„Mozart hat den Sängern in die Kehle geschissen“ (III)
Im dritten Teil unseres Gespräches berichtet Insa Pijanka, die Intendantin der Südwestdeutschen Philharmonie, über musikalische Urerlebnisse und vom Nutzen der Politik- und Geschichtswissenschaft für das Leben, das musikalische zumindest.
Teil I dieses Gespräches lesen Sie hier, Teil II findet sich hier.
seemoz: Es gibt viel schaurig gute Musik, die kaum jemals zu hören ist, obwohl sie zu den wichtigsten Werken der deutschen Nachkriegsgeschichte zählt: Von Stockhausen oder Bernd Alois Zimmermann beispielsweise hat es nichts dauerhaft ins Repertoire geschafft.
Pijanka: Ich hatte eine ungeheuer intensive Erfahrung in Bochum mit Zimmermanns „Soldaten“. Das ist eine Riesenoper mit zwei Orchestern und Jazz-Combo. Auch die Inszenierung war spannend, weil in einer Halle eine fahrbare Tribüne hineingebaut war. In den achtziger Jahren, als ich am Nationaltheater Mannheim im Kinderchor sang, liefen dort noch Stücke wie Schönbergs „Moses und Aaron“ oder Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“. Aber das spielt heute kaum noch jemand, nicht nur, weil es Riesenschinken sind, sondern weil sie ziemlich verstören. Die heutigen Programme der Opernhäuser sind oft frei von Überraschungen. Manchmal wundere ich mich aber, dass es eine Art von Zyklen gibt, sodass im selben Jahr sieben Häuser gleichzeitig „Carmen“ spielen.
Konflikte verstehen
seemoz: Was hat Sie an den Politik- und Sozialwissenschaften gereizt?
Pijanka: Ich habe mich im Studium als Sozialwissenschaftlerin, als die ich mich verstand, viel mit politischer Theorie beschäftigt. Das mündete bei mir in mein Spezialthema, nämlich die Ursachen von Gewalt und Konflikten in Gesellschaften. Ich wollte nach meinem Studium in der Konfliktforschung arbeiten, und der Konflikt, mit dem ich mich am intensivsten beschäftigt habe, war der Nordirland-Konflikt. Wenn man sich mit der Gewalt in Gesellschaften beschäftigt, kommt man schnell zu der Erkenntnis, wie systematisch und geplant viele dieser Konflikte sind, und wie viele Menschen davon profitieren. Diese Systeme funktionieren nicht nur, weil ein allgegenwärtiger Staat die Menschen unterdrückt oder zu etwas zwingt, sondern weil viele Menschen davon profitieren oder zumindest zu profitieren hoffen. Der Nationalsozialismus wie auch der Stalinismus funktionierten ja auch als ein System, das in den Augen vieler Menschen gut klappte, und zwar über Abhängigkeiten, über Aufstiegsmöglichkeiten und über Profit. Das muss man ganz rational betrachten und sich darüber klar werden, dass der Mensch nun mal so ist.
seemoz: Man denke nur an den früheren Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle und ähnliche Consorten wie die „Märzgefallenen“, also all die Beamten, Lehrer, Verwaltungsmenschen und Akademiker, die nach der Reichstagswahl am 5. März 1933, als die Nazis erkennbar fest im Sattel saßen, in solchen Massen in die Partei einzutreten versuchten, dass die NSDAP einen Aufnahmestopp erließ. Fast alles Beutegermanen reinster Denkungsart.
