High-Tech-Landschaft Bodensee. Der Boom ist vorbei

Aus AEG ist längst Siemens geworden, das auch schon zum Verkauf steht; Byk-Gulden gibt es nicht mehr und seine Nachfolger auch nicht; die EG heißt jetzt EU und Ministerpräsident Späth ist längst Geschichte. Aber ansonsten hätte der „Nebelhorn“-Artikel von Pit Wuhrer aus dem Jahre 1988 auch heutzutage geschrieben werden können. Denn Einschätzungen und Hoffnungen, Themen und Probleme sind immer noch die selben. Oder: Haben wir denn gar nichts gelernt? 

High-Tech-Landschaft Bodensee – der Boom ist vorbei
aus: Nebelhorn Nr. 81, Februar 1988, von Pit Wuhrer, Fotos (2013): Wolfram Mikuteit

High Technology, Technologietransfer, innovative Industrien – diese Fremdwörter haben eine große Anziehungskraft. Sie stehen für Fortschritt und Wachstum. Konstanz ist eines der Zentren der High-Tech-Industrie. Warum haben sich Firmen ausgerechnet diesen verschlafenen Ort ausgesucht? Wird sich die Zahl der selbständigen Computerspezialisten weiter erhöhen? Oder geht es schon wieder bergab?

am Seerhein, gleich neben dem Kompetenzzentrum - Foto: © Wolfram Mikuteit

Konstanz – hoher Leerstand bei Gewerbeimmobilien. Bezahlbarer Wohnraum – Fehlanzeige

Die Sonne strahlt ins Labor. Und der Ingenieur blinzelt durch die Fenster­scheiben nach draußen. Der Föhn hat die Konstanzer Altstadt unwirklich nahe ge­rückt, der Thurgauer Seerücken glänzt in al­len Details und die metereologische Meßsta­tion auf dem Säntisgipfel leuchtet, als sei sie nur einen mehrstündigen Fußmarsch weit ent­fernt. Dem Mann, der hier mit neuesten For­schungsgeräten und hochkomplizierten Ap­paraten an der Entwicklung von amorphen Tonköpfen für Tonbandmaschinen arbeitet, gefällt es. „So einen Arbeitsplatz findest du in Europa nicht so schnell“, sagt er. Ein Blick aus dem Fenster – und die Forschungsarbeit gehe schneller von der Hand.

Der Ingenieur im obersten Stockwerk des Fabrikgebäudes der AEG ist nicht der einzi­ge, der in Konstanz so redet. Auch in den um­liegenden Großraumbüros und Versuchsstät­ten ist die „unverbrauchte Natur“ für Entwicklerinnen, Programmiererinnen, Hard- und SoftwarespezialistInnen von Bedeu­tung.

„Bei CTM wurde immer untertariflich be­zahlt“, sagt Rosa Maria Heim, die aus Rheinfelden kam und zehn Jahre lang in dem Unternehmen arbeitete. „Aber als nach der Über­nahme durch SEL Gerüchte umliefen, denen zufolge der Betrieb nach Stuttgart verlegt wer­den sollte, haben viele in Gedanken mit der Kündigung gespielt – an den Neckar wollte niemand ziehen.“ Rosa Maria Heims ehema­liger Chef, Otto Müller, sah das ähnlich. „Als wir von Kalifornien nach Deutschland zurück­kehrten, habe ich nicht lange überlegen müs­sen, wo ich den Fertigungsbetrieb für meinen Rechner gründe“, erzählte er mir. „Für mich kamen nur drei Orte in Frage: Freiburg, Mün­chen und Konstanz, mit seiner Nähe zur Schweiz, keine Autostunde von Kloten ent­fernt, und dann der See, die Berge, die wun­derschöne Landschaft, der nahe Schwarz­wald. Wenn schon arbeiten, dann hier.“

Sunways KN - Foto: © Wolfram Mikuteit

Hight-Tech-Landschaft Bodensee – der Boom ist vorbei

Erholsame Erde, einigermaßen frische Luft und halbwegs sauberes Wasser: das lockt. Ga­bi Straschewski, Betriebsrätin in der Compu­ter-Gesellschaft-Konstanz (CGK): „Die Leu­te kommen von überall her, vor allem aus Norddeutschland. Während Computerbetrie­be im Norden Probleme mit ihren Stellenaus­schreibungen hatten, konnte CGK früher über Bewerbungen nicht klagen.“ Und Detlef Dürr, Betriebsratsvorsitzender von Modcomp und selber Entwickler: „Wir wundern uns über jeden im Betrieb, der aus Konstanz kommt.“ Es sind so wenige.

