„Wir sind vier der über tausend …“ (5)

Annähernd 0,6 Prozent der badischen Bevölkerung wurde zwischen 1934 und 1944 von den Nationalsozialisten zwangssterilisiert. Ihrem Bestreben, das deutsche Volk „aufzurassen“, fielen allein in der Stadt Konstanz mehrere hundert Frauen und Männer zum Opfer; über tausend Menschen waren es im näheren Umkreis. Dessenungeachtet werden in Konstanz weiterhin die Verbrechen der „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen als „Repressionen im Alltag“ verharmlost.

Die „in Freiheit lebenden“ und dadurch „besonders fortpflanzungsgefährlichen Erbkranken“

Kranke und behinderte Menschen gehörten zu den ersten Opfern im Nationalsozialismus. Dass das am 14. Juli 1933 unmittelbar nach der Errichtung des NS-Einparteienstaats beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) aber längst nicht nur die Zwangssterilisierung von kranken und behinderten Männern und Frauen zum Ziel hatte, war kein Geheimnis. Arthur Gütt, Ministerialdirektor im Innenministerium und einer der geistigen Väter dieses Gesetzes, erläuterte in seiner Rundfunkrede vom 26. August 1933, wer im Sinne des Gesetzes darüberhinaus künftig als „erbkrank“ galt: HilfsschülerInnen, FürsorgeempfängerInnen, Langzeitarbeitslose („Arbeitsscheue“) und „Asoziale“.
Deren „geistige  Minderwertigkeit“ sei eine Gefahr für den „gesunden Volkskörper“, der entsprechend „gereinigt“ werden sollte. Nach Meinung der nationalsozialistischen Machthaber sollten sich diese „Ballastexistenzen“ und „unnützen Esser“, die sich hemmungslos vermehrten, wenigstens nicht weiter fortpflanzen dürfen. Ansonsten wäre die Entwicklung zur deutschen „Herrenrasse“ gefährdet.
Der Erlass des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war von einer breit angelegten publizistischen Offensive in der Tages- und Fachpresse begleitet, dessen Inhalt also noch vor dem Inkrafttreten am 1. Januar 1934 weithin bekannt.

Dass bei der Fahndung nach „in Freiheit lebenden“ und dadurch „besonders fortpflanzungsgefährlichen Erbkranken“ sofort AbgängerInnen von Konstanzer Hilfsschulen in den Fokus der ermittelnden Beamten des Gesundheitsamtes gerieten, berichteten wir bereits in unserem dritten Artikel: Die jungen Frauen und Männer wurden einzeln vorgeladen und mittels eines mehrseitigen „Intelligenzprüfungsbogens“ einer intensiven Befragung unterzogen. Die Ergebnisse dieser – unter Druck vorgenommenen – Befragung eingeschüchterter Menschen flossen je nach Belieben in das amtsärztliche Gutachten ein, das die Grundlage zur Feststellung von „erblichem Schwachsinn“ liefern sollte. Die Willkür hatte freien Lauf.

„Nur bestes Menschenmaterial“ für die neue Siedlung Haidelmoos

Und selbst bei der Wohnungssuche bestand die Gefahr, in die verhängnisvollen Mühlen der „Aufartung“ zum Schutz der deutschen Volksgesundheit zu geraten. Die Eingemeindung von Wollmatingen 1934 ermöglichte das größte Projekt des vorstädtischen Kleinsiedlungsbaus in Konstanz. Im Gewann Haidelmoos, einem zuvor versumpften Moorgelände, sollte auf neun Hektar Fläche 121 Familien mit niedrigem Einkommen Wohnung und Existenz geboten werden. Als Bewerber dafür kam allerdings „nur bestes Menschenmaterial“ in Frage, wie der Konstanzer Nazi-Bürgermeister Leopold Mager auf einer kommunalpolitischen Kundgebung in Konstanz am 16. Juni 1934 unumwunden erläuterte:
Ins Haidelmoos gehörten seiner Meinung nach „in erster Linie siedlungsfreudige, aber dann auch erbgesunde Menschen“. Es gehe nicht an, die Auswahl etwa nur nach der Kopfzahl oder der Kinderzahl der Familie vorzunehmen, denn dadurch würde erreicht, „daß Familien mit erbkrankem Nachwuchs kraft ihrer großen Kinderzahl in den Besitz der Siedlung kommen“, sagte er  und fügte hinzu: „Ich glaube, man wird in Zukunft noch viel strenger darauf achten müssen, nur bestes Menschenmaterial in den Siedlungen anzusetzen. Wir haben es uns auch bei der Auswahl der jetzt anzusetzenden Siedler zur Pflicht gemacht, sämtliche Siedler, Mann wie Frau, vom Bezirksarzt auf Erbgesundheit untersuchen zu lassen.“

