Ausflüge gegen das Vergessen (27): Der Stuttgarter Deportationsbahnhof

Ende November 1941 begann die Deportation von Jüdinnen und Juden aus ganz Württemberg und Hohenzollern. Am 1. Dezember 1941 verließ der erste Zug mit über 1000 Männern, Frauen und Kindern den Stuttgarter Nordbahnhof in Richtung Riga; sie waren vorher im Sammellager auf dem Gelände der Reichsgartenschau auf dem Killesberg zusammengetrieben worden. Für fast alle war es eine Reise in den Tod. Weitere Deportationen folgten: Mehr als 2500 Menschen jüdischer Herkunft und über 250 Sinti und Roma wurden vom Nordbahnhof in die Konzentrationslager Iżbica, Auschwitz und Theresienstadt transportiert.

Die erste Deportation württembergischer Jüdinnen und Juden nach Riga

Zeichen der Erinnerung – die Gedenkstätte am Stuttgarter Nordbahnhof

Erfolgte die Deportation der badischen Jüdinnen und Juden im Oktober 1940 noch in das südfranzösische Internierungslager Gurs, gab es nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 „Platz im Osten“. Überall im Reich wurden nun Maßnahmen zur „Endlösung der Judenfrage“ eingeleitet. In Stuttgart ließ   der Leiter der Geheimen Staatspolizei, Friedrich Mußgay (1892-1946), auf dem Gelände der Reichsgartenschau von 1939 auf dem Killesberg die „Ehrenhalle des Reichsnährstands“ als Sammellager einrichten. Danach informierte er am 18. November 1941 die Landräte über die bevorstehende Deportation Württemberger Jüdinnen und Juden nach Riga „im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung“. Für diese erste Deportation, die noch als „Umsiedlung“ getarnt war, mussten die jüdischen Gemeinden selbst an der Auswahl der 1000 zu deportierenden Frauen, Männer und Kinder mitwirken und sie auch benachrichtigen. Mußgay hatte genaue Vorgaben erlassen, wie viel und welches Gepäck mitgenommen werden durfte und die Mitnahme von Wertgegenständen unterbunden. Die Fahrtkosten für ihre „Umsiedlung“ in Höhe von 57,65 Reichsmark pro Person mussten die Betroffenen selber zahlen.

Die Wand der Namen

Die Menschen, die aus ganz Württemberg ab dem 27. November 1941 unter Polizeibegleitung auf den Killesberg verschleppt worden waren, verbrachten im dortigen Sammellager zunächst einige Tage unter beengten und vollkommen unzureichenden Bedingungen; am Morgen des 1. Dezember 1941 wurden sie dann zum Nordbahnhof gebracht. Die viertägige Bahnfahrt endete im lettischen Riga, wo einige der Deportierten sofort nach der Ankunft erschossen wurden. Andere kamen in das soeben durch Mordkommandos geräumte sogenannte Reichsjudenghetto. Die meisten wurden zur Zwangsarbeit in das circa 12 Kilometer vom Stadtzentrum entfernte Lager Jungfernhof verschleppt. Dort starben sie in Scheunen und Ställen bei Minustemperaturen von 30 bis 40 Grad an Entbehrungen und Krankheit, oder fielen Massakern zum Opfer. Von den tausend Deportierten dieses ersten Transports erlebten weniger als fünfzig das Ende des NS-Regimes.

Weitere Transporte nach Izbica, Auschwitz und Theresienstadt

Die Wand der Namen, Detailansicht

Ein zweiter Deportationszug, diesmal nach Izbica im polnischen Distrikt Lublin, verließ den Stuttgarter Nordbahnhof am 26. April 1942. Unter den mehr als 400 Jüdinnen und Juden dieses Transports befanden sich auch ungefähr fünfundsiebzig Menschen aus Baden, darunter auch einige Ältere aus Konstanz, die 1940 der Deporation nach Gurs entgangen waren. Sie alle wurden ermordet: Izbica diente lediglich als Durchgangsstation in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Majdanek.

Keine Überlebenden gab es auch unter den 49 Menschen, die am 13. Juli 1942 über München direkt nach Auschwitz deportiert wurden. Einen Monat später erfolgte der erste Transport in das Ghetto Theresienstadt: Über tausend Menschen, unter ihnen auch ehemalige jüdische Frontsoldaten, die im Ersten Weltkrieg eine Auszeichnung erhalten hatten, wurden am 22. August 1942 dorthin verschleppt. Die damals siebenjährige Inge Auerbacher gehört zu den ungefähr fünfzig Überlebenden dieses Transports und schreibt in ihrer Autobiografie „Ich bin ein Stern“ von der schrecklichen Zeit im Lager, von der Verzweiflung und ihrer ständigen Angst.

