Ausflüge gegen das Vergessen (24): Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten“

Von den NS-Tätern als „lebensunwertes Leben“ charakterisiert, wurden 1940 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion mindestens 352 PatientInnen der Heilanstalt Zwiefalten – und von dort aus weitere circa 700 PatientInnen anderer Anstalten – ins Gas geschickt. Aber auch danach ging das Morden auf dem Areal der ehemaligen Benediktinerabtei am südlichen Ausläufer der Schwäbischen Alp weiter: Bis zum Ende der Nazi-Diktatur starben dort noch über 1500 Menschen; manche wurden zu Tode gespritzt.

Die wenigsten der vielen BesucherInnen der an der Oberschwäbischen Barockstraße gelegenen ehemaligen Benediktinerabtei Zwiefalten dürften wissen, welche Gräuel sich hier zwischen 1933 und 1945 abspielten: Das im Rahmen der Säkularisation 1802 aufgelöste Kloster, ab 1806 als württembergische „königliche Landesirrenanstalt“ genutzt, war als staatliche Heilanstalt nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten Schauplatz grausamster Verbrechen an kranken und behinderten Menschen.

Zwiefalten als „Zwischenanstalt“ für den Krankenmord im Jahr 1940 

Kranke und behinderte Menschen – oder wen die Nazis dafür hielten – gehörten zu den ersten Opfern im Nationalsozialismus. Nachdem in der Heilanstalt Zwiefalten auf Basis des am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in den Jahren davor bereits ungefähr 200 PatientInnen zwangssterilisiert worden waren, wurde die Anstalt 1940 zum Ausgangsort systematischer PatientInnenmorde. Am 2. April 1940 verließ der erste Transport Zwiefalten, um psychisch kranke Männer, Frauen und Kinder in die nur circa 25 Kilometer entfernte Tötungsanstalt Schloss Grafeneck zu bringen.

Der im Jahr 1987 aufgestellte Gedenkstein

Von den Tätern waren sie als „lebensunwertes Leben“ charakterisiert und ihre Ermordung im Rahmen des umfassenden NS-Programms zur „Reinigung des Volkskörpers“ als „Gnadentod“ (Euthanasie) bezeichnet worden. In der Gaskammer von Grafeneck begann der heute meist nach der Zentralstelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 als „Aktion T4“ bezeichnete Massenmord, dem allein dort mindestens 10.654 PsychiatriepatientInnen und AnstaltsbewohnerInnen – ob krank oder nicht – zum Opfer fielen.

Bis zum 9. Dezember 1940 wurden insgesamt mehr als 1000 Menschen in den grauen Bussen der NS-Scheinorganisation „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ aus Zwiefalten nach Grafeneck deportiert und getötet.

Getarnt wurden diese Transporte als „Verlegungen“ in andere Anstalten. Dass diese Tarnung zumindest teilweise gelang, hing mit umfangreichen Patientenverschiebungen von Anstalt zu Anstalt zusammen. So wurden beispielsweise kurz nach Kriegsausbruch im September 1939 alle annähernd 600 PatientInnen der grenznahen Heilanstalt Rastatt nach Zwiefalten verlegt. Auch 299 sogenannte „volksdeutsche“ Psychiatriepatienten aus Pergine Valsugana im Trentino (Italien) wurden nach Zwiefalten gebracht. Die vielen Patientenverschiebungen erreichten ein Ausmaß, das, so der Psychiater und frühere stellvertretende Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Reichenau, Heinz Faulstich, „wohl keiner anderen zivilen Personengruppe zugemutet wurde“. Aber auch zur Vertuschung der Massenmorde in Grafeneck wurden Insassen vieler Heilanstalten nicht auf direktem Weg in die Tötungsanstalt, sondern zunächst in eine andere Anstalt verlegt. Wofür Zwiefalten wegen seiner Nähe zu Grafeneck geradezu prädestiniert war.

Die katastrophalen Zustände, die sie im Sommer 1940 vorfand, schilderte eine junge Assistenzärztin: „Der lange, ehemalige Klostergang war übervoll mit Patienten gepfropft. Sie lagen auf der Erde, auf den Stühlen, auf Strohsäcken, auf Tischen, bunt durcheinander, alte und junge, mißgestaltete, völlig kahl geschorene Menschen, denen mit blauer Farbe eine Nummer auf die Vorderstirn und auf den Unterarm geschrieben war … Von meinen ehemaligen Patienten traf ich nur noch zwei an. Ohne daß ich es ahnte, war ich in die Vorstation von Grafeneck geraten.

