen schwitzen, sehen sich die KonstrukteurInnen, EntwicklerInnen und ProgrammiererInnen als KünstlerInnen, die kreativ tätig sind. Wenn die drei Tage lang nur durch den Betrieb spazieren, hat niemand was dagegen. Hauptsache sie werden rechtzeitig fertig. Dass im Fertigungsbereich zunehmend rechnergesteuerte Personalinformationssysteme eingesetzt werden, die jeden Handgriff, jeden Schritt überwachen, stört die Software-Leute wenig: Erstens betrifft es sie nicht, zweitens entwickeln sie ja Programme dafür. Ihr Verhalten gleicht dem der frühen Arbeitsemmigrantlnnen: Durchziehen, schaffen, was anfällt, Arbeitsnormen drücken, Geld verdienen. Nur haben sie im Unterschied zu den „GastarbeiterInnen“ kein zu Hause im Kopf, für welches sich der Stress lohnt. Ihr zu Hause ist der Betrieb. Und zurück wollen sie auch nicht. Ihnen gefällt es am See.
Dabei sind die Beschäftigten nicht unpolitisch. Ihre distanzierte Haltung zu den Gewerkschaften hat mehr mit dem Handarbeitercharakter der IG Metall zu tun als mit den Zielen der ArbeiterInnenbewegung. „Während der letzten Warnstreiks zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche haben sich genauso viele Unorganisierte wie Organisierte beteiligt“, berichtet Gabi Straschewski.
Die von der IG Metall angestrebte Arbeitszeitverkürzung stößt gleichwohl auf Kritik. „Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie lange ich arbeiten darf“, sei eines der Hauptargumente der EntwicklerInnen, meint Detlef Dürr, Betriebsratsvorsitzender von Modcomp. Gesellschaftspolitisch fänden das viele ja in Ordnung, aber der Einzelne wolle sich nicht daran halten. „Ein individualistisches Bewusstsein herrscht vor“, sagt der frühere Berliner. „Keiner will glauben, dass auch in der Software irgendwann mal der Ofen aus ist. Aber woher sollen sie das Wort Solidarität kennen. An den Universitäten ist der Konkurrenzkampf voll im Gange; dort lernen sie das Gegeneinander, nicht das Miteinander.“ Jeder freut sich über seinen Erfolg; das Team jubelt, wenn es einen Sieg über die Konkurrenz davongetragen hat.
Dabei, so Detlev Dürr, ist der Niedergang auf dem Arbeitsmarkt für Software-Spezialistlnnen und EntwicklerInnen unverkennbar. Es gebe Betriebe, bei denen sich auf einen offenen Posten 170 BewerberInnen meldeten. Die RationalisiererInnen, so scheint es, rationalisieren sich selber am schnellsten weg. CGK baute Ende letzten Jahres 35 Arbeitsplätze ab; auch in CTM sei von Aufschwung nichts mehr zu spüren, meinte die ehemalige Programmierassistentin Heim. Der Preissturz im Hardware-Geschäft erhöhe den Druck auf die Beschäftigten, sagt Dürr – und den Kleinen gehe es besonders schnell an den Kragen. Aus diesem Grund hat der Entwickler für Späths Konzepte auch wenig übrig. „Die Technologiezentren werden sich totlaufen. Das in Konstanz funktioniert nur, weil die Großfirma Leitz eingestiegen ist. In den USA leben noch knapp 40 Prozent der Technologieparks.“ Die Nischen, die das Konstanzer Wirtschaftsförderungsamt für experimentierfreudige JungunternehmerInnen zu sehen glaubt, werden seltener und kleiner. Die vielen neuen Existenzgründungen sind teilweise auf die Politik der Firmen zurückzuführen, „die Mitarbeiter in die Selbständigkeit locken, ihnen dicke Aufträge versprechen und dann nach und nach die Zusammenarbeit einstellen“ (Detlef Dürr). Eine billige Methode, Leute loszuwerden. Keines der hoffnungsfrohen Kleinunternehmen meint Dürr, werde langfristig überleben. Da mag der Daimler-Benz-Staat Baden-Württemberg mit seiner technologieorientierten Mittelstandsförderung noch so tatkräftig nachhelfen wollen: Die neuen Technologien befinden sich längst in den Händen kapitalkräftiger Großunternehmen. Der Computerfreak als Unternehmer bleibt eine Schimäre.