Ausflüge gegen das Vergessen (3): Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau
Die Schweiz tat sich ungemein schwer mit der Rehabilitierung des St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger. Der Mann, der Schlagbäume öffnete für Menschen, die nach dem „Anschluss“ Österreichs – von Verfolgung und Deportation in die deutschen Vernichtungslager bedroht – versuchten, illegal in die Schweiz einzureisen, starb verarmt und verfemt. Erst lange nach seinem Tod wurden seine Taten auch in seinem Heimatland anerkannt. Mancherorts, wie in Diepoldsau und Au, wird an ihn erinnert.
Zwischen Hohenems und Diepoldsau trägt eine Brücke über den Alten Rhein seit dem 6. Mai 2012 den Namen Paul Grüningers. Sie überspannt den seit der Rheinbegradigung von 1923 nur noch von Regen- und Sickerwasser gespeisten schmalen alten Rheinlauf, der an manchen Stellen kaum breiter als einen Meter ist. An diesem Rinnsal entlang verläuft die Staatsgrenze zwischen Österreich und der Schweiz, die oft mit nur einem Sprung überwunden werden konnte. Hier spielten sich infolge der Schweizer Abschottungspolitik nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 unfassbare Tragödien ab.
Grüningers Fluchthilfe
Es waren diese Tragödien, die Paul Grüninger (1891–1972) auf den Plan riefen: Er liess als St. Galler Polizeikommandant vom Sommer 1938 bis zu seiner Suspendierung im Frühjahr 1939 eine heute nicht mehr zu beziffernde Anzahl jüdischer und anderer verfolgter Frauen und Männer aus dem nationalsozialistischen Machtbereich in die Schweiz einreisen. Er hat diese Flüchtlinge nicht, wie vom Bundesrat – der Schweizer Regierung – vorgeschrieben, zurückgeschickt und ihnen damit das Leben gerettet.
Zu den Flüchtlingen, die trotz der Grenzsperre durch die Auen des Alten Rheins bei Diepoldsau in die Schweiz gelangten und die von Paul Grüninger gerettet wurden, gehörte auch die damals 16-jährige Jüdin Susi Mehl aus Wien: „Ich hab Glück gehabt und mein Glück hat einen Namen, und der Name ist Paul Grüninger. Er hat mir das Leben gerettet. Ich bin dann zu ihm, ich hab mein Schicksal erzählt […], und ob ich dableiben kann. Ich seh ihn vor mir, ich seh das Zimmer. […] und er steht vor mir mit seinem Zwicker und die Hände so nach rückwärts verschränkt, er schaut mich an und sagt ,Geh auf die Flüchtlingshilfe. Die Sache werd ich erledigen.‘ Aus, das wars. Und so bin ich in der Schweiz geblieben.“
Im Frühjahr 1939 wurden Paul Grüningers Aktivitäten publik, seine Vorgesetzten suspendierten ihn ohne Anspruch auf Rente vom Dienst und entliessen ihn „unehrenhaft“. Nachdem ihm von der St. Galler Regierung fristlos gekündigt worden war, verurteilte ihn das Bezirksgericht St. Gallen 1940 wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Bis zu seinem Tod lebte er in Armut in Au, dem Heimatort seiner Frau Alice, zuletzt am Kirchweg 4 direkt neben dem Gemeindehaus, wo im Jahr 2004 eine Gedenktafel zu Ehren des früheren Bewohners angebracht wurde. Nur einen Steinwurf davon entfernt befindet sich der örtliche Friedhof mit dem Grab von Alice und Paul Grüninger, das 2008 vom St. Galler Künstler Norbert Möslang neu gestaltet wurde.
Späte Rehabilitierung
Als der Schweizer Bundesrat Johann Schneider-Ammann im Oktober 2017 in Israel, wo Paul Grüninger bereits seit 1971 in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ von Yad Vashem aufgenommen ist, an der Einweihung der Paul-Grüninger-Strasse in der Stadt Rischon Lezion teilnahm, äußerte er sich auch zur Politik seines Landes während des Nationalsozialismus: „Die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz, vor allem in den Jahren 1938 und 1942, ist sehr wahrscheinlich der dunkelste Moment unserer Geschichte“.
Dass sich die Schweiz auch in der Nachkriegszeit jahrzehntelang weigerte, Grüninger zu rehabilitieren, ließ Schneider-Ammann dabei unerwähnt. Erst 1995 hob das Bezirksgericht St. Gallen das seinerzeitige Urteil gegen Grüninger auf und sprach ihn fast sechzig Jahre nach seinen „Taten“ frei. Einer Artikelserie von Stefan Keller in der Schweizer Wochenzeitung WOZ im Jahr 1992 und seinem kurz darauf erschienenen Buch zum „Fall Grüninger“ ist es vor allem zu danken, dass es nach vielen davor gescheiterten Versuchen endlich gelang, Grüninger zu rehabilitieren. Mit welchen Mitteln dies jahrzehntelang hintertrieben wurde, hat der St. Galler Journalist Ralph Hug hier geschildert.
Die Paul Grüninger Stiftung und die Rehabilitierung weiterer Fluchthelfer
Nach der Rehabilitierung Grüningers ließen seine Nachkommen die erhaltene materielle Wiedergutmachung in die Paul Grüninger Stiftung einfließen, die sich seither nicht nur dem Andenken des Namensgebers widmet, sondern sich für die Wiedergutmachung von begangenem Unrecht einsetzt und Personen, Organisationen und Institutionen fördert, die in besonderem Maße Zivilcourage zeigen.
So setzte sich die Stiftung vehement für die Rehabilitierung auch anderer FluchthelferInnen und all jener Menschen ein, die im Laufe der Nazizeit in der Schweiz für ihre Hilfsleistungen an Flüchtlingen bestraft worden waren.
Auf Basis der Erkenntnisse des Zwischenberichts der „Bergier-Kommission“, der 1996 gebildeten Expertenkommission, die die Geschichte der Schweiz vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg umfassend aufzuarbeiten hatte, folgte der Schweizer Nationalrat im Dezember 2000 einer parlamentarischen Initiative von Paul Rechsteiner; der SP-Nationalrat und Präsident des Gewerkschaftsbundes verlangte damit die Rehabilitierung von FluchthelferInnen. Am 1. Januar 2004 trat schließlich das entsprechende „Bundesgesetz über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus“ in Kraft.
Ein halbes Jahrhundert nach der Bestrafung wurden daraufhin die Urteile oder Strafbefehle gegen 137 FluchthelferInnen aufgehoben. In 63 Fällen erfolgte deren Rehabilitierung aufgrund von Gesuchen der Paul Grüninger Stiftung.
Auf der Gedenktafel an der Paul-Grüninger-Brücke ist zu lesen, dass sein Name „stellvertretend für die mutigen Frauen und Männer auf beiden Seiten der Grenze“ steht, „die Flüchtlingen geholfen haben“.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen
Paul Grüninger Stiftung
Stefan Keller: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe, Zürich (5. nachgeführte Auflage 2013, Originalausgabe 1993)
Wulff Bickenbach: Gerechtigkeit für Paul Grüninger, Köln 2009
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)