In den High-Tech-Betrieben von Kon­stanz ist der Kontakt zur Natur, der Freizeitwert einer Landschaft, zur Produktionsgröße aufgestiegen. Die dritte Indu­strielle Revolution entfaltet sich in Gebieten, die von der ersten (schwerindustriellen) und der zweiten (massenkonsumptiven) Indu­striellen Revolution verschont geblieben sind. Während die ersten Fabrikanten dort ansie­delten, wo Eisenerz- und Kohlevorkommen die Schwerindustrie ermöglichten und die Fa­brikherren der Massenproduktion (Autos, Elektrotechnik, Konsumgüter) ihre Werke in den Ballungszentren bauen ließen, sind die High-Tech-Unternehmer von den herkömm­lichen Infrastrukturen nicht mehr abhängig.

Die früheren Industrialisierungsschübe ha­ben die Landschaften nachhaltig zerfressen und die vielgliedrigen handwerklichen und mittelständigen Produktionsstrukturen ver­nichtet, welche eine wesentliche Vorausset­zung für die neue Industrialisierung sind. Ruhrgebiet, Saarland, die Küstenregionen, das Rhein-Main-Gebiet bilden teilweise und ganz zerstörte Lebensräume, in denen die Großindustrie das Handwerk weitgehend verschlungen hat; Baden-Württemberg blieb da­von weitgehend unberührt. So ist das Land, durch die EG aus einer Randlage in den Mit­telpunkt Europas gerückt, zum Aufmarsch­platz der elektronischen Revolution gewor­den.

Die Politik der baden-württembergischen Landesregierung ist nur das Tüpfelchen auf dem „i“. Ihre „forschungs- und technologieo­rientierte Förderpolitik“ und ihre „innovationsorientierte und investitionsgetragene Strategie zur Sicherung der Wachstums- und Wettbeberbsfähigkeit“ schaffen die klimati­schen Rahmenbedingungen und geben den Unternehmen Gewissheit, dass sie sich auf die­sen Regionalstaat in jeder Hinsicht verlassenkönnen. Schließlich will der baden-württem­bergische Mmisterpräsident Lothar Späth ei­ne „möglichst konforme Wellenlänge zwi­schen Wirtschaft und Politik“ erzielen. Über­all im Land schießen subventionierte Technologieparks und -zentren aus dem Boden.

Hochschulen richten Technologie-Trans­fer-Zentren ein, in denen sich studentischer Forschungsgeist mit unternehmerischem Pro­fitstreben paaren soll. Und neuartige Ver­kehrsnetze erschließen zügig den Südwesten der BRD – Glasfaserkabel werden künftig die Bedeutung von Autobahnen, Schienenstrecken und Wasserstraßen erlangen. Noch in die­sem Jahr, so die Oberpostdirektion in Stutt­gart, sollen alle größeren Städte auf dieseWeise miteinander verbunden und an Richt­funkstellen angeschlossen sein.

Konstaner Kompetenzzentrum - Foto: © Wolfram Mikuteit

Leerstand – Konstanzer Kompetenzzentrum. Warum wollen die hofierten Vorzeigebranchen nicht rein?

Eine ähnliche Umstrukturierung findet im Bildungsbereich statt. Auf Kosten der „Dis­kussionswissenschaften“ werden die Universi­täten in den Dienst des Unternehmertums ge­stellt – das Kultusministerium baut die natur­wissenschaftlich und technisch orientierten Fachbereiche aus und reduziert die Sozial- und Geisteswissenschaft auf ein Minimum. Parallel dazu werden die Hochschulen den lei­stungsorientierten Strukturen der Industrie angepasst. Nicht zufällig hieß ein universitäres Symposium im Mai 1985 „Innovation, Eliten und Ausbildungssystem“. Nicht zufällig auch der Veranstaltungsort: Konstanz.