Deutsche Bodensee-Zeitung vom 23. Juni 1934

Wer genau bei der Wohnungssuche durch diese rigorose Anordnung der Konstanzer Stadtverwaltung in die Fänge des Erbgesundheitsgerichts geriet und dadurch zur Unfruchtbarmachung gezwungen wurde, ist nicht bekannt, weil es dazu bis heute keinerlei Recherchen gibt.

Nur eine einzige Schautafel

Eine der vielen jungen Konstanzerinnen, die zwangssterilisiert wurden, hieß Anna Reinhardt. Sie wurde am 25. Dezember 1927 in Mannheim geboren; später zog die Familie nach Konstanz. Ihr Vater Georg, der aus Kaltenberg bei Tettnang stammte, war Musiker. Als Geigenspieler bestritt er das Familieneinkommen bei vielen Veranstaltungen in der Region – bis ihm die Nazis Auftrittsverbot erteilten: Georg Reinhardt war Sinto, ein „Zigeuner“. Nach Ansicht der neuen Machthaber war er somit „fremdrassig“ und „undeutschen Blutes“ und hatte deshalb – genau wie Jüdinnen und Juden – keinen Platz mehr in der „deutschen Volksgemeinschaft“. In der Folge hielt er seine Familie mit Hilfstätigkeiten über Wasser.
Im April 1940 wurde die gesamte Familie – Vater Georg, Mutter Klara, die zwölfjährige Anna und ihre fünf Geschwister – verhaftet und in die Festung Hohenasperg bei Ludwigsburg gebracht. Ihre Festnahme war Teil eines SS-Projekts, mit dem alle „Zigeuner“ aus Deutschland in das besetzte Polen verschleppt werden sollten. Als Vorbereitung dafür hatte Himmlers sogenannter  Festsetzungserlass vom 17. Oktober 1939 gedient, der allen Sinti und Roma verbot, ihren Wohnort zu verlassen.
Da Annas Mutter „Arierin“ war, entging die Familie der Deportation nach Polen und konnte am 22. Mai 1940 nach Konstanz zurückkehren. Zwischenzeitlich war ihre Wohnung völlig ausgeräumt worden: Niemand hatte damit gerechnet, dass die Familie Reinhardt jemals wiederkommen würde. Sie musste danach in eine Behelfswohnung in der Hindenburgstraße ziehen; Vater Georg wurde zeitweise von der Organisation Todt dienstverpflichtet.
Anna und ihre Familie entgingen auch jener Deportation von Sinti und Roma, die am 15. März 1943 vom Nordbahnhof Stuttgart nach Auschwitz-Birkenau führte und der unter anderem die Ravensburger Sinti zum Opfer fielen. Ihnen blieb allerdings aufgrund von Himmlers „Auschwitz-Erlaß“ (16. Dezember 1942) und den nachfolgenden Ausführungsverordnungen lediglich die „Wahl“ zwischen Sterilisierung und Vernichtungslager. Im Sommer 1944 wurde die noch nicht einmal 17 Jahre alte Anna Reinhardt vom Chefarzt des Singener Klinikums zwangssterilisiert. Nach dem Krieg heiratete sie einen französischen Artisten und zog mit ihm nach Paris. In zweiter Ehe mit einem Dänen verheiratet, kehrte sie nach dessen Tod im Jahr 1999 nach Konstanz zurück, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 lebte.

