Ausflüge gegen das Vergessen (29): Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige

Ab Juli 1944 wurden über achthundert jüdische Mädchen und Frauen, die bei der Selektion in Auschwitz als „arbeitsfähig“ eingestuft worden waren, auf Veranlassung der Firma Württembergische Metallwaren Fabrik (WMF) nach Geislingen verlegt. Untergebracht in einem eigens für sie errichteten Konzentrationslager, mussten sie im längst auf lukrative Rüstungsproduktion umgestellten WMF-Werk Schwerstarbeit leisten. Frauen, die aufgrund der elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen schwer erkrankten und nicht mehr arbeitsfähig waren, hat das Nazi-Regime zur Vergasung zurück nach Auschwitz befördert. 

Vom Zwangsarbeitslager im „Kriegsmusterbetrieb“ WMF …

Statt weiterhin Kochtöpfe und Besteck herzustellen, hatte die Württembergische Metallwaren Fabrik (WMF) relativ früh einen Teil ihrer Produktion auf Rüstungsgüter umgestellt. Als Zulieferbetrieb der Luftwaffenindustrie weitete die WMF diesen Anteil nach Beginn des Krieges maßgeblich aus und konnte damit ihren Umsatz von 1939 bis 1943 nahezu verdoppeln. Für die Unterbringung der dafür nötigen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen stellte die Stadt Geislingen der WMF, dem größten Unternehmen vor Ort und ab 1943 „Kriegsmusterbetrieb“, im Rahmen der Wirtschaftsförderung ein Areal zur Errichtung eines Zwangsarbeiterlagers zur Verfügung. Als Arbeitskräfte immer knapper wurden, beantragten Vertreter der WMF Anfang 1944 über das Rüstungsministerium die Zuteilung jüdischer Häftlinge. Dafür trennte die Firma einen Teil des Zwangsarbeitslagers ab, versah ihn mit einem hohen Stacheldrahtzaun und anderen Sicherungsmaßnahmen und schloss einen Vertrag mit dem Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, dem das Lager verwaltungstechnisch zugeordnet wurde.

Auf solchen Holzpantinen, auch bei Eiseskälte meist barfuss, mussten die Frauen den Weg zwischen Lager und WMF zurücklegen

Nachdem klar war, dass der WMF nicht männliche, sondern weibliche jüdische Häftlinge zugeteilt würden, musste für diese Wachpersonal gefunden werden. Dafür warb die Firma unter der eigenen Belegschaft nach geeigneten Personen: Gesucht wurden Arbeiterinnen, die als SS-Aufseherinnen des Lagers fungieren sollten. Anschließend entsandte die WMF die ausgewählten Frauen zur „Ausbildung“ in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.

… zum KZ-Außenlager

Der erste Häftlingstransport mit knapp 700 jüdischen Mädchen und Frauen aus Ungarn traf am 28. Juli 1944 in Geislingen ein. Sie waren nach der im März 1944 durch deutsche Truppen erfolgten Besetzung Ungarns nach Auschwitz deportiert worden, dort aber dem planmäßigen Massenmord an den Jüdinnen und Juden Ungarns entgangen. Nach einer vierwöchigen Quarantäne mussten sie nun unter elenden Arbeits- und Lebensbedingungen für die WMF Schwerstarbeit leisten.

Im November 1944 traf die zweite Häftlingsgruppe mit 120 polnischen Jüdinnen aus dem Raum Lodz in Geislingen ein. Der Leidensweg dieser Mädchen und Frauen – die jüngste von ihnen war erst zwölf Jahre alt – begann im Ghetto von Lodz und führte sie über die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen nach Geislingen.

Das Mahnmal „Geschundener Kopf“ auf dem Friedhof Heiligenäcker

Im Lager, das unter SS-Kommando stand, waren die Häftlinge Willkürmaßnahmen und sadistischen Misshandlungen ausgesetzt; schon die kleinsten „Vergehen“ gegen die Lagerordnung, etwa der Diebstahl von Kartoffelschalen, zogen Prügel nach sich.

Noch Ende März 1945 trafen weitere circa 230 total erschöpfte jüdische Ungarinnen und Polinnen aus den bereits aufgelösten Lagern Calw und Geisenheim in Geislingen ein. Kurz darauf begannen wegen ständig näherrückender US-amerikanischer Truppen die Vorbereitungen für die Räumung des Lagers. Nach einem letzten Zählappell am 10. April 1945 wurden alle 813 Geislinger Häftlinge zusammen mit den Frauen aus Calw und Geisenheim zum Bahnhof getrieben. Dort stand ein Zug bereit, der sie in das KZ München-Allach brachte. Nach nur wenigen Tagen Aufenthalt mussten sie den nächsten Zug besteigen, diesmal in Richtung Tirol. Unterwegs befreiten US-Truppen Ende April die Deportierten.

