Ausflüge gegen das Vergessen (28): Das jüdische Hohenems

Dort, wo im Ortskern von Hohenems die Judengasse und die Christengasse zusammentrafen, lebten über 300 Jahre lang Jüdinnen und Juden, die die Kleinstadt in Vorarlberg nachhaltig prägten. Auch wenn es dort heute – nach Zwangsumsiedlung und anschließender Deportation der letzten Mitglieder durch das Nazi-Regime – längst keine eigene jüdische Gemeinde mehr gibt, gilt das Jüdische Viertel als eines der wenigen so lückenlos erhalten gebliebenen Ensembles mit jüdischer Geschichte. Mittendrin und weit über Vorarlberg hinaus bekannt steht das jüdische Museum als sehr lebendiger Ort der Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit.

Über 300 Jahre jüdisches Leben in Hohenems

Es waren wirtschaftliche und politische Interessen, die zur Gründung der jüdischen Gemeinde Hohenems im Jahr 1617 führten: Mit der ehrgeizigen Absicht, den Marktflecken durch jüdische Händler zu beleben, schuf Reichsgraf Kaspar von Hohenems durch einen Schutzbrief die rechtliche Grundlage für die Ansiedlung jüdischer Familien. Zwar war ihr Leben in Hohenems fortan von vielen Diskriminierungen, auch hoher Steuerlast, bestimmt, aber ihre Religion durften sie ausüben.

Die behutsam teilrekonstruierte Synagoge

Der jüdische Friedhof am südlichen Ortsausgang existiert seit dem Beginn der jüdischen Ansiedlung. Die Synagoge im Zentrum des jüdischen Viertels öffnete im Jahr 1772 ihre Türen und bot Platz für 300 Menschen (von denen die Frauen ab den 1880er Jahren nicht mehr auf der Empore separiert wurden). Die jüdische Schule wurde 1828, das Ritualbad, die Mikwe, ein Jahr später errichtet; ein Versorgungsheim für die Alten und eines für Arme folgte. Die von zwölf Familien begründete jüdische Gemeinde wuchs im 18. Jahrhundert kontinuierlich und erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts mit über 500 Mitgliedern ihren demografischen Höhepunkt.

Als Jüdinnen und Juden in Österreich durch die so genannte Dezemberverfassung des Jahres 1867 endlich die Gleichstellung erlangten und das Recht auf uneingeschränkten Aufenthalt und auf freie Religions- und Berufsausübung erhielten, wanderten viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde aus Hohenems in die wirtschaftlichen Zentren der nahegelegenen Schweiz, die Städte der k.u.k. Donaumonarchie oder nach Übersee aus. Schon um 1930 zählte die Gemeinde weit weniger als fünfzig Menschen. Einige der Übriggebliebenen verliessen den Ort vor, andere direkt nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Einer von ihnen war Kurt Bollag, das 1921 letztgeborene Mitglied der jüdischen Gemeinde von Hohenems, der das Glück hatte, dass seine Eltern schon vor 1938 ihren Hauptwohnsitz über die nahe Grenze in das Schweizer Rheintal verlegten.

Der jüdische Friedhof

Sieben Gemeindemitglieder lebten 1939 noch in Hohenems, darunter auch der letzte Vorsteher der geschrumpften Gemeinde, Theodor Elkan mit Frau und Sohn. Niemand von ihnen überlebte das Nazi-Regime: Sie wurden im Frühsommer 1940 in den 2. Wiener Gemeindebezirk zwangsumgesiedelt, dort in überfüllte sogenannte Judenhäuser gesteckt und später in die Konzentrations- und Vernichtungslager Theresienstadt, Izbica, Groß-Rosen und Treblinka deportiert. Im September 1940 vermeldete das „Vorarlberger Tagblatt“ mit Genugtuung, dass die letzten Juden aus Hohenems verschwunden seien. „Unfreiwillig verzogen“ steht auf den im Juni 2014 für sie in Hohenems verlegten Stolpersteinen.

