Trotz Räumung – Grafi10 bleibt
Am Mittwoch wurde das selbstverwaltete Hausprojekt Grafi10 gestürmt. Die BewohnerInnen der Grafi10, die vier Tage lang friedlich und gewaltfrei mit der Nachbarschaft gelebt hatten, betonten nach der Räumung am frühen Abend mit einer Spontandemonstration sowohl ihren Unmut über die Staatsgewalt, als auch ihre Hoffnung, dass die Grafi10 kein nicht zu wiederholendes Projekt gewesen sei.
In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages wurde die Grafi10 mit einem unverhältnismäßigen Polizeieinsatz gestürmt. Des Weiteren wurde nach Informationen der AktivistInnen die AnwohnerInnenstraße komplett gesperrt, temporär ein faktischer Ausnahmezustand ausgerufen. Wenig später wurden Platzverweise ausgesprochen und einige der AktivistInnen – darunter zwei minderjährige – auf das Polizeipräsidium am Benediktinerplatz gebracht. Dort versammelten sich ebenfalls einige Menschen, um sich mit dem in Gewahrsam Genommenen zu solidarisieren.
Die solidarische Aktion wurde von der Staatsmacht ebenfalls unter Druck gesetzt. Die unter freiem Himmel befindenden Menschen wurden eingekesselt sowie ihre Personalien aufgenommen. Nachdem gegen 9:40 Uhr die letzte Person die Polizeiwache verlassen durfte, wurde spontan der Entschluss gefasst, diesen Akt nicht unbeantwortet zu lassen. In der Zwischenzeit haben sich schon einige Medien zu der Aktion geäußert, darunter der Südkurier, welche besonders den PolizeibeamtInnen Raum für Erklärung gab.
Trotz – oder gerade wegen – der Zwangsräumung der Grafi10 blieb die Solidarität der NachbarInnen und AnwohnerInnen, doch auch grundsätzlich vieler Menschen in Konstanz groß, was auch von den AktivistInnen bestätigt wurde, die die kurze Zeit in der Markgrafenstraße mit den NachbarInnen als sehr positiv und atmosphärisch auffassten. Einige PolitikerInnen, darunter Antje Behler, Landtagskandidatin der Partei Die Linke, zeigten sich solidarisch und kritisierten den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz der Staatsgewalt.
Die Antwort der AktivistInnen darauf wurde gegen Mittag nach außen kommuniziert – eine Spontandemonstration an der Marktstätte um 18 Uhr. Diesem Aufruf sind um die 200 Menschen und linke AktivistInnen gefolgt, die darauf aufmerksam machen wollten, dass Grafi10 nicht verloren sei, sondern wieder käme. Mit Transparenten, die Wohnraum für alle forderten und auch das kapitalistische System als Ursache der Wohnungsnot ansprachen, lief die Demonstration, trotz einiger Behinderungsversuche seitens der PolizistInnen über die Fahrradbrücke zur Markgrafenstraße 10.
Während der Demonstration wurde mehrmals angehalten, um RednerInnen zu Wort kommen zu lassen. Der erste Beitrag griff die Vorfälle rund um die Räumung auf und äußerte eine deutliche Kritik an der Polizei. Es wurde angeprangert, dass Grundrechte eingeschränkt wurden sowie auf der Polizeiwache verbriefte Rechte wie der Anruf eines Anwalts nicht verwirklicht wurde. Ein Vertreter der Linken Liste Konstanz betonte die Solidarität mit den AktivistInnen und der Grafi10 und bekundete die Unterstützung seitens der Linken Liste Konstanz (LLK). Obgleich er wenig Aussicht auf Erfolg sah, betonte er, dass die LLK-Fraktion bei der heutigen Gemeinderatssitzung eine Resolution einzubringen, die diese Räumung in ihrer Unverhältnismäßigkeit zu verurteilen hat.
Der Demonstrationszug kam nach der Rede etwas im Stocken, da die PolizistInnen das Mitglied der LLK temporär ins Gespräch verwickelte, um womöglich eine verantwortliche Person ausfindig zu machen, auch in Hinblick darauf zu erfahren, wohin der Demonstrationszug gehen wird. Die DemonstrantInnen bekundeten in dieser Atmosphäre mit deutlichen Worten mehrmals ihre Kritik an den PolizeibeamtInnen und betonten das Grundrecht, ohne staatliche Kontrolle zu demonstrieren. Kurz vor der Grafi10 wurde der Demonstrationszug von einigen Polizeiwägen begleitet, was den unverhältnismäßigen Charakter der Staatsgewalt noch einmal unterstrich.
Die Demonstration endete in der Markgrafenstraße 10 vor der geräumten Grafi, wo auch einige NachbarInnen zugegen waren sowie PassantInnen. Von den AktivistInnen und DemonstrantInnen wurde die Solidarität mit Grafi10 hochgehalten sowie den NachbarInnen für ihre offenen Armen gedankt. Vor Ort kamen noch zwei Rednerinnen zu Wort, die einerseits bekundeten, dass Grafi10 kein Projekt der Vergangenheit gewesen sei, sondern man wiederkäme. Andererseits wurde von der letzten Rednerin auf die Wohnungsnot und die Wirtschaftskrise Bezug genommen sowie die Solidarität seitens der Linksjugend und MSK ausgesprochen.