Pijanka: Ich bin übrigens über diese politischen Fragestellungen überhaupt erst auf Schostakowitsch gekommen. Ich hatte an der Universität Mannheim einen wundervollen Dozenten, Manfred Sapper, heute Herausgeber der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „OSTEUROPA“, der weit über den Tellerrand hinausschaute und uns lange Leselisten mit Literatur gab. Deshalb habe ich mich auch durch die sowjetische Literatur gearbeitet, dich ich bis heute sehr schätze. Und da sein Vater in Frankfurt Solo-Kontrabassist beim hessischen Rundfunk war, verfügte er auch über umfassende Musikkenntnisse, die er einbringen konnte, unter anderem gab er ein Seminar zum Thema Schostakowitsch. So bin ich mit Anfang 20 auf diese Musik gestoßen, weil ich mich mit dem Stalinismus beschäftigte. Meine Herangehensweise an Musik ist bis heute oft von einer Vernetzung von Musik, Literatur, Politik und Zeitgeschichte, von soziologischen Faktoren, von Malerei geprägt. Deshalb tue ich mich mit der Musikwissenschaft im engeren Sinne so schwer. Es gibt so viele spannende Debatten wie zum Beispiel die Ästhetik des Hässlichen. Das ist ein richtig philosophisches Thema mit riesigen Auswirkungen in die Künste hinein. Sich mit Musik (und anderen Kunstformen) zu beschäftigen, heißt immer auch, sich mit Gesellschaft, Geschichte und Politik zu beschäftigen.
Literatur und Musik
seemoz: Besonders deutlich wurde das wohl in der Romantik, zumal der deutschen.
Pijanka: Ich habe ein Herz für die Romantik und mich auch wegen der Nähe der romantischen Literatur zur Musik immer wieder mit ihr beschäftigt, besonders mit E.T.A. Hoffmann. Es macht aber keinen Sinn, von einer einheitlichen Epoche zu sprechen, denn die Klassik und die Romantik haben ja zum Teil gleichzeitig existiert, und später setzte sich die Romantik auch parallel zur Moderne noch fort. Da hat man sich gegenseitig aneinander abgearbeitet. Und auch die Romantik selbst in sich ist so heterogen, ziemlich ungleichzeitig und hat derart viele Ausprägungen, von den Naturidyllen über eine mir fremde Neo-Religiosität und nationalistische Tendenzen …
seemoz: … vom Antisemitismus ganz zu schweigen, denn plötzlich wollte man tiefinnerlichst deutsch sein und fragte sich, wer im Lande es nicht ist, und kann dann schnell auf „den Juden“, was ein weiterer Schritt in Richtung des deutschen Verhängnisses war.
Pijanka: Man muss mal genau schauen, zu welchem Zeitpunkt der Geschichte diese Tendenzen eingesetzt haben, und natürlich ist es kein Zufall, dass diese Themen in der Kultur im 19. Jahrhundert verstärkt aufgetreten sind. Wobei in der Musik die Romantik ja deutlich später eingesetzt hat als in der Literatur. Aber dass auf einmal die Komponisten „national“ klingen wollten oder sollten, ist natürlich kein Zufall. Ich bin eine Anhängerin der Theorie der „Constructed bzw. invented Nation“. Nation als natürliche Einheit gibt es danach nicht, das ist vielmehr ein durch klar erkennbare Interessen gesteuertes Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert. Die Behauptung, „wir“ seien schon immer eine territorial klar abzugrenzende Gemeinschaft mit gleichem nationalen Interesse und Identität gewesen, ist doch sehr fragwürdig, wenn man sich einmal die Sprachen, die Religionen oder die Kultur betrachtet. Ich denke, dass viele Künstler zum Teil aus Überzeugung, zum Teil aber auch aus Pragmatismus auf diesen Zug aufgesprungen sind, weil sie ihre Kunst so besser verkaufen konnten oder es eben dem Zeitgeist entsprach. Man denke nur an all die nationalen Märchen oder in der Musik an die Nationalstile. Man fragte sich auf einmal, wie klingt denn eigentlich tschechisch, wie polnisch usw.? Ein Mozart hätte diese Frage gar nicht verstanden, der hat italienisch komponiert, wenn er in Italien war, dann wieder hat er deutsch komponiert … oder Händel, der bis heute sowohl als deutscher wie auch als englischer Komponist gesehen werden kann und wird. Beide sahen sich als Kosmopoliten. Das ist also eine historisch betrachtet relativ neue Tendenz in der Kunst, die dann all die furchtbaren Ausprägungen wie den Nationalsozialismus und den Chauvinismus angenommen hat.
