Ausflüge gegen das Vergessen (14): Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann

Liselotte (Lilo) Herrmann war die erste Frau, die im NS-Staat als Widerstandskämpferin hingerichtet wurde. Die junge Antifaschistin war verraten, verhaftet und 1937 in Stuttgart wegen „Landesverrats und Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt worden. Im Alter von nur 28 Jahren wurde Lilo Herrmann am 20. Juni 1938 in Berlin-Plötzensee umgebracht. Eine internationale Solidaritätskampagne zur Rettung der jungen Mutter war erfolglos geblieben.

Wäre Lilo Herrmann nicht Kommunistin gewesen, würde ihr Name wohl heute genauso bekannt sein wie jener von Sophie Scholl. Straßen, Wege und Plätze wären nach ihr benannt, die Arbeit der Studentin im illegalen Widerstand gegen das NS-Regime im Schulunterricht thematisiert und die Universität Stuttgart wäre stolz darauf, Lilo Herrmann zu ihren ehemaligen Studentinnen zählen zu dürfen. Da sie aber Kommunistin war, verweigerte die Universität jegliche Ehrung der jungen Frau: Wegen ihrer Überzeugung könne sie kein Vorbild für Studierende sein, befand eine Kommission. Der kleine Gedenkstein für Lilo Herrmann durfte daher 1988 nur auf städtischem Grund – nicht aber auf dem Universitätsgelände – errichtet werden.

Lilo Herrmann – Kein Vorbild für Studierende?

Lilo Herrmann wurde am 23. Juni 1909 in Berlin geboren. Aufgrund mehrerer durch die Ingenieurstätigkeit ihres Vaters bedingter Umzüge besuchte sie in Siegen, Frankfurt und Berlin die Schule. Sie begann früh, sich politisch zu engagieren und wurde Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes. Im Wintersemester 1929/30 nahm sie in Stuttgart ihr Chemiestudium auf, schloss sich dort der Roten Studentengruppe an, wurde Mitglied im Kommunistischen Jugendverband und trat noch während ihrer Studienzeit in Stuttgart der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei.

Lilo Herrmann (Foto: Bundesarchiv, Bild Y 10-1625/65)

1931 zog Lilo nach Berlin und studierte nun an der Friedrich-Wilhelm-Universität Biologie. Nach dem Machtantritt der Nazis und dem Verbot aller Parteien außer der NSDAP wurde sie im Juli 1933 wegen „kommunistischer Tätigkeiten“ vom weiteren Studium ausgeschlossen: Sie hatte als eine von 110 Studierenden einen Aufruf zur Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten an der Berliner Universität unterschrieben. Das Studierverbot galt für alle deutschen Universitäten.

Zusammen mit ihrem kurz zuvor geborenen Sohn Walter – erst 1991 wurde bekannt, dass sein Vater Fritz Rau war, ein Stuttgarter KPD-Funktionär, der im Dezember 1933 im Gefängnis Berlin-Moabit totgeschlagen worden war – zog Lilo Herrmann im  September 1934 wieder zu ihren Eltern nach Stuttgart. Dort  nahm sie Kontakt zur im Untergrund agierenden illegalen KPD auf, arbeitete ab Ende 1934 eng mit Stefan Lovasz, dem Leiter der KPD in Württemberg, zusammen und sammelte für den geheimen Nachrichtenapparat der KPD  Informationen über die illegale Aufrüstung Nazideutschlands. Von Artur Göritz erhielt sie Informationen über die Produktion von Rüstungsgütern, unter anderem in den Dornier-Flugzeugwerken in Friedrichshafen, und leitete das Material in die Schweiz weiter, um es international publik zu machen.

In den frühen Morgenstunden des 7. Dezember 1935 wurde Lilo Herrmann im Haus ihrer Eltern festgenommen. Bei ihr fand sich der Lageplan einer Munitionsfabrik, was den Nazis, zusammen mit Informationen eines Spitzels, zur Anklage genügte. Am 12. Juni 1937 verurteilte der in Stuttgart tagende 2. Senat des „Volksgerichtshofs“ unter dem Vorsitz von Senatspräsident und SS-Oberführer Karl Engert Lilo Herrmann und die ebenfalls angeklagten Stefan Lovász, Josef Steidle und Artur Göritz wegen „Landesverrats und Vorbereitung zum Hochverrat” zum Tode. Danach wurde Lilo