Konstanz ist nach München und Stutt­gart die Stadt mit der – relativ gesehen – dritthöchsten Dichte an Computerunternehmen in der BRD. Am Bo­densee gibt es weitere Unternehmen, die dem High-Tech-Sektor (Mikro- und Optoelektro­nik, Werkstofftechnik, Biotechnik, Laser­technik und Informations- und Kommunikationstechnik) zuzuordnen sind: Dornier in Immenstaad (gehört zum größten SDI-Konzern in der BRD: Daimler-Benz); Bodenseewerk-Gerätetechnik in Überlingen (Eigentümer: die US-Firma Perkin-Elmer); Contraves in Stockach (eine Rüstungsfabrik von Bührle-Oerlikon).

Doch das Zentrum ist die Konzilstadt. Dass die beschauliche Stadt zu einem Mittelpunkt der technologischen Entwicklung wurde, hat sie ihrer Nähe zur Schweiz zu verdanken. Im zweiten Weltkrieg verlagerten die pharmazeutischen Byk-Gulden-Werke (Berlin) ihren Sitz nach Konstanz, „um Herstellungsvor­schriften, Verträge und Wertpapiere in Si­cherheit zu bringen.“ Das „traditionsreiche Unternehmen der forschenden pharmazeutischen Industrie“ (beide Zitate aus der Eigen­werbung), das inzwischen zu den zehn größ­ten pharmazeutischen Unternehmen der BRD gehört, beschäftigt weltweit 4500 Men­schen.

Der Weltkrieg führte auch die Elektronik­firma Pintsch, ein reines Rüstungsunterneh­men, nach Konstanz. Pintsch, später von Telefunken aufgekauft und 1958 von AEG über­nommen, war so etwas wie die Großmutter der Konstanzer Informations- und Kommuni­kationsfabriken. Aus Pintsch wurde die AEG, die derzeit mit über 1200 Beschäftigten Magnettongeräte, Briefsortieranlagen mit Anschriftenleser, Videocodiereinrichtungen und Verteilmaschinen, Computersysteme für grafische Datenverarbeitung und automati­sche Datenerfassungsgeräte herstellt. Aus ei­ner Zusammenarbeit zwischen Nixdorf, dem nach Siemens bekanntesten Rechnerunter­nehmen in der BRD, und AEG entstand 1972 die Telefunken-Computer GmbH, die zwei Jahre darauf von Siemens übernommen wur­de und inzwischen CGK heißt. Die CGK (über 670 Beschäftigte) stellt Schriftenleser von der Beleglese-Sortier-Maschine zum opti­schen Handleser und Spracherkennungsprozessoren her. Aus AEG entwickelte sich ebenfalls das Spezialunternehmen ATM (jetzt: Modcomp; eine hundertprozentige AEG-Tochter mit 40 Prozent Rüstungsanteil, das Automatisierungssysteme und Kommuni­kationstechnologie fertigt (340 Beschäftigte). CTM, ein Unternehmen, das Daten- und Textsysteme für vorwiegend mittelständige Firmen produziert (400 Beschäftigte), hat mit der Zellteilung der Computerbranche weni­ger zu tun. Aber immerhin: Firmengründer Otto Müller entwickelte 1960 für AEG-Konstanz den Kleincomputer TR 10.

takeda - Foto: © Wolfram Mikuteit

Es fehlen neue Firmen in Konstanz – und zwar solche mit gutbezahlten Arbeitsplätzen

Aus Konstanz kommen die Briefverteilungsanlagen, die in den Hauptpostämtern vieler Länder die Briefe automatisch sortie ren; hier werden die Lesepistolen für die Scanner-Aufdrucke weiterentwickelt, die auf vielen Warenpackungen zu finden sind; hier haben Ingenieure und Programmierer die Software in Panzern soweit gebracht, dass die Geschützrohre jede Bodenwelle ausgleichen.