Nach Auflösung der Demonstration wurde allen geraten, in Gruppen nach Hause zu gehen, da die begründete Gefahr von Repressionen und Übergriffen seitens der PolizeibeamtInnen im Raum stand. Dem war jedoch nicht so. Die Grafi10 mag geräumt sein, doch seine Notwendigkeit bleibt bestehen, und die Losung, dass Grafi10 wiederkommen wird, ist nicht als Warnung, sondern Hoffnung zu verstehen.
E. Nowak (Fotos: jüg)
Weitere Informationen auf seemoz:
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22.07.20 | „Friedliche und beliebte Hausbesetzung gewaltsam beendet“
Verhältnismässig?
Das Haus Markgrafenstr. 10 steht seit Jahren leer und verfällt. „Die Politik“ ist sich einig: Das sollte geändert werden. Die Behörden sind seit Jahren nicht in der Lage, § 14,2 des Grundgesetzes Geltung zu verschaffen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Aber nachdem das Haus endlich wieder zu Wohnzwecken genutzt wurde, genügte eine Anzeige des Hausbesitzers, um in wenigen Tagen die Staatsanwaltschaft ein riesiges Polizeiaufgebot auffahren zu lassen und die BewohnerInnen wieder zu vertreiben.
Was ist daran verhältnismässig?
Wir leben zum Glück in einem Rechtsstaat, aber es ist eben ein bürgerlicher Rechtsstaat: Der Schutz des Eigentums steht klar vor dem „Wohle der Allgemeinheit“. Deshalb kann die Staatsanwaltschaft die Besetzung als „Hausfriedensbruch“ untersuchen und die Teilrenovierung des Hauses als Sachbeschädigung. Welcher Friede wird da eigentlich gebrochen? Ist das langjährige Leerstehenlassen dann nicht Landfriedensbruch?
Schutz des Eigentums ist zu Recht ein hohes Gut. Wenn dieser Schutz aber allzu hoch über Menschenrechte (körperliche Unversehrtheit, Dach über dem Kopf) gestellt wird, besteht die Gefahr, dass der Rechtsstaat zum „Rechts-Staat“ wird. Achten wir darauf!
Nachtrag: Ich wohnte früher selbst im Haus Markgrafenstr. 10. Wegen angeblichen Eigenbedarfs musste ich, trotz anwaltlicher Hilfe, die Wohnung aufgeben. Als sich der angebliche Eigenbedarf als Fake herausstellte, war es zu spät …
wer an den hintergründen zum einsatz, den fragen der gemeinderäte & antworten der polizei interessiert ist, der schaue sich den podcast der fragestunde im gemeinderat gestern abend an
sehr informativ und transparent
https://www.konstanz.de/podcast?fbclid=IwAR0rADaD4r1rr18ezkZnsh8-Pdw0C1Hpu6ijnXjS7bKqafAWulkyAUd8pkc
@Oliver Söder
Die Berichterstattung ist in diesem Falle sehr neutral. Wer mit offenen Augen und Ohre dabeigewesen ist kann das bestätigen.
Wenn es stimmt, was hier über das Verhalten der Polizei während und nach der Hausbesetzung so alles berichtet wurde, dann scheint dieser Berufsstand offensichtlich alles zu tun, um seinen inzwischen bundesweit schwer beschädigten Ruf weiter zu verfestigen.
Schon mal etwas von neutraler Berichtserstattung gehört?
Von 31.000 PolizistInnen in Baden-Württemberg lassen sich sicher, auch in Konstanz, BeamtInnen finden, die den gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen aufgeschlossen gegenüberstehen oder in größerer Zahl davon betroffen sind. Ich gehe mal davon aus, dass sie in stabilen, familiären Verhältnissen leben und in der, Nachbarschaft oder im Vereinsleben über eine stabile soziale Basis verfügen.
Für die gesamte Republik steht die Zahl von 10 bis 12.000 polizeilichen Übergriffen im Raum, von denen die überwiegende Zahl nicht zur Anzeige kommt. Da ist mir nicht recht klar, aus welchem Grund so wenig Zivilcourage bei manchen PolizistInnen zu finden ist. Nach meiner Meinung endet Verschweigen, Duldung oder Mitwirkung auch bei schwersten Straftaten, in einem lebenslangen Schuldgefühl. Fraglich ist, wie sie ein solches Fehlverhalten vor ihren Kindern oder Angehörigen rechtfertigen können. Immerhin scheint mir, dass bei der Demonstration, Rechtstaatlichkeit und Objektivität Stil prägend waren.
