Ausflüge gegen das Vergessen (33): Das KZ Natzweiler-Struthof

Das KZ Natzweiler-Struthof war das einzige deutsche Konzentrationslager auf französischem Boden. Im von den Deutschen annektierten Elsass mussten ab 1941 vor allem politisch verfolgte Nazigegner und Widerstandskämpfer aus vielen Ländern Europas Schwerstarbeit leisten. Struthof war Schauplatz von bestialischen pseudowissenschaftlichen Menschenversuchen und zentrale Exekutionsstätte der Region. Auch nach der Räumung des KZ im Herbst 1944 bestand es der Form nach als Stammlager für die zahlreichen Außenlager auf deutschem Boden fort; die meisten davon befanden sich im heutigen Baden-Württemberg.

Ein KZ für Hitlers Prachtbauten

Im September 1940 machte der Geologe und SS-Obersturmbannführer Karl Blumberg in den Vogesen in der Nähe des Wintersporthotels Struthof ein Vorkommen von seltenem rosa Granit ausfindig. Blumberg war bei den Deutschen Erd- und Steinwerken (DESt) angestellt, einem 1938 von Reichsführer SS Heinrich Himmler gegründeten SS-Betrieb, der vorrangig Baumaterial für Hitlers gigantische NS-Bauprojekte liefern sollte. Ein halbes Jahr später fällte Himmler die Entscheidung zur Errichtung des Konzentrationslagers, das im Elsass als „Le Struthof“ bekannt war und in Deutschland unter dem Namen „KL Natzweiler“ geführt wurde. Im Mai 1941 trafen die ersten 300 deutschen und österreichischen Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen ein. Sie wurden in einem Anbau des Hotels untergebracht. Ihre Aufgabe bestand zunächst darin, Wege und Straßen zu dem auf circa 800 Meter Höhe gelegenen Areal anzulegen, das steile Gelände zu terrassieren und die Baracken für das für 3000 Männer ausgelegte Lager aufzubauen.
Mit einem Transport von 150 Häftlingen aus dem KZ Buchenwald trafen im Oktober 1941 die ersten Sinti und Roma in Natzweiler ein. Neben Zugangstransporten aus anderen Konzentrationslagern gab es ab Juni 1943 auch Einweisungen von „Nacht-und-Nebel-Häftlingen“. Diese Bezeichnung ging auf den sogenannten Nacht-und-Nebel-Erlass vom 7. Dezember 1941 zurück, einem Befehl des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel: Danach sollten des Widerstands verdächtigte Menschen aus den besetzten Gebieten bei „Nacht und Nebel“ nach Deutschland verschleppt werden, ohne dass ihre Angehörigen darüber irgendwelche Auskünfte erhielten. Ihr spurloses Verschwinden sollte der Abschreckung dienen. In den Lagern waren sie besonderen Schikanen und härtesten Haftbedingungen ausgesetzt.
Die Häftlinge mussten in unterschiedlichsten Kommandos Schwerstarbeit leisten, wobei die mörderische Arbeit immer mehr auch als Strafmaßnahme wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Verstöße gegen die Lagerordnung verhängt wurden. Neben der Arbeit im Steinbruch mussten Häftlinge das KZ weiter ausbauen. Besonders gefürchtet war das „Kartoffelkeller-Kommando“, bei dem Häftlinge einen Teil des Berges zunächst nivellieren mussten, um danach – nur mit Hacke und Schaufel als Werkzeug – im Felsgestein ein unterirdisches Silo auszuheben.
Mit dabei war der 1913 in Triest geborene Slowene Boris Pahor, Häftling 8362, der den Terror überlebte: Wegen seiner zufällig entdeckten Vielsprachigkeit kam er als Sekretär und Dolmetscher in der Krankenstation zum Einsatz. Er beschrieb später, wie die Konvois jener aussahen, die von den Arbeitskommandos zurückkehrten: „Ihre Beine waren mit Papierfetzen von Zementsäcken umwickelt, die mit Draht festgehalten wurden; als die Krankenpfleger sie loswickelten, klafften einem eitrige, lange, an beiden Enden zugespitzte Wunden entgegen […]. Die Mehrheit konnte nicht aus eigener Kraft von den Lastwagen absteigen und wenn man sie auf den Boden stellte, hockten oder lagen sie so lange, bis jemand ihre Skelette unter die Dusche schleppte; für jene, die nicht mehr atmeten, gab es die ein Meter lange Zange, die an der gelben Haut des Halses zupackte.“ In Natzweiler Erlebtes hat Pahor, nach der Befreiung einer der bekanntesten Vertreter der slowenischen Gegenwartsliteratur, in seiner Erzählung „Nekropolis“ verarbeitet und jenen Mithäftlingen gewidmet, die nicht zurückkehrten.