Am Ufer des Bodensees wurden Com­puter entwickelt, die die Bundeswehr und Energieversor­gungsunternehmen (z.B. im AKW-Bereich) einsatzfähig halten. Computer, die Lagerbe­stände über Spracheingabe festhalten. Computer, die handschriftlich ausgefüllte Überweisungscheques lesen. Computer, die be­triebsinterne Daten in vielfarbene grafische Zeichnungen umsetzen. Und Programme. Programme, die den maschinenlesbaren Personalausweis der BRD überhaupt erst ermöglichten. Dieser brachte die BRD auf dem Weg zum Überwachungsstaat einen großen Schritt voran. Programme, die eine minutiöse betriebliche Kontrolle ermöglichen: Wer kommt wann, isst was in der Kantine, verbringt wieviele Minuten auf der Toilette?

Die mittelgroße Stadt am See beherbergt inzwischen rund fünfzig Unternehmen, die dem Informations- und Kommunikationssek­tor zuzuordnen sind. AEG, CGK, Modcomp und CTM sind die größten; Firmen wie Columbus Contact, die Leiterplatten, lötlose Verdrahtungssysteme und Messstellenum­schalter fertigen, oder GSC, die mit CTM-Systemen den EDV-Einsatz in Fertigungsbetrie­ben optimieren, wuchern an den Randzonen. Die Kleinunternehmen sind, sagen Immo Göpfrich und Rainer Meschenmoser vom Konstanzer Wirtschaftsförderungsamt, Er­gebnis eines ,,,Spin-Off-Effekts“. Dieser könne sich noch verstärken, wenn sich die lokalen Banken „gründerfreundlicher“ zeigten, und das mit 1,75 Millionen Mark aus der Stadtkas­se geförderte Technologiezentrum und die vier Transferzentren der Konstanzer Fach­hochschule keine Akzeptanzprobleme mehr zu gegenwärtigen hätten. „Die Arbeitsplät­ze“, hofft Göpfrich, „erlangen zusehends symbiotischen Charkter“, sind immer mehr von betriebsübergreifender Zusammenarbeit geprägt. Vernetzung ist das Stichwort. Unternehmer tauschen Informationen aus und nut­zen die staatlichen Forschungseinrichtungen, die der Industrie entgegenkommen sollen.

In einer Zeit, in der Universitäten die gleiche Bedeutung besitzen wie einst Kohle- und Erz­vorkommen, da Gehirne und der Informa­tionsfluss zwischen denselben einen Wert er­langen, den früher Bodenschätze für die Kapi­talisten hatten, versinken herkömmliche In­frastruktureinrichtungen zur Geschichte und bilden bestenfalls noch eine Kulisse für industriearchäologische Freiluftmuseen.

Konstanzer Kompetenzzentrum - Ende Juni 2013, Foto: © Wolfram Mikuteit

Konstanzer Kompetenzzentrum – ach ja, und der QR-Code funktioniert auch nicht

Wer mir da gegenübersitzt, hatte seine Frau schon am Tag zuvor am Telefon verraten: „Er ist das größte lebende Genie in der Computerentwicklung Europas.“ Otto Müller sieht zwar so un­scheinbar aus wie er heißt, aber Genies er­kennt man nicht an der Nasenspitze. Woran dann? Am Ruhm? Den hat er nur in Insiderkreisen und in Konstanz, wo manche Leute meinen, dass der tote Nixdorf heute noch im Grabe rotiere, weil er den Müller damals hat gehen lassen. Am Geld? Daran fehlt’s nicht, wie die Luxusvilla in Litzelstetten zeigt. Bevor er und seine Frau Ilse ihren Anteil an CTM für 15 Millionen Mark verkauften, hätten sie 10 Millionen „Erspartes“ auf dem Konto gehabt. Kein im Reichtum Aufgewachsener redet vom „Erspartem“; davon sprechen nur die Aufsteiger. Und Aufsteiger waren sie beide: Otto Müller, 52, der Erfinder und Konstruk­teur, mit einem Gespür für die Marktentwick­lung im Rechnerbereich; Ilse Müller, 48, ohne die „der Beste“, wie sie sagt, sich nicht hätte durchsetzen können. Er entwickelt die Ideen und sie, die „Vollblut-Innovations-Unternehmerin“ (Ilse Müller über Ilse Müller), setzt diese um.