seemoz: Die Nationalidee kam in Deutschland etwa mit den Freiheitskriegen um 1813 auf, und als die Leute, die in diesen Kriegen ihr Fell hingehalten hatten, feststellen mussten, dass die Fürsten einfach wie bisher weitermachen wollten, begann sie dann zu grassieren, „Deutschland einig Vaterland“ auf Biedermeier. Aber nach den Karlsbader Beschlüssen haben sie sich brav zu Hause eingeigelt, Spinett gespielt und es dann 1848 wieder probiert, bis sie 1871 gnädig eine Art Nation aus den Händen der Preußen erhielten. Etwa zu dieser Zeit, also mit der Reichsgründung, hat das halbwegs siegreiche Bürgertum bezeichnenderweise endgültig aufgehört, musikalisch fortschrittliche Bestrebungen wie vorher etwa noch Schumann und Mendelssohn wenigstens etwas zu unterstützen. Brahms und Wagner gingen noch durch, aber Mahler hatte es schon deutlich schwerer, und bei Schönberg war dann bereits um 1910 endgültig der Ofen aus.
Mahler, nicht ganz leicht
Pijanka: Schon Mahler hatte es verdammt schwer, er stöhnte ja, „warum können denn meine Sinfonien nicht 60 Jahre später uraufgeführt werden?“ Das hat sich dann auch bewahrheitet, aber wir wissen natürlich auch nicht, was passiert wäre, wenn nicht Leonard Bernstein die Sinfonien von Mahler in den sechziger und siebziger Jahren eingespielt hätte. Mahler gehört für mich heute absolut zum Standardrepertoire, aber etwa in Konstanz tun sich viele Leute mit seiner Musik immer noch schwer, auch jetzt, über 100 Jahre nach seinem Tod. Seine Musik gehört zum schönsten, was überhaupt komponiert worden ist, und natürlich ist seine Musik „modern“, man spürt die damalige Wiener Moderne und was in ihr verhandelt wird. Aber das, was die meisten Menschen mit „modern“ meinen, atonal, „böse“, das ist Mahlers Musik nun ganz und gar nicht. Es ist spätromantische Musik, die teilweise an die Grenzen der Tonalität geht, nicht mehr und nicht weniger. Aber sie geht emotional an Grenzen, vielleicht nehmen wir sie deswegen bis heute als modern wahr.
seemoz: Schönberg und die Seinen bewunderten Mahler, der als Hofoperndirektor eine ganz große Nummer war, und wurden von ihm auch gelegentlich gefördert.
Pijanka: Schönberg und sein Kreis sowie Mahler kannten sich natürlich, aber damals in Wien kannte ohnehin jeder jeden, egal, ob Musik, Literatur oder Kunst, man saß ja in denselben Kaffeehäusern und verkehrte in denselben Zirkeln. Mahler war sogar kurz bei Freud und hat sich für Psychologie interessiert bzw. dort Hilfe für seine problematische Ehe zu Alma Mahler gesucht, und so kam eins zum anderen. Ich stelle mir diese Runden immer wieder faszinierend vor, in denen Klimt, Schiele, Kokoschka, Karl Kraus und viele andere zusammen saßen. Und wenn man die Zeichnungen ansieht, die damals entstanden sind, ist auch noch viel Erotik dabei. Es muss wahnsinnig gewesen sein, was damals alles abging. Sie verhandelten bei einem Getränk das Schicksal der Welt, vielleicht nicht immer wirklichkeitstauglich, aber immer künstlerisch faszinierend.
Was ist eigentlich „modern“?
seemoz: Die Moderne ist trotz ihrer Entstehung in oft geselliger Runde vielen Menschen noch immer ein Graus.