Killesberg-Park, Gedenkstein von 1962

Im Jahr 1943 erfolgte zunächst die Deportation von weiteren 35 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz. Mit demselben Ziel verließ Mitte März der erste von fünf „Zigeuner-Transporten“ mit über 250 Sinti und Roma aus ganz Württemberg-Hohenzollern den Nordbahnhof. Unter ihnen befanden sich auch einige Sinti-Familien aus dem Ravensburger Ummenwinkel.

Weitere Deportationen folgten am 17. April 1943 nach Theresienstadt, am 17. Juni 1943 nach Auschwitz und am 11. Januar 1944 nach Theresienstadt. Ein letzter Transport nach Theresienstadt verließ Stuttgart am 12. Februar 1945 mit circa 160 „Mischehepartnern“. Insgesamt wurden mehr als 2500 Menschen jüdischer Herkunft und über 250 Sinti und Roma vom Stuttgarter Nordbahnhof in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt.

Gedenkstätten auf dem Killesberg und am Nordbahnhof

Der Killesberg-Park war bis in die 1930er Jahre ein Steinbruch-Gelände, das für die am 22. April 1939 eröffnete 3. Reichsgartenschau aufwändig umgestaltet wurde. Nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes fand hier 1950 wieder eine Landesgartenschau und 1961 eine Bundesgartenschau statt. Die Gebäude, die als Sammellager für die Deportationen genutzt wurden, waren während des Krieges zerstört worden, so dass nichts mehr an die schreckliche  Vergangenheit erinnerte. Promenieren durch malerisch angelegte Blumenpracht sollte nicht durch verstörende Erinnerungszeichen gestört werden. So dauerte es einige Jahre, bis nach kontrovers geführten Debatten im Juni 1962 ein kleiner Gedenkstein am Standort der ehemaligen „Ehrenhalle des Reichsnährstands“ im Park aufgestellt werden konnte. Der Text auf dem Stein ist denn auch äußerst vage gehalten: „Zum Gedenken an die mehr als 2000 jüdischen Mitbürger, die während der Zeit des Unheils in den Jahren 1941 und 1942 von hier aus ihren Leidensweg in die Konzentrationslager und in den Tod antraten.“ Seit 1989 finden hier jeweils am Jahrestag der ersten Deportation Gedenkfeiern statt.

Killesberg-Park, eine der Informationsstelen am Erinnerungskörper

Seit dem 26. April 2013, dem 71. Jahrestag der 2. Deportation, ist der Gedenkstein Teil des von der Künstlerin Ülkü Süngün geschaffenen „Erinnerungskörpers“: Ein in den Boden eingelassener kreisförmiger Stahlring markiert genau die Fläche, die jene 2000 deportierten jüdischen Menschen Schulter an Schulter stehend eingenommen hätten, von denen auf dem Gedenkstein von 1962 die Rede ist. Auf zwei auf den Kreismittelpunkt ausgerichteten Betonstelen stehen Informationen zu den historischen Hintergründen; ein Lageplan weist auch den Weg zur Gedenkstätte am Nordbahnhof, die durch den Pragfriedhof erreicht werden kann.

Auf Initiative der Stuttgarter Stiftung Geißstraße 7 und des Infoladen Stuttgart 21 entstand im Jahr 2001 das Projekt „Zeichen der Erinnerung“. Ziel der InitiantInnen war es, die Geschichte des Nordbahnhofs aufzuarbeiten und im Bewusstsein zu halten. Im Juni 2006 konnte die eindrucksvolle Gedenkstätte, deren Träger der gleichnamige gemeinnützige Verein ist, der Öffentlichkeit übergeben werden: Die fünf Gleise, über die die Züge Stuttgart verließen, werden von einer langen Mauer begrenzt, auf der die bisher bekannten Namen der Deportierten festgehalten sind; am Kopfende der Gleisanlage befindet sich eine weitere, überdachte Wand mit Informationstafeln über die Verfolgungsmaßnahmen vor Ort.

Im Jahr 2000 wurde die Straße, an der heute die Gedenkstätte liegt, nach dem Stuttgarter Stadtpfarrer und Vizepräsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft Otto Umfrid (1857–1920), benannt, dessen friedenspolitisches Engagement bis dahin weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Sabine Bade (Text und Fotos)

Vertiefende Informationen:

Zeichen der Erinnerung
Fritz Röhm: Gedenkort Killesberg (PDF)
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: „Evakuiert” und „Unbekannt verzogen” – Die Deportation der Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 bis 1945 (PDF)
Hermann G. Abmayr (Hg.): Stuttgarter NS-Täter – Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, 2. Auflage 2009
Inge Auermann: Ich bin ein Stern, 2006

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)