1960 entwickelte Otto Müller einen Klein­computer für AEG. Die Firma, damals im Großrechnergeschäft, wollte davon nichts wissen. „Die glaubten damals, der Computer sei ein Gerät“, sagt Müller, „dabei ist der Rechner ein System.“ Die Annahme, dass Rechnerkosten nur sinken, wenn die Rechner größer werden, teilten zu der Zeit alle Firmen auf dem Computersektor. IBM brauchte lan­ge, um sich umzustellen. Der TR 10 für AEG war Müllers erste Entwicklung. Ihr folgte das System 820 für Nixdorf, mit dem das Paderborner Unternehmen einen „Weltschlager“ (Müller) landete. Dieser Arbeitscomputer („mit ihm habe ich die heutigen Personal Computer vorweggenommen“) gründete auf einer ebenso einfachen wie genialen Idee: Während zuvor mehrere Terminals in direk­ter Abhängigkeit mit dem Datenmaterial im Großrechner arbeiteten und sich dabei gegen­seitig blockierten, entwicklete Müller unab­hängige Arbeitsplätze, die – mit einem eige­nen Speicher versehen – die Daten morgens aus dem Rechner abrufen und sie abends zu­rückspeisen. Damit war die Dezentralisierung in der elektronischen Datenverarbeitung möglich geworden.

Nach Entwicklungen im „landschaftlich wunderbaren“ Kalifornien kamen die Müllers nach Konstanz; nicht nur „weil in Paderborn entweder die Glocken läuten oder es zu reg­nen beginnt“, sondern weil Ilse Müller im Verbund mit anderen High-Tech-Unterneh­men am See eine Art Silicon-Valley erträum­te. Entscheidend war auch die Nähe zu Kloten. „Wir sind hier international besser ange­bunden als Stuttgart oder München.“ Vom Bodensee aus könne man fast jede Hauptstadt Europas erreichen und abends wieder zurück sein.

das neue KKH? Foto: © Wolfram Mikuteit

centrotherm – das neue KKH?

Mit dem in Kalifornien erdachten CTM 70-Rechner begründen der Denker und seine Managerin, die im CDU-Wirtschaftsrat sitzt, ihre Firma am Bodensee; 1983 folgt mit CTM 9032 der erste 32-Bit-Rechner der BRD. Ein Jahr später ver­drängt der Waffenfabrikant und Mehrheitsgesellschafter Diehl die Müllers aus ihrem Be­trieb – „mit Hilfe der Scheiß-Stadtverwaltung von Konstanz“, wie Otto Müller zitiert wer­den will („Schreiben Sie das nur auf“). Von ihm bekomme diese Gemeinde keinen Pfen­nig Steuern mehr. Die Stadt habe nicht die Gründerfamilie unterstützt (Otto und Ilse), sondern sich einem Großkonzern zu Füßen geworfen, weil dieser mehr Sicherheit ver­spreche. Die Gründstücksfirma des alten Diehl sei so an das Gebiet Oberlohn-Nord ge­kommen, und mit dem Gründstück hätte das branchenfremde Unternehmen Oberwasser bekommen. Der Groll, der in seinen Worten mitschwingt, kommt aus der Erkenntnis, dass „es vor 15 Jahren noch möglich war, ein Un­ternehmen in dieser Branche aufzubauen. Heute nicht mehr. Jetzt braucht man ganz an­dere Kapitalreserven.“