Im Rahmen der Rastatter Prozesse fand vom 20. bis 27. September 1948 das Verfahren gegen Verantwortliche des KZ Geislingen statt. Das von der französischen  Militärverwaltung eingesetzte Tribunal verurteilte den letzten Lagerkommandaten René Roman wegen widersprüchlicher Aussagen der Zeuginnen zu lediglich zwei Jahren Haft. Die früheren WMF-Beschäftigten Rosa Baumeister, Maria Beck und Bertha Sommer, die sich als SS-Aufseherinnen verpflichtet hatten, wurden zu Haftstrafen zwischen zwei und sechs Jahren verurteilt. Klara Pförtsch, Funktionshäftling („Kapo“) in Geislingen wie vorher bereits in Ravensbrück und Auschwitz, erhielt für in Geislingen verübte Misshandlungen eine dreijährige Gefängnisstrafe, wurde in einem weiteren Verfahren aber zum Tode verurteilt (später in eine 20-jährige Zuchthausstrafe gewandelt).

Spätes Gedenken

In den 1980er Jahren scheiterte der – auch von der Lagergemeinschaft Ravensbrück unterstützte – Plan einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Sie wollten im Stadtpark gegenüber dem WMF-Gelände eine Gedenkstätte für die Geislinger Opfer des Nationalsozialismus errichten. Als Nestbeschmutzer seien sie damals beschimpft worden, erinnerte sich der Sprecher der SPD-Gemeinderatsfraktion Hansjürgen Gölz im Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 31. Oktober 2014. Ihm sei auf dem Höhepunkt der Kontroverse in anonymen Briefen nahegelegt worden, „nach drüben zu gehen“. Auch die WMF habe sich damals gegen das Ansinnen gewehrt.

Stolperschwelle vor dem Haupteingang der WMF

Nach heftigen Kontroversen entschied schließlich der Geislinger Gemeinderat, statt am „Ort des Geschehens“ auf dem Friedhof Heiligenäcker ein Mahnmal zu errichten, das als „Geschundener Kopf“ bezeichnet wird und eine recht vage Inschrift trägt:
„… es schwinden, es fallen, die leidenden menschen
gedenke der frauen des kz-aussenlagers geislingen
28. juli 1944 – 10. april 1945
und aller opfer der gewalt.
willkür und wahn nahmen ihnen würde und leben“.
Erst dreißig Jahre später konnte der Künstler Gunter Demnig am 15. September 2015 zum Gedenken an die zur Zwangsarbeit gezwungenen KZ-Häftlinge vor dem Haupteingang der WMF in der Eberhardstraße eine Stolperschwelle mit folgendem Text verlegen:

Juli 1944 – April 1945
Zwangsarbeit für die Deutsche Rüstung – WMF
Über 800 jüdische Frauen und Mädchen des Aussenlagers KZ Natzweiler-Struthof in Geislingen gehen täglich diesen Weg in die Fabrik
Sie teilen das Schicksal von mehr als 2000 Zwangsarbeitern der WMF
Deportiert – entwürdigt – ausgebeutet
Viele von ihnen verlieren ihr Leben

Gedenktafel mit den Namen der Mädchen und Frauen auf dem Besucherparkplatz der WMF

Kurz darauf errichtete auch die Firmenleitung der WMF in unmittelbarer Nähe der Stolperschwelle eine Gedenkstätte, die ein Zeichen für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte setzen soll: Auf einer Metalltafel sind die Namen jener Mädchen und Frauen zu lesen, die auf Basis der „Transportliste“ vom April 1945 in Richtung Allach ermittelt werden konnten.

Ende April 2018 wurde schließlich am Ort des früheren Lagers die KZ-Gedenkstätte Geislingen eingeweiht. Vor einem Teil des rekonstruierten Lagerzauns stehen zwei Paar aus Metall nachgegossene Holzpantinen, wie jene, die die Frauen damals tragen mussten. Über die historischen Hintergründe geben zwei Informationstafeln Auskunft.

Sabine Bade (Text und Fotos)

Vertiefende Informationen:

Stadtarchiv Geislingen: Kleine Dokumentation zur Geschichte der Zwangsarbeit und des KZ-Außenlagers Geislingen an der Steige, 2001 (PDF)
Annette Schäfer: Zwangsarbeit in den Kommunen – „Ausländereinsatz“ in Württemberg 1939-1945, 2001 (PDF)
Sybille Eberhardt: Als das ‚Boot‘ zur Galeere wurde – Wie jüdische Frauen und Mädchen aus Lodz und Umgebung Ghettoisierung, Lagerhaft in Auschwitz-Birkenau, … und Deportation nach Allach überlebten, 2018
Anette Hettinger und Marco Brenneisen: NS-Zwangsarbeit im deutschen Südwesten – Entwicklung, Bedingungen und Erinnerung, In: Peter Steinbach et al. (Hg.): Entrechtet verfolgt – vernichtet, NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten, 2016, S. 377–411

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)