Kritisch, widerborstig, links-diplomatisch

Vera Hemm ist linkes, allseits beliebtes Konstanzer Urgestein, geboren 1935 im Konstanzer Vincentius-Krankenhaus. Soeben hat sie ihr zweites Buch veröffentlicht: „Brot und Rosen: Lieder, Texte, Sketche“. Am kommenden Sonntag, 27.11., 11 Uhr, wird es in der Spiegelhalle vorgestellt.

Seit einigen Jahren lebt sie altersbedingt etwas zurückgezogen in ihrer Wohnung im Konstanzer Stadtteil Paradies. In ihrer aktiven Zeit war sie bekannt als „rote Vera“. Vera Hemm ist bis heute undogmatisches Mitglied der DKP, IG-Chemie-Gewerkschafterin seit ihrer ersten (Arbeits)stunde, ehemalige Betriebsrätin, 20 Jahre lang Vorsitzende des DGB-Kreisfrauenausschusses, Mitgründerin und treibende Kraft der DGB-Frauenkulturgruppe und fast zehn Jahre lang Stadträtin der PDS / Linke Liste Konstanz. Sie ist nicht getauft, hatte jahrelang eine Beziehung zu einer Frau, und wenn sie etwas als ungerecht empfand, hat sie laut und deutlich dagegen protestiert.

Genug Anlässe also, im traditionell katholischen Konstanz anzuecken und misstrauisch beäugt zu werden. Aber so ist es nicht. Sie war und ist überall beliebt und respektiert, auch bei den politischen Gegnern. Nach ihrer ersten Sitzung im Konstanzer Gemeinderat am 27.01.2005 war sie erleichtert: „Ich kann mich überhaupt nicht beklagen, also ich bin von allen sehr freundlich aufgenommen worden, und habe nicht den Eindruck, dass die denken ‚hoi, da kommt eine linke Bazille’. Das könnte ja alles sein; ich bin im Zeitalter des Kalten Krieges groß geworden, da war das an der Tagesordnung. Ich habe den Eindruck, dass alles fair ausgetragen wird, man kämpft zwar um eine Meinung, und dann stimmt man ab, und das wars dann. Drei Frauen sind damals zu mir gekommen und haben mich beglückwünscht zu meinem Amt; da hat mir das Herz gelacht!“

Gelacht hat sie oft und gerne, sie hat fabuliert, musiziert und sich immer engagiert, für die Rechte von Benachteiligten im Allgemeinen und die der Frauen im Besonderen. Ihre gebündelten Talente mündeten 1980 in der Gründung der DGB-Frauenkulturgruppe „Menschen zufällig weiblich“, und das Buch, das am Sonntag vorgestellt wird, enthält ein Best-of ihrer politisch-humoristischen Texte, die sie für die DGB-Frauen verfasst hat. Sie sind alle im Rahmen der jährlichen Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag IFT am 08. März entstanden; überwiegend sind es Parodien bekannter Lieder, ferner Gedichte und Sketche zu politischen Streitthemen aus 31 Jahren Gewerkschafts- und Frauenarbeit, von 1980 bis 2011. Viele davon sind noch immer erschreckend aktuell – Gewalt gegen Frauen, Sozialabbau, atomare Bedrohung.

Vera Hemms Sprache ist die Sprache ihrer Zeit. Von den Originalwerken, die sie parodiert., werden im Buch die Titel und Urheber genannt. Wer sie noch im Ohr hat, Lieder wie „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ oder „Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar“, hört sie teilweise schmerzhaft aus der Entstehungszeit herüberschallen und freut sich über Vera Hemms genüssliche Neuinterpretationen. Gestaltet hat das Buch die junge HTWG-Studentin Marie Stemmler. Ihre Sprache drückt sich in Design, Typografie und Grafik aus und kann gar nicht hoch genug gelobt werden. Frischer Wind fegt durch die Seiten; Lyrik, Prosa und Design unterstützen und kontrastieren sich, tauschen sich aus. Das macht beim Lesen und Anschauen gleichermaßen Freude, und regt zum Denken und Fragen an.

Bei der Matinee am Sonntag zur Buchvorstellung ist Vera Hemm anwesend. Die Laudatio hält Julika Funk, die Leiterin der Chancengleichheitsstelle. Dass diese Stelle, damals noch als „Frauenbeauftragte“ bezeichnet, in Konstanz überhaupt geschaffen und nicht bald wieder gestrichen wurde, dazu haben auch Vera Hemm und die DGB-Frauen beigetragen. Bei der Veranstaltung gibt’s neben „Brot und Rosen“ auch Prosecco. Auf dass der Sonntagvormittag perle und prickele.

Text: Anja Böhme, Foto: Ulrike Sommer