Der Zwangsumsiedlung ging die vollständige Ausraubung und Zwangsauflösung der jüdischen Kultusgemeinde voraus. Ihre Liegenschaften und Besitztümer bekam die Gemeinde Hohenems für einen Spottpreis. „Erinnerungsstätten ehemaliger jüdischer Herrschaft“ sollten konsequent „ausgemerzt“ werden, verkündete der damalige Hohenemser Bürgermeister Josef Wolfgang. So wurde 1938 auch aus der Judengasse die „Friedrich-Wurnig-Straße“, benannt nach jenem SS-Mann, der im Zuge des Juli-Putsches 1934 den Innsbrucker Polizeichef Franz Hickl erschossen hatte und danach zum „Blutzeugen der nationalsozialistischen Bewegung“ erhoben worden war.

… und was davon gerettet werden konnte

Gedenktafel an der Außenmauer des jüdischen Friedhofs

Jüdisches Leben kehrte direkt nach dem Ende des Kriegs nach Hohenems zurück: Zwischen 1945 und 1954 lebten mehr als tausend jüdische Überlebende, sogenannte Displaced Persons (DPs), in Vorarlberg. Die meisten blieben nur für kurze Zeit und reisten in die USA oder nach Palästina weiter. In Hohenems quartierten die französischen Besatzungsbehörden kurz vor Weihnachten 1945 die ersten DPs in der unzerstört gebliebenen Synagoge ein. Das Zusammenleben im Ort gestaltete sich nicht problemlos, wie im Katalog des Jüdischen Museums nahzulesen ist: „Sie alle aber traten selbstbewusst auf und scheuten keinen Konflikt mit den Einheimischen – fühlten sie sich doch moralisch im Recht. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie auch die lokalen Behörden für mitschuldig an den NS-Verbrechen hielten und dass sie sich an ihre Regeln und Verordnungen nicht immer gebunden fühlten. Und sie zeigten ihr ‚Jüdisch-Sein‘ in der Öffentlichkeit, mit Festen und Demonstrationen. Die Einheimischen standen ihnen, den ‚fremd‘ wirkenden Ostjuden, irritiert und häufig feindlich gegenüber.“ Sie seien völlig anders als die „alten“ assimilierten Hohenemser Juden gewesen, heißt es im Katalog weiter. Denn „sie verstießen durch ihre schiere Präsenz gegen das Tabu, das über die Nazizeit errichtet worden war, sie ‚erinnerten‘ an die antisemitischen Klischees, sie sprachen Jiddisch und Polnisch, und sie waren wohl nicht immer freundlich gesinnt, vor allem, wenn sie auf Ressentiments stießen. Und das geschah häufig. […] Für das hinter ihnen liegende Leid interessiert sich kaum jemand, im Gegenteil, die fehlende Dankbarkeit der DPs wurde ständig bemängelt, schließlich lebten sie von der Landesfürsorge. Die DPs ihrerseits staunten über das mangelnde Schuldbewusstsein der Täter und Mitläufer.“

Stolpersteine vor dem „Elkan-Haus“ in der ehemaligen Judengasse (heute: Schweizer Straße)

Ein radikaler und auch symbolischer Schlussstrich unter das jüdische Leben in Hohenems wurde nach der Rückgabe des Gebäudes durch die französische Verwaltung mit dem Umbau der Synagoge in ein Feuerwehrhaus gezogen: Alle Elemente, die an die Funktion des Gebäudes als Synagoge erinnert hatten, wurden zerstört und auf der steinernen Stiftungstafel am Gebäude war fortan zu lesen: „Erbaut 1954/55 als Säuglingsfürsorge und Feuerwehrgerätehaus.“