Pseudowissenschaftliche Menschenversuche und Hinrichtungen

Der Verbrennungsofen

Im November 1942 begannen in Natzweiler pseudowissenschaftliche Versuche an Häftlingen. Im Rahmen einer Kooperation mit der medizinischen Fakultät der ein Jahr zuvor gegründeten Reichsuniversität Straßburg dienten überwiegend aus Auschwitz herbeigeschaffte Sinti und Roma den Professoren Otto Bickenbach, Eugen Haagen und August Hirt bei ihren Experimenten als menschliche „Versuchskaninchen“. An ihnen wurde die Wirkung von Senfgas und Phosgen erprobt; sie erhielten Flecktyphus-Injektionen und wurden Sterilisationsversuchen unterworfen. Die Folgen waren starke Verbrennungen, teilweise Blindheit und schwerste Lungen- und Organschädigungen. Wie viele Männer diese qualvollen Experimente nicht überlebten, ist heute nicht mehr exakt bezifferbar. Einer der Schauplätze dieser „Forschungen“ war die im April 1943 in einem Nebengebäude des ehemaligen Hotels Struthof eigens eingerichtete Gaskammer. Im August 1943 wurden in ihr auch 86 Jüdinnen und Juden für den Aufbau der „Schädelsammlung“ der Reichsuniversität Straßburg vergast. In einem Brief vom 9. Februar 1942 hatte Hirt diesen Plan Heinrich Himmler schmackhaft gemacht: „Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schädelsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenig Schädel zur Verfügung, daß ihre Bearbeitung keine gesicherten Ergebnisse zuläßt“, schrieb Hirt. Und weiter: „Der Krieg im Osten bietet uns jetzt Gelegenheit, diesem Mangel abzuhelfen. ln den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches, aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwerben, indem wir uns ihre Schädel sichern.“ Für das auch von Wolfram Sievers, dem Chef der SS-„Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“, unterstützte Projekt selektierten die beiden Anthropologen Bruno Beger und Hans Fleischhacker im KZ Auschwitz Frauen und Männer, die in einem unregistrierten Transport nach Natzweiler verfrachtet wurden.

Gedenktafeln für die Opfer der Menschenversuche auf dem Gelände der Gaskammer

Nach der Befreiung Straßburgs wurden die zerstückelten Leichen der 29 Frauen und 57 Männer im Keller des Anatomischen Instituts gefunden. Der Kulturwissenschaftler Hans-Joachim Lang hat diese „Morde für die Wissenschaft“ erforscht und nach jahrelangen Recherchen die Namen und die Herkunft der 86 Mordopfer ermittelt. Über die Hälfte von ihnen stammte aus Griechenland; sie gehörten zu jenen über 45.000 Jüdinnen und Juden, die nach der deutschen Besetzung Griechenlands zwischen Mitte März und Mitte August 1943 aus Thessaloniki  nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden waren.
Ab 1942 fanden im Lager auch Hinrichtungen von externen, dort nicht inhaftierten Menschen statt. Das KZ wurde zum zentralen Hinrichtungsort für Elsass-Lothringen. So wurden etwa am 6. Juli 1944 vier junge Frauen, Andrée Borrel, Vera Leigh, Sonia Olschanezky und Diana Rowden mit Phenol-Spritzen ermordet; sie waren im Widerstand für den britischen Nachrichtendienst SOE (Special Operations Executive) aktiv gewesen,. Und allein in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1944 – unmittelbar vor der Räumung des Konzentrationslagers – wurden 142 Frauen und Männer der Widerstandgruppen „Réseau Alliance“ und „Groupe mobile Alsace Vosges“ erhängt oder durch Genickschüsse umgebracht.

Stammlager ohne Hauptlager

Zwischen Ende 1942 und August 1944 errichtete das NS-Regime im Elsass, in Lothringen, im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz, in Hessen sowie in Württemberg, Hohenzollern und Baden viele Außenlager des KZ Natzweiler, darunter auch die Lager in Schörzingen, Geislingen an der Steige und Bisingen. Wie auch im Hauptlager, das ab Mitte 1943 den ohnehin nie rentablen Granitabbau reduzierte und Häftlinge stattdessen für Rüstungsbelange einsetzte, wurden die Häftlinge in den Außenlagern unter erbärmlichsten Bedingungen für den Auf- oder Ausbau militärischer Einrichtungen und in „kriegswichtigen Industriebetrieben“ eingesetzt.

