„Wessen Kind bist Du?“ – Ein Gespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Tswi Herschel und seiner Tochter Natali
Der Ende 1942 im niederländischen Zwolle geborene Tswi Herschel ist einer der jüngsten Überlebenden des Holocaust. Dass er heute – da nur noch wenige ZeitzeugInnen leben – als Mitglied der zweiten Generation Erinnerungen in die Zukunft tragen kann, verdankt er der Tatsache, im Alter von nur vier Monaten von seinen Eltern einem nicht-jüdischen Paar anvertraut worden zu sein. Auf Einladung der Konstanzer Stolperstein-Initiative sprechen er und seine Tochter am 21. Juni 2022 im Wolkenstein-Saal des Konstanzer Kulturzentrums.
Von der sukzessive Entrechtung der jüdischen Bevölkerung der Niederlande bis zu ihrer Deportation
Fast unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande im Mai 1940 begannen die Besatzer, Maßnahmen gegen die niederländischen Jüdinnen und Juden zu ergreifen. Sie mussten sich registrieren lassen, wurden verpflichtet, den gelben Stern zu tragen, verloren ihre Anstellungen, durften nicht mehr telefonieren, keine nichtjüdischen Personen besuchen, kein Fahrrad mehr besitzen, verloren ihr Eigentum und ihre Wohnungen und wurden ghettoisiert – um nur einige der Verordnungen und Maßnahmen ihrer sukzessiven Isolierung, Entrechtung und Beraubung zu nennen.
Danach begann im Rahmen der systematischen „Entjudung“ des Landes ihre Verschleppung, meist über Kamp Westerbork. Dieses „Judendurchgangslager“ war zwischen Juli 1942 und September 1944 der Ausgangspunkt für annähernd hundert Züge in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Sobibor, nach Theresienstadt und Bergen-Belsen. Über 100.000 niederländische und deutsche Jüdinnen und Juden wurden von dort aus im Wochentakt deportiert – wie auch Eugenie Nicolette Bril und Berthold Krebs, die Auschwitz und andere Konzentrationslager zwar überlebten, nach der Befreiung aber zu jenen 34 Menschen gehörten, die wegen der zuvor erlittenen Qualen im Hospital auf der Insel Mainau starben.
Aus Tswi wird Henkie …
Tswi Herschels Vater Nico und seine Mutter Ammy waren beide Mitglieder der jüdischen Jugendorganisation Naharut Jisrael („Jugend Israels“). Sie beobachteten das politische Geschehen genau, sahen die Gefahr und träumten beide davon, nach Palästina auszuwandern, hatten dafür aber nicht die finanziellen Mittel. Nico Herschel arbeitete – bevor ihm das durch die deutschen Besatzer untersagt wurde – als Finanzprüfer für die niederländische Regierung, Ammy Herschel als Telefonistin. Als sie die Anweisung erhielten, von Zwolle ins jüdische Ghetto von Amsterdam umzuziehen, bemühten sie sich händeringend um ein Versteck für den neugeborenen Tswi. Hilfe erhielten sie von dem früheren Chef Nico Herschels, der eine protestantische Familie suchte, die bereit war, den kleinen Tswi aufzunehmen. So wurde aus Tswi Herschel Henkie de Jongh. „Aus Liebe gaben mich meine Eltern weg“, sagte er später in Interviews.
Tswi wurde vom Ehepaar de Jongh liebvoll aufgenommen und behandelt wie eines ihrer eigenen Kinder. Noch heute ist er dieser Familie freundschaftlich verbunden, ist „Onkel Henkie“. Tswis biologische Eltern verschleppten die Deutschen im Juni 1943 in das Durchgangslager Westerbork. Einen Monat später deportierte man sie in das Vernichtungslager Sobibór, wo sie kurz nach ihrer Ankunft vergast wurden.
… und Tswi, der Brückenbauer
Nach dem Krieg wurde er von seiner leiblichen, schwer traumatisierten Großmutter aus der Familie de Jongh gerissen und nun jüdisch erzogen – ein Glaube, der ihm gänzlich unbekannt war. Spät erst erfuhr er nach und nach mehr über seine wahre Identität und die Geschichte seiner Familie. Erst mit 21 Jahren erhielt er alle verbliebenen Dokumente seiner leiblichen Eltern. 1986 wanderte Tswi Herschel mit seiner Familie nach Israel aus. Er reist aber immer wieder nach Europa, um zusammen mit seiner Tochter Natali („Sie wurde zum Motor des Ganzen“) Universitäten, Schulen und ähnliche Institutionen zu besuchen. Sie wollen versöhnen, Brücken bauen in eine bessere Zukunft und warnen vor jeder Art der Diskriminierung.
Auf Einladung der Konstanzer Stolperstein-Initiative kommen sie nun auch für mehrere Tage nach Konstanz. Am Dienstagabend sprechen sie im Wolkensteinsaal, am Mittwochnachmittag zum selben Thema in der Universität (nähere Informationen dazu finden sich hier im Seemoz-Veranstaltungskalender).
Darüberhinaus wird Tswi Herschel – der übrigens ausgezeichnet deutsch spricht – an zwei Vormittagen im Wolkensteinsaal mit Schülerinnen und Schülern der Gemeinschaftsschule, des Humboldtgymnasiums, des Ellenriedergymnasiums, des Susogymnasiums und der Theodor-Heuss-Realschule sprechen und an einem weiteren Vormittag die Wollmatinger Grundschule besuchen und dort die vierten Klassen treffen, die sich in den letzten Wochen mit den Themen Nationalsozialismus und Judenverfolgung beschäftigt haben.
„Wessen Kind bist Du?“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Ein Gespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Tswi Herschel und seiner Tochter Natali
21. Juni 2022, 19:30–21:00, Kulturzentrum am Münster, Wolkenstein-Saal
Eine Veranstaltung der Initiative Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz in Kooperation mit dem Kulturamt Konstanz, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee-Region, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz e.V. und der vhs Landkreis Konstanz e.V. Der Eintritt ist frei.
Sabine Bade (Text, Foto: Privatbesitz Tswi Herschel)