Anna Reinhardt ist zwar nach aktuellem Kenntnisstand die einzige Konstanzer Sintiza, die zwangssterilisiert wurde, teilte dieses Schicksal aber mit mehreren hundert „arischen“ Frauen und Männern im Ort. Dennoch wies bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Konstanz im Nationalsozialismus 1933–1945“ im vergangenen Jahr keine einzige Schautafel und kein Ausstellungsstück auf Opfer wie Anna Reinhardt und auf die (namentlich bekannten!) Konstanzer Täter hin.
Im Januar 2023 wurde etwas nachgebessert und eine Schautafel zu NS-Krankenmorden und Zwangssterilsationen angebracht. Diese einzige (!) Tafel ist allerdings so allgemein gehalten, dass ihr nicht einmal zu entnehmen ist, dass auch mehrere Hundert Bürgerinnen und Bürger der Stadt Konstanz diesen Verbrechen zum Opfer gefallen waren.
Dass die neue Tafel darüber hinaus auch nach Monaten noch immer fehlerhaft ist, hinterlässt Unverständnis: So trat etwa das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nicht „bereits 1933“ in Kraft, und die Morde nach Einstellung der Aktion T4 wurden keineswegs nur „an kranken Kindern und in den Konzentrationslagern“ verübt, sondern an reichsweit bis zu 230.000 weiteren Menschen aller Altersgruppen vor allem in Heilanstalten.

Planmäßiger Massenmord – nicht einfach bloße „Repression“

Dass Konstanzer Opfer und Konstanzer Täter in der NS-Dauerausstellung auf Schautafeln weder Namen noch Gesicht erhalten, sei dem Platzmangel geschuldet, heißt es immer wieder, die Raumnot erlaube lediglich eine „kursorische Behandlung“ des Themas Konstanzer Krankenmorde und Zwangssterilisationen. Wie wenig glaubhaft dieser Verweis auf eine „strukturbedingte“ Lückenhaftigkeit ist, haben wir bereits mehrmals aufgezeigt. Aber offenbar sind Prominente, die in der Nachkriegszeit nach Konstanz kamen, nach wie vor  relevanter als Berta Amann, Emma Wippler, Hilda Schroff, Anna Geiser, Anna Reinhardt und all die anderen Frauen und Männer dieser großen Konstanzer Opfergruppe.

Jüngst wies die Museumsleitung darauf hin, dass das Rosgartenmuseum schließlich ergänzend Vortragsabende anbiete, „die dieser und anderen Opfergruppen gewidmet waren und sind“. Was die Frage aufwirft, ob wichtige Informationen über das NS-Regime in Konstanz wirklich nur jenen vorbehalten sein sollen, die sich den Eintritt von 12 Euro für einen dieser Vorträge erlauben können? Während alle anderen BesucherInnen – darunter auch Schulklassen – zu lesen bekommen: „Wer nicht jüdischer Geschäftsmann, Gewerkschafter, Sozialdemokratin, Kommunist, strenggläubige Katholikin oder Zeuge Jehovas war oder auf andere Weise in Konflikt mit dem Terror- und Verfolgungsapparat kam, der hatte es durchaus gut in Hitlers Reich.“  Sie erfahren in einer auf viele Jahre angelegten Dauerausstellung nicht, dass auch in Konstanz Männer, Frauen und Kinder lebten, die, zu „Ballastexistenzen“ erklärt, Opfer des NS-Rassenwahns wurden.

In unserer Stadt darf kein Platz sein für die Marginalisierung nationalsozialistischen Unrechts.

Sabine Bade für den Arbeitskreis NS-Eugenik Konstanz
(Fotos: Privatarchive Banholzer, Didra, Frey und Schroff)

Die Serie wird fortgesetzt. Demnächst folgen Informationen über die im Jahr 1982 im Krematorium des Konstanzer Hauptfriedhofs „aufgefundenen“ knapp 200 Urnen von in Tötungsanstalten der Aktion T4 vergasten Menschen: „Wieviel Nachlässigkeit, wieviel Gedankenlosigkeit, wieviel Unbarmherzigkeit gehört dazu, die Urnen mit den Überresten dieser unschuldigen Opfer ‚lagern‘ zu lassen, an eine würdige Beisetzung ebensowenig zu denken wie an den Versuch, möglicherweise noch lebende Angehörige zu verständigen?“, fragte sich damals nicht nur die Schwäbische Zeitung.