Pijanka: Vor allem: was heißt überhaupt „Moderne“ … eigentlich ist der Begriff ja anders als andere Epochenbezeichnungen reflexiv, also abhängig von unserem eigenen Standort und daher gar nicht eindeutig festzulegen. Bach hätte Beethoven sicher sehr modern gefunden … und vor allem: warum empfinden Menschen gewisse Dinge, die sie hören, als modern – und woran machen Sie das fest? Für mich ist das eine Debatte, die ich immer wieder führe. Wenn ich Schostakowitsch aufführe, bekomme ich immer wieder zu hören, „ach nein, Frau Pijanka, das ist ja so schrecklich modern“. Dabei ist Schostakowitsch nun wirklich kompositionshistorisch betrachtet nicht modern, nur in seiner 15. Sinfonie kratzt er so ein wenig an der Tonalität und schaut mal auf eine Zwölftonreihe. Schostakowitsch (1906-1974) war ja kein Zeitgenosse von Strauss (1864-1949) und Mahler (1860-1911), hatte aber trotzdem seine musikalischen Wurzeln im 19. Jahrhundert, wofür er auch immer wieder kritisiert wurde. Aber offensichtlich ist seine Musik eine Musik, und das habe ich immer wieder erlebt, die die Menschen so richtig angreift und anfasst.
seemoz: Was sich von den Klassikern der Moderne, die ja deutlich vor Schostakowitsch lebten, wahrlich nicht behaupten lässt. Denen zeigt das Publikum bis heute die kalte Schulter.
Pijanka: Das ist in der Tat erstaunlich, denn wenn man heute diese älteren Komponisten wie Schönberg (1874-1951), Berg (1885-1935) oder Webern (1883-1945), also Pioniere der inzwischen schon „klassischen“ Moderne, aufs Programm setzt, dann regen sich die Leute noch immer auf und schauen ganz ungläubig, wenn man sie daran erinnert, dass diese Musik teilweise schon 100 Jahre alt ist. Man muss zwischen moderner und zeitgenössischer Musik unterscheiden. Die Moderne ist ein Phänomen, das wir heute oft aus einer historischen Perspektive sehen, und das die Ablösung der Romantik ab etwa 1910 beschreibt. Zeitgenössische Musik hingegen meint ja zuerst einmal etwas, das zu unseren Lebzeiten entsteht. Und diese Musik arbeitet sich an ganz anderen Parametern ab. Das können auch Einflüsse aus der Romantik, dem Jazz, der Filmmusik oder aus vielen anderen Quellen sein.
seemoz: Eins verblüfft mich aber immer wieder: Wenn man eine Kandinsky-Ausstellung veranstaltet, rennen die Leute einem die Bude ein. Kandinsky kannte Schönberg, der ja auch malte, persönlich, und meinte, dass sie beide eigentlich dasselbe machen und hat sogar mal mit ihm zusammen ausgestellt. Gibt es aber Schönberg, sitzt man ziemlich allein da. Woran liegt das? Wieso klappt mit Malerei, was mit moderner Musik oder Lyrik nicht möglich ist?
Pijanka: Wenn Sie im Konzertsaal sitzen, sind sie einem einzigen Stück oft 30 oder 40 Minuten ausgeliefert, ob die Musik Ihnen nun gefällt oder nicht. Wenn Ihnen ein Bild in einer Ausstellung nicht passt, können Sie nach drei Sekunden einfach weitergehen. Und die Musik packt uns unmittelbarer und emotionaler, ihr können wir uns weniger entziehen.
seemoz: Vermutlich ist Musik einfach die am stärksten auf uns einwirkende Kunstform, denn Menschen singen zwar im Felde Soldatenlieder oder hören Hendrix, sie schleppen aber keine Gemälde mit herum, um sich daran zu erbauen oder ihre Kampfeslust zu stärken.
Das Gespräch mit Insa Pijanka führte Harald Borges, Bilder: Harald Borges (oben, im Probenraum der Philharmonie), sonst Privatbesitz. Mitte: Insa Pijanka als Statistin am Nationaltheater Mannheim in der „Verkauften Braut“ – das Kostüm aus böhmischem Brokat wog 4 Kilo, und es wurde darin auch getanzt. Unten: Insa Pijanka (links) in „La Bohème“, Mitte der neunziger Jahre.