Seit mindestens fünfzig Jahren ist bekannt, dass diese von Opfern und Polizei geprägte Gewalteskalation sich so lange steigert, bis Schwerstbehinderte oder Tote zu beklagen sind und erst dann vernünftige, deeskalierende PolitikerInnen hervortreten und zur Gewaltlosigkeit mahnen. Gegenwärtig, scheint es, sehen sich vor allem Christdemokratische PolitikerInnen gestärkt, auch durch Umfrageergebnisse und BürgerInnen, die von Meinungsbildnern irritiert, mehr Härte fordern.
Hier scheint mir, dass Luigi Pantiano als Stadtplaner die jahrzehntelangen Versäumnisse und Probleme der Stadtgestaltung, wie auch der langjährigen Wohnungsnot am besten lösen sowie demokratische Defizite am besten aufarbeiten könnte. Besonders, weil er sich für ein bürgerliches Miteinander aufgeschlossen zeigt und wie ich hoffe, auch für die gesamte Bodenseeregion neue Maßstäbe setzen könnte. Etwa beim Wirrwarr der ÖPNV – Preisgestaltung die See übergreifend dringend einer Lösung entgegenfiebert. Ein 365- Euro-Ticket für die Seeregion, um nur ein Stichwort zu geben, ist mehr als wünschenswert.
Manche StaatsanwältInnen lassen mich vermuten, dass sie sich vielleicht jenen PolitikerInnen andienten, die imaginäre Aufstiegschancen versprachen. Die Ursache für diese übereilte Räumung lässt sich vermutlich dort finden, wo Inkompetenz und Rücksichtslosigkeit „Bettgenossen“ sind.
Die Staatsanwaltschaft und Polizei sollten nun einmal darlegen, ob sie zum Zeitpunkt der Räumung im Besitz eines richterlichen Räumungstitels, in Begleitung eines Gerichtsvollziehers waren, oder wenigstens von unabhängigen Zeugen begleitet wurden, die bei der Durchsuchung der Räume und Räumung zugegen waren, und einer Rechtsnorm entsprechend Protokoll führend, auch bei einer Entlastung von Beamten hilfreich sein könnten.
Für den CDU-Bürgermeister, der sich inzwischen scheinbar beschämt wegduckt, ist das in meinen Augen ein Armutszeugnis, ebenso wie für eine Gerichtsbarkeit, die schweigend zum Thema Gewaltenteilung eine mögliche Übergriffigkeit durch Staatsanwaltschaft und Polizei zwangsläufig hinnimmt.
Heute stand im Südkurier, dass ein Profifußballer aus Berlin eine Drittwohnung in Konstanz sucht. Ein Schelm , wer Böses dabei denkt….
Die „begründete Gefahr“ von Reppressionen von Seiten der Polizei m/w? So sah das ganz und gar nicht aus, zumindest nicht als der Zug der Demonstranten an mir vorbeizog. Da diese Demonstration zudem sehr organisiert und friedlich ablief, bestand für ein Eingreifen zudem kein Grund. Dass sich Polizisten nicht mit egal gegen was Demonstierenden solidarisch zeigen können, ist ihrem Beruf geschuldet. Auch klar!
Es ist wichtig und richtig Zeichen wie dieses zu setzen, gerade auch in Konstanz, wo uns ein profitorientiertes Wachstum droht, welches vorbei geht an jeder Realität, vorbei an Schutz von Umwelt, Natur, Artenvielfalt, vorbei am Leben jener Menschen, die hier ein „ganz normales Leben“ führen wollen. Gebaut und geplant wird vorwiegend für Gutbetuchte, geplant für eine Zukunft, die uns direkt in den Kollaps führen wird.
Dass das Gleichgewicht verloren gegangen ist liegt u. a. daran, dass im Rathaus, wo Entscheidungen getroffen werden, kein Hirn eingeschaltet wird. Wachstum braucht Voraussetzungen, diese werden nicht geschaffen, Bsp.: Seit Jahrzehnten werden HTWG u. UNI vergrößert, wir haben Studentenwohnheime mit ca. 4000 Wohnungen, die Anzahl der Studierenden ist gesamt auf ca. 17000 gestiegen. Diese müssen „wohnen“, und das tun sie: auf dem privaten Wohnungsmarkt für horrende Preise, meist in WGs, auch in Appartements. Diese Wohnungen wiederum stehen den Menschen, die in Konstanz leben und arbeiten, Alleinerziehenden, Groß- und Kleinfamilien, Rentnern, allgemein Menschen mit niedrigem bzw. durchschnittlichem Einkommen seit Jahren nicht mehr zur Verfügung. Wir werden gegeneinander ausgespielt. 7600 neue Wohnungen/Eigentum/Häuser? Zu welchem Preis! Das einzige was unsere Zukunft noch retten könnte, ist ein konsequentes Umdenken, unter einem neuen OB, einem, der versteht, dass Zukunft nicht Wirtschaftlichkeit heisst, sondern lebenswichtige nachhaltige soziale und ökologische Balance, einer, der die Aufgaben im Kern löst, der die Mehrheit der Bürger und einen Großteils des Gemeinderats mitnimmt auf einen Weg, der in eine den Umständen entsprechende lebenswerte Zukunft führt. Es geht nur gemeinsam!