Der Gründerboom scheint vorbei zu sein, bevor ihn die Öffentlichkeit registriert hat. Die Entwicklung wird von Industriefirmen bestimmt, die für staatlich geförderte Mittel­standsgründungen nur ein müdes Lächeln üb­rig haben. Von Technologiezentren, Techno­logieparks und ähnlichem hält Müller jeden­falls nicht viel. Die basteln, während er denkt. „Bastler probieren etwas aus, wenn sie intelli­genzmäßig nicht weiterkommen“, sagt er. Bei ihm laufe alles im Kopf ab. Er erdenke sich den Rechner im Kopf, optimiere ihn zwei bis drei Mal und erst dann würde das System zu Papier gebracht: „Im Kopf radiert es sich leichter.“ Derzeit sitze er an seinem sechsten Rechner, der an die größten europäischen Computerfirmen verkauft werden soll, erklär­te er. Inzwischen hat Siemens sei­ne neueste Entwicklung gekauft, ohne die Ex­klusivrechte zu bekommen – für ein Projekt dieser Bedeutung ist dies ungewöhnlich. Mül­lers neuer Mikroprozessor, den er in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf die Mainau oder auf Spaziergängen ersann, hat 65 000 Schnitt­stellen und soll 25 Millionen Befehle pro Se­kunde ausführen können. „Die Denkarbeit gleicht der eines Schachspielers, der hundert Partien gleichzeitig im Kopf hat und kein ein­ziges Remis zulassen darf, sonst funktioniert das System nicht“, erläutert Ilse Müller. Der vielleicht schnellste Mikroprozessor der Welt, ein Großrechner zum Preis eines Kleinen, ist ein evolutionärer Schnitt in der Rechnerarchi­tektur.

Sie kommen von überall her, die modernen Industrienomaden. Die Fir­men rekrutieren ihre Beschäftigten oft auswärts, die Müllers wollten gar im mittleren Management keine KonstanzerInnen haben, „weil die auf ihrem Feierabend bestehen und in den Weinkneipen rumhocken.“ Das ist schlecht für den Profit. Auswärtige, die niemanden außer ihren KollegInnen kennen, ih­re sozialen Beziehungen daher innerhalb des Betriebes finden und zudem mit Freude an ih­rem Computer-Programmen schaffen, sind da flexibler. Auch deswegen, weil sie sich oft in hohem Maße mit ihrer Arbeit identifizie­ren. In den High-Tech-Firmen sind die Hie­rarchien anders als in den Fabriken, wo Malocherlnnen schuften. Die Hierarchien sind nicht so durchsichtig, oft kommt der Druck nicht von oben, sondern von der Seite; von oben werden unmögliche Termine vorgege­ben, die von den Abteilungen eingehalten werden müssen. Da übt dann die Gruppe den direkten Zwang aus, nicht der Boss. Wer kei­ne Überstunden klopft, zwingt die anderen in der Gruppe zu noch mehr Arbeit; an die Stelle des offenen Diktats von oben ist der soziale und moralische Druck getreten.

Sunways KN - Foto: © Wolfram Mikuteit

Nix los mit IT, Solar und Pharma – stattdessen prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel

In manchen Betrieben – zum Beispiel CTM, wie Rosa Maria Heim berichtet – hat der Schaffenseifer der ersten Jahre allerdings etwas nachgelassen: „Es sind vor allem die Jungen, die bis in die Nacht hinein auf die Ta­sten hauen, die älteren machen häufig pünkt­lich Feierabend.“

Der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad in den Computerfirmen (zwischen zehn und 26 Prozent) ist ein Ausdruck der Identifikation der Beschäf­tigten. Während die MetallarbeiterInnen der Region (Organisationsgrad zwischen 75 und 98 Prozent) an Gussöfen, Schmiedehämmern und Walzstraßen schwitzen, sehen sich die KonstrukteurInnen, EntwicklerInnen und ProgrammiererInnen als KünstlerInnen, die kreativ tätig sind. Wenn die drei Tage lang nur durch den Betrieb spazieren, hat niemand was dagegen. Hauptsache sie werden rechtzeitig fertig. Dass im Fertigungsbereich zunehmend rechnergesteuerte Personalinformationssy­steme eingesetzt werden, die jeden Handgriff, jeden Schritt überwachen, stört die Softwa­re-Leute wenig: Erstens betrifft es sie nicht, zweitens entwickeln sie ja Programme dafür. Ihr Verhalten gleicht dem der frühen Arbeitsemmigrantlnnen: Durchziehen, schaffen, was anfällt, Arbeitsnormen drücken, Geld verdie­nen. Nur haben sie im Unterschied zu den „GastarbeiterInnen“ kein zu Hause im Kopf, für welches sich der Stress lohnt. Ihr zu Hause ist der Betrieb. Und zurück wollen sie auch nicht. Ihnen gefällt es am See.