Diese Schlussstrich-Mentalität entsprach durchaus dem Zeitgeist. Zum Vergleich: In Deutschland war zu dieser Zeit Hans Globke – der Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze – noch Konrad Adenauers engster Berater, und von Fritz Bauer, der Mitte der 1960er Jahre den Auschwitz-Prozess erstritt, ist das Zitat überliefert: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“.
Zumindest konnten Kurt Bollag und andere Hohenemser Nachkommen die Zerstörung des jüdischen Friedhofs verhindern: 1954 gründeten sie einen Verein zu dessen Erhalt und übernahmen den Friedhof.
Danach dauerte es knapp zwanzig Jahre, bis 1973 erstmals die Idee zur Errichtung eines jüdischen Museums in Hohenems aufkam. Kulturpolitisch engagierte BürgerInnen gründeten 1986 den „Verein Jüdisches Museum Hohenems“, um die Möglichkeit zu eröffnen, jüdische Geschichte, jüdisches Leben und Kultur kennenzulernen. Es wurde am 10. April 1991 in der ehemaligen Villa Heimann-Rosenthal eröffnet. Das Gebäude gehört zu jenen aus früherem jüdischen Besitz, die im Rahmen der auch von der Stadtverwaltung mitgetragenen Erneuerung des historischen Zentrums vorher saniert worden waren. Im Jahr 1996 wurden die wesentlichsten Teile des Jüdischen Viertels vom österreichischen Bundesdenkmalamt unter Schutz gestellt. Die Synagoge diente noch bis 2001 der Feuerwehr, wurde danach behutsam teilrekonstruiert und beherbergt seit Mai 2006 einen Saal, der nach dem Hohenemser Kantor und Komponisten Salomon Sulzer (1804–1890) benannt ist.

Das Jüdische Museum – experimenteller Ort der Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit

Jüdisches Museum Hohenems

Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Hohenems vermittelt mit vielfältigen Exponaten und Videoinstallationen und auch einer eigenen Kinderausstellung die Geschichte der jüdischen Gemeinde von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende im Nationalsozialismus. Einer Gemeinde, die stets gezwungen war, ihre Kinder in andere Orte (von Süddeutschland bis nach Norditalien) zu schicken, da die Zahl der bewilligten Niederlassungen und Familien in Hohenems beschränkt blieb. Nachkommen jüdischer Familien aus Hohenems leben heute überall auf der Welt; eine wesentliche Dimension der Arbeit des Jüdischen Museums besteht darin, das Netzwerk der Hohenemser Diaspora zu pflegen.

Das Museum ist alles andere als ein „jüdisches Heimatmuseum“: Hier werden vor allem in vielen Wechselausstellungen und Veranstaltungen unbequeme Kapitel der Geschichte, die NS-Zeit und der lange tabuisierte regionale Antisemitismus ebenso thematisiert wie gegenwärtige Fragen der Migration in einer modernen Einwanderungsgesellschaft. Für Hanno Loewy, der in Konstanz promovierte, Gründungsdirektor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts war und der das Jüdische Museum Hohenems seit 2004 leitet, ist es zum experimentellen Ort der Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit geworden. „Die Entwicklung hier in Hohenems hat man in Frankfurt, Wien, ja überall sehr schnell wahrgenommen. Alle haben plötzlich über Hohenems geredet“, erläuterte er im Interview des Hohenemser Stadtmarketings. „Und so legen wir Wert darauf, dass unsere Arbeit ganz unterschiedliche Menschen miteinander verbindet. Vom Urlaubsgast bis hin zu den Einheimischen, von Kindern bis zum Seniorenclub, Menschen mit christlichem, jüdischem, islamischem Hintergrund – alle sollen sich hier begegnen und gemeinsam über die Fragen unserer Zeit nachdenken, oder beim Kaffee angeregt miteinander reden können.“ 

Sabine Bade (Text und Fotos)

Vertiefende Informationen:

Jüdisches Museum Hohenems
Katalog der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Hohenems (PDF)
Hanno Loewy berichtet vom Schicksal der Familie Elkan, YouTube, 5.32 min.
Esther Haber (Hg.): Displaced Persons: Jüdische Flüchtlinge nach 1945 in Hohenems und Bregenz, 1998
Hanno Loewy und Petert Niedermair (Hg.): Hier: Gedächtnisorte in Vorarlberg 38–45, 2008
Meinrad Pichler: Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer – Täter – Gegner. Innsbruck 2012

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)