Anfang September 1944 erging aufgrund des raschen Vormarschs der Westalliierten der Befehl zur Räumung aller Lager auf der linken Rheinseite. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich im total überfüllten Hauptlager über 6000 Häftlinge, die in das KZ Dachau überstellt wurden. Häftlinge der linksrheinischen Außenlager verschob man in die Außenlager auf der rechten Rheinseite oder in andere große Konzentrationslager. Die Kommandantur blieb noch bis Ende November 1944 im Hauptlager und übersiedelte dann von Natzweiler in das Neckardorf Guttenbach. Finanzverwaltung und Effektenkammer waren in Binau und die Fahrbereitschaft in Neunkirchen untergebracht. Ab Anfang 1945 hatte das KZ Natzweiler schließlich keinerlei festen Sitz mehr – es existierte also nur noch auf dem Papier verwaltungstechnisch als Stammlager für die Außenlager weiter. Darüber hinaus entstanden auch nach der Evakuierung des Hauptlagers noch zwanzig neue rechtsrheinische Außenlager, darunter auch das KZ Spaichingen und das KZ Hailfingen-Tailfingen.
Vor dem Eintreffen der westalliierten Truppen wurden die Außenlager Ende März / Anfang April 1945 aufgelöst und die Häftlinge nach Dachau transportiert oder dorthin zu Fuß auf Todesmärsche getrieben, die viele nicht überlebten. Schätzungsweise 52.000 Menschen waren zwischen 1941 und 1945 im Hauptlager und allen über 50 Außenlagern inhaftiert. Lückenhafte Verzeichnisse insbesondere ab September 1944 sowie häufige Häftlingsverschiebungen zwischen den Lagern erlauben noch immer keine präziseren Angaben.

Gedenkstätte, Museum, Europäisches Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers und transnationales Gedenken

Skulptur des Bildhauers Georges Halbout im Eingangsbereich des CERD

Seit dem Jahr 1950 stehen das Gelände des Lagers sowie das Gebäude der ehemaligen Gaskammer unter Denkmalschutz; die meisten der mittlerweile verfallenen Baracken wurden allerdings später zum Abriss freigegeben. Oberhalb des Gräberfelds, auf dem in verschiedensten Konzentrationslagern ermordete französische KZ-Häftlinge bestattet sind, weihte der damalige Staatspräsident Charles de Gaulle am 23. Juli 1960 das 40 Meter hohe nationale Deportationsdenkmal ein. 1965 wurde die Gedenkstätte um ein Museum erweitert, das eine Ausstellung zur Lagergeschichte beherbergt. Und seit dem Jahr 2005 dokumentiert das Europäische Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers (Centre Européen du Résistant Déporté, CERD), in das auch der „Kartoffelkeller“ einbezogen wurde, beeindruckend die Geschichte des europäischen Widerstands gegen das NS-Regime.
Viele bürgerschaftlich getragenen Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen haben sich zum „Verbund der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e.V. (VGKN)“ zusammengeschlossen, um ihre Zusammenarbeit besser organisieren und wirksamer gestalten zu können. Im Jahr 2018 wurde den baden-württembergischen Mitgliedern des VGKN zusammen mit dem CERD, der Gedenkstätte Fort de Metz-Queuleu und der Gedenkstätte Tunnel d’Urbès das Europäische Kulturerbe-Siegel verliehen. VGKN und CERD arbeiten darüber hinaus am gemeinsamen „Transnationalen Portal Natzweiler“ und der Realisierung einer über 52.000 Datensätze umfassenden Häftlingsdatenbank.

Sabine Bade (Text und Fotos)

Vertiefende Informationen:

Brenneisen, Marco: Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen – Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945, Stuttgart 2020
Hervé, Florence (Hg.): Natzweiler-Struthof – Ein deutsches KZ in Frankreich, Köln 2015
Pahor, Boris: Nekropolis, Berlin 2001
Steegmann, Robert: Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und seine Außenkommandos an Rhein und Neckar 1941–1945, Berlin 2005
Transnationales Portal der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler (www.natzweiler.eu)
Verbund der KZ-Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler  e.V. (http://vgkn.eu)
Europäisches Zentrum der Deportation und Widerstand Struthof (www.struthof.fr/de)
Die Namen der Nummern – Erinnerung an 86 jüdische Opfer eines Verbrechens von NSWissenschaftlern (www.die-namen-der-nummern.de)

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:

Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)