Ausflüge gegen das Vergessen (30): Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen

Noch gibt es keine Gedenkzeichen, die im Grenzgebiet zwischen dem österreichischen Montafon und dem Schweizer Prättigau an die Schicksale jener Menschen erinnern, deren Flucht vor den NS-Schergen dort scheiterte. Der junge Dichter Jura Soyfer, der uns das „Dachaulied“ hinterließ, ist einer von ihnen. Ihm und all jenen, denen die Flucht in die Schweiz nicht gelang, setzt zumindest in den Sommermonaten das „teatro caprile“ mit seiner Theaterwanderung „Auf der Flucht“ ein Denkmal, das in nachhaltiger Erinnerung bleibt. 

Jura Soyfers gescheiterte Flucht

Für viele Jüdinnen und Juden und für erklärte GegnerInnen des Nazi-Regimes war nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich die Schweiz das erste Fluchtziel. ÖsterreicherInnen, die einen gültigen Reisepass besaßen und nicht auf einer NS-Fahndungsliste standen, konnten – solange sie sich an die Devisenbestimmungen hielten – noch für kurze Zeit das Land verlassen. Am Bahnhof des Grenzortes Feldkirch erinnert seit 1998 ein Zitat des Schriftstellers Carl Zuckmayer daran, mit welchen Ängsten dies dennoch verbunden war und dass für viele dort die Weichen in den Tod gestellt wurden.

Jura Soyfer (Foto: Alfred Klahr Gesellschaft, Wien)

Jura Soyfers Pass hingegen war abgelaufen. Und aus seiner Haltung zum NS-Regime hatte er nie einen Hehl gemacht. Im Gegenteil. Soyfer, am 8. Dezember 1912 in der Ukraine geboren, kam mit seinen Eltern, die vor der russischen Revolution flohen, 1921 nach Wien. Bereits in seiner Schulzeit war er politisch aktiv und schloss sich der sozialdemokratischen Jugendorganisation an. Bereits als 16-Jähriger veröffentlichte er in der „Arbeiterzeitung“ Gedichte und Essays und verfasste Texte für das „Politische Kabarett“ der Sozialdemokratie. 1934 schloss sich Soyfer der bereits verbotenen kommunistischen Partei an, in der er wie viele andere enttäuschte und kämpferische SozialdemokratInnen, Intellektuelle und KünstlerInnen die einzige Alternative zum Faschismus erblickte. Neben seinem Studium der Geschichte und Germanistik begann er die Arbeit an dem Roman „So starb eine Partei“, seiner Abrechnung mit der Politik der Sozialdemokratie. Er schrieb zahlreiche Stücke für Kleinkunstbühnen, Szenen, Prosa, Gedichte, Lieder und Agitprop und fand in der Zeit der austrofaschistischen Diktatur sein Publikum nicht nur in den Kellertheatern Wiens.

Nachdem ein Verfahren gegen ihn wegen Hochverrats und anderer politischer Delikte nur aufgrund einer allgemeinen Amnestie im Februar 1938 eingestellt worden war, konnte Jura Soyfer – als Jude, polizeibekannter Kommunist und antifaschistischer Schriftsteller gleich mehrfach gefährdet – nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12. März 1938 nur versuchen, das Land über die grüne Grenze zu verlassen.

Im Keller des alten Schulhauses von St.Gallenkirch (links im Bild) befand sich der Gemeindearrest