Dabei sind die Beschäftigten nicht unpoli­tisch. Ihre distanzierte Haltung zu den Ge­werkschaften hat mehr mit dem Handarbei­tercharakter der IG Metall zu tun als mit den Zielen der ArbeiterInnenbewegung. „Während der letzten Warnstreiks zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche haben sich genauso viele Unorganisierte wie Organisierte beteiligt“, berichtet Gabi Straschewski.

Die von der IG Metall angestrebte Arbeits­zeitverkürzung stößt gleichwohl auf Kritik. „Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie lange ich arbeiten darf“, sei eines der Hauptargu­mente der EntwicklerInnen, meint Detlef Dürr, Betriebsratsvorsitzender von Modcomp. Gesellschaftspolitisch fänden das viele ja in Ordnung, aber der Einzelne wolle sich nicht daran halten. „Ein individualistisches Bewusstsein herrscht vor“, sagt der frühere Berliner. „Keiner will glauben, dass auch in der Software irgendwann mal der Ofen aus ist. Aber woher sollen sie das Wort Solidarität kennen. An den Universitäten ist der Konkur­renzkampf voll im Gange; dort lernen sie das Gegeneinander, nicht das Miteinander.“ Je­der freut sich über seinen Erfolg; das Team ju­belt, wenn es einen Sieg über die Konkurrenz davongetragen hat.

die Lastwagenfahrer wollen auch nicht mehr - Foto: © Wolfram Mikuteit

Die Trucker fühlen sich in Singen wohler – also nicht nur High-Tech-Arbeitsplätze werden verlagert

Dabei, so Detlev Dürr, ist der Nieder­gang auf dem Arbeitsmarkt für Software-Spezialistlnnen und Entwick­lerInnen unverkennbar. Es gebe Betriebe, bei denen sich auf einen offenen Posten 170 Be­werberInnen meldeten. Die RationalisiererInnen, so scheint es, rationalisieren sich selber am schnellsten weg. CGK baute Ende letzten Jahres 35 Arbeitsplätze ab; auch in CTM sei von Aufschwung nichts mehr zu spüren, meinte die ehemalige Programmierassistentin Heim. Der Preissturz im Hardware-Geschäft erhöhe den Druck auf die Beschäftig­ten, sagt Dürr – und den Kleinen gehe es be­sonders schnell an den Kragen. Aus diesem Grund hat der Entwickler für Späths Konzep­te auch wenig übrig. „Die Technologiezentren werden sich totlaufen. Das in Konstanz funk­tioniert nur, weil die Großfirma Leitz einge­stiegen ist. In den USA leben noch knapp 40 Prozent der Technologieparks.“ Die Nischen, die das Konstanzer Wirtschaftsförderungsamt für experimentierfreudige Jungunternehme­rInnen zu sehen glaubt, werden seltener und kleiner. Die vielen neuen Existenzgründun­gen sind teilweise auf die Politik der Firmen zurückzuführen, „die Mitarbeiter in die Selb­ständigkeit locken, ihnen dicke Aufträge ver­sprechen und dann nach und nach die Zusam­menarbeit einstellen“ (Detlef Dürr). Eine bil­lige Methode, Leute loszuwerden. Keines der hoffnungsfrohen Kleinunternehmen meint Dürr, werde langfristig überleben. Da mag der Daimler-Benz-Staat Baden-Württemberg mit seiner technologieorientierten Mittel­standsförderung noch so tatkräftig nachhelfen wollen: Die neuen Technologien befinden sich längst in den Händen kapitalkräftiger Großunternehmen. Der Computerfreak als Unternehmer bleibt eine Schimäre.