„Wilde Euthanasie“ in Zwiefalten

Diese Tafel informiert über Art und Umfang der hier begangenen Verbrechen

Mitte Dezember 1940 wurde das systematische Morden in Grafeneck eingestellt, in Zwiefalten aber wurde „Euthanasie“ an den hilflosen Insassen fortgesetzt. Ihr Tod wurde durch Verhungernlassen, durch das Herbeiführen von Erkrankungen aufgrund unzureichender Beheizung, durch die Inkaufnahme von Seuchen bei katastrophaler Überbelegung und durch die teilweise bewußt unterlassene Pflege herbeigeführt.

Eine der Frauen, die diesen mörderischen Bedingungen in Zwiefalten erlag, war die junge kommunistische Widerstandskämpferin Elisabeth Schikora. Als Mitglied der Stuttgarter Widerstandsgruppe „G“ um Hans Gasparitsch war sie 1935 verhaftet und nach schweren Folterungen durch die Gestapo wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Während ihrer Haftzeit in der Frauenstrafanstalt Aichach sollen sich bei ihr Haftpsychosen eingestellt haben, die zu einem Selbstmordversuch führten. Ende 1937 wurde sie mit der Diagnose Schizophrenie in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen. Auch hier soll sie mehrere Selbstmordversuche unternommen haben. Am 12. Februar 1944 starb sie in Zwiefalten. An Tuberkolose, wie es hieß.

Wieviele der über 1500 Menschen, die im Rahmen dieser dezentralen, wilden „Euthanasie“ bis zum Ende der Nazi-Herrschaft in Zwiefalten starben, gezielt durch Tabletten oder Spritzen getötet wurden, lässt sich nicht mehr feststellen. „Kriegst a Spritzn, bist hin“, kommentierte zynisch die Zwiefalter Direktorin Dr. Martha Fauser (1889-1975) diese Vorgehensweise. Im Tübinger Grafeneck-Prozess, der im Sommer 1949 begann, wurde sie, die die Heilanstalt seit August 1940 leitete und für insgesamt zwölf Transporte mit 387 Patientinnen und Patienten aus Zwiefalten und anderen Anstalten verantwortlich zeichnete, wegen dreier erwiesener Einzeltötungen zu einer Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren verurteilt, die aber durch die Untersuchungshaft als verbüßt galt. Ihr ebenfalls angeklagter Vorgänger Dr. Alfons Stegmann wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Gedenken an die Opfer

Das Psychatriemuseum

Die über 1500 Frauen, Männer und Kinder, die zwischen 1940 und 1945 in der Heilanstalt Zwiefalten starben, wurden auf dem anstaltseigenen Friedhof gleich neben dem kapellenähnlichen Gebäude der früheren Pathologie bestattet. Ihre   Gräber wurden jedoch bereits Ende der 1950er Jahre eingeebnet, und erst im Jahr 1987 konnte – dank des Engagements einzelner MitarbeiterInnen und des Personalrats des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg am Standort Zwiefalten, zu dem die ehemalige Heilanstalt mittlerweile gehört – ein Gedenkstein in Erinnerung an die „Opfer hier begangenen Unrechts 1933-1945“ feierlich eingeweiht werden. Der Gedenkstein mit seiner noch sehr vage gehaltenem Inschrift steht noch immer, ihm schräg gegenüber gibt aber mittlerweile eine Informationstafel Auskunft über Art und Umfang der hier begangenen Verbrechen. Zudem wurde im Jahr 2003 in der ehemaligen Pathologie das Württembergische Psychiatriemuseum eröffnet, das sich circa 200 Jahren Psychiatriegeschichte widmet, darunter auch mit einigen Exponaten und Schaukästen der Morde im Rahmen der sogenannten „NS-Euthanasie-Aktionen“. 

Sabine Bade (Text und Fotos)

  

Vertiefende Informationen:

Württembergisches Psychiatriemuseum Zwiefalten
Der Standort Zwiefalten als Haltestelle des Grauen Busses
swp.de: Zwiefalten arbeitet Südtiroler Schicksale auf
Heinz Faulstich: Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993;
Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 3. Aufl. 2012

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)