Noch am selben Tag nahm er mit seinem Freund Hugo Ebner, der im Jahr zuvor im Montafon seinen Ski-Urlaub verbracht hatte, den Nachtzug von Wien nach Bludenz. Am nächsten Morgen fuhren sie mit dem Bus weiter nach Schruns und brachen von dort aus zu einer „Ski-Wanderung“ auf, die sie über die Schweizer Grenze bringen sollte. Oberhalb von Gargellen trafen sie auf eine  österreichische Grenzpatrouille. Bei der Durchsuchung ihrer Rucksäcke wurde ihnen eine in eine Zeitung eingewickelte Sardinenbüchse zum Verhängnis: Obwohl es sich bei der Zeitung um das Mitteilungsblatt der völlig legalen Einheitsgewerkschaft – und nicht etwa um illegales Schriftgut – handelte, lieferte sie den Gendarmen einen Grund, Jura Soyfer und Hugo Ebner zu verhaften. Die beiden wurden nach St. Gallenkirch eskortiert, wo sie die Nacht im Gemeindearrest verbringen mussten. Nach ihrer Überstellung in das Landgericht Feldkirch ergaben dortige Nachforschungen, dass beide auf der NS-Fahndungsliste standen. So wurden sie zunächst in das Polizeigefängnis von Innsbruck und von dort aus Mitte Juni 1938 in das Konzentrationslager Dachau verlegt.

Während seiner Haft in Dachau nahm Jura Soyfer den Torspruch „Arbeit macht frei“ und dessen Verhöhnung der Häftlinge auf und schrieb den Text des bekannten Dachauliedes: „Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, / Und wir wurden stahlhart dabei. / Bleib ein Mensch, Kamerad, / Sei ein Mann, Kamerad, / Mach ganze Arbeit, pack an Kamerad: / Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei“.

Im September 1938 wurde Jura Soyfer in das KZ Buchenwald verlegt, wo er am 16. Februar 1939 an Typhus starb. Er wurde nur 26 Jahre alt. Hugo Ebner gelang im Juli 1939 die Emigration nach Großbritannien.

Die erhängten Jüdinnen in der „Kiecha“, der verratene Flüchtling vom Gafierjoch und viele andere

Theaterwanderung: Die beiden verzweifelten Frauen

Nur sehr wenig, und nur aus Erzählungen Einheimischer, ist über weitere Frauen und Männer bekannt, deren Flucht im Grenzgebiet zwischen dem österreichischen Montafon und dem Schweizer Prättigau scheiterte. Zu ihnen zählen zwei jüdische Frauen, deren Versuch, über einen der Grenzpässe zu entkommen, vereitelt wurde. Nachdem sie eine Nacht im Gemeindearrest von St. Gallenkirch, der „Kiecha“, verbringen mussten, fand man sie dort am nächsten Morgen tot auf. Aus Angst vor der Deportation in ein Vernichtungslager hatten sie sich an den Riemen ihrer Rucksäcke erhängt.

Obwohl ihr Schicksal in der kollektiven Erinnerung der Einheimischen noch immer präsent ist, gehen die überlieferten Berichte von ZeitzeugInnen weit auseinander: Im Sommer 1941, dies galt lange Zeit als sicher, sollen die beiden Frauen auf der Flucht vor den Nazis ins Montafon gekommen sein. Ihre Namen und ihre Herkunft waren lange ungewiss. Die einen waren sich sicher, es habe sich um junge Schwestern gehandelt, andere erinnerten sich an pensionierte Lehrerinnen mit schlohweißem Haar.

Theaterwanderung: Zwei alte Einheimische unterhalten sich über das Schicksal des Deserteurs

Erst seit jüngster Zeit scheint die Identität der beiden Frauen geklärt zu sein: Es soll sich bei ihnen um die Schwestern Elisabeth (*4.6.1891) und Martha (*20.7.1892) Nehab aus Berlin handeln. Auch ereignete sich diese Tragödie nicht im Sommer 1941, sondern am 24. September 1942.

Widersprüchliche Berichte von ZeitzeugInnen überlieferten auch die Geschichte des verratenen Flüchtlings vom Gafierjoch. Betroffen machte die Menschen vor allem die Tatsache, dass dieser Mann von einem Einheimischen in eine Falle gelockt und verraten worden war: Der junge deutsche Wehrmachtsdeserteur Nikolaus Staudt vertraute sich am 27. September 1944 einem einheimischen Fluchthelfer an, um sicher in die Schweiz zu gelangen. Der Schlepper ließ sich für seine Dienste gut bezahlen und gab vor, Staudt sicher zur Grenze oberhalb von Gargellen führen zu wollen. Vorher informierte er allerdings die Grenzschutzbeamten, die Staudt kurz vor dem Pass stellten. Bei seiner Verhaftung wurde er von einer Kugel getroffen. Ob er dort verstarb oder beim Transport ins Tal seinen Verletzungen erlag, ist nicht mehr zweifelsfrei feststellbar. Im Gargellner Sterbebuch ist dafür nachzulesen, dass der am 11. Februar 1919 in Düsseldorf geborene Unteroffizier und Medizinstudent Nikolaus Staudt am 30. September 1944 nachts gegen 22 Uhr auf dem Friedhof von Gargellen beigesetzt wurde. 

Das Ensemble des „teatro caprile“ ermöglicht, Tragödien wie diesen wandernd nachzuspüren 

Theaterwanderung: Wer darf in die Schweiz?
Wer kommt ins KZ?

Das alte Schulhaus, in dessen Untergeschoss sich der Gemeindearrest von St. Gallenkirch befand, ist längst abgerissen. Es stand dort, wo sich heute das Silvretta Center befindet. Auch die Gedenktafeln für die beiden Jüdinnen und für Nikolaus Staudt, die der frühere Pfarrer Eberhard Amann in der Leichenkapelle in St. Gallenkirch hatte anbringen lassen, sind bereits seit längerem verschwunden; ihr Verbleib ist ungeklärt.

Aber auch wenn Gedenkstätten für diese Opfer des NS-Regimes fehlen, sind ihre Schicksale doch nicht vergessen. Großen Anteil daran haben die Ensemblemitglieder des „teatro caprile“ Roland Etlinger, Katharina Grabher, Maria King, Andreas Kosek und Mark Német, die die interaktive Theaterwanderung ,,Auf der Flucht“ entwickelten. Basierend auf Berichten von ZeitzeugInnen, historischen Dokumenten und literarischen Texten von Franz Werfel, Jura Soyfer und anderen Schriftstellern, die aus Nazi-Deutschland flüchten mussten, nehmen sie die Zuschauenden mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Bei der geführten Wanderung von Gargellen in Richtung Sarotlajoch kann so an wechselnden Spielorten dem Schicksal jener Menschen nachgespürt werden, die die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren mussten. Gespielt wird im Hotel Madrisa, in Alphütten und im freien Gelände. Entstanden im Jahr 2013 als Kooperation mit den Montafoner Museen finden diese Theaterwanderungen seither jeden Sommer statt. Begleitet und moderiert werden sie von Friedrich Juen, der die Theatergäste von Szene zu Szene führt. Seine Passion gilt der Geschichte des Montafons und ganz besonders seines Heimatortes Gargellen, die eng mit seiner eigenen Familie verknüpft ist: Sein Großonkel Meinrad Juen, Metzger, Senner und legendärer Schmuggler aus St. Gallenkirch, hat nachweislich 42 Juden durchs Gebirge über die Schweizer Grenze geführt, unterstützt von Friedrichs Großvater Wilhelm Juen.

Wandernd dem Schicksal vom NS-Regime verfolgter Menschen nachzuspüren, wird auch im Jahr 2021 in der Zeit vom 16. Juli bis zum 5. September wieder möglich sein. Und noch bis April 2021 ist im Frühmesshaus Bartholomäberg die Ausstellung „Das Montafon ‚unterm Hitler’ – Widerstand, Flucht und Verfolgung“ zu sehen.

Sabine Bade (Text, Fotos: Sabine Bade / Pit Wuhrer)

Vertiefende Informationen:
Das Montafon „unterm Hitler“
Jura Soyfer Gesellschaft
Montafoner Theaterwanderung „Auf der Flucht“ 2021
Rückblick: Theaterwanderung „Auf der Flucht“ 2013 (YouTube)
Zeitzeugin Inge Ginsberg (1942 geflüchtet), 2018 wieder im Montafon (YouTube)
Dachaulied, gesungen von den Schmetterlingen 8.4.2013 (YouTube)
Edith Hessenberger (Hg.): Grenzüberschreitungen – Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen, Schruns 2008
Michael Kasper (Hg.): NS-Erinnerungsorte im Montafon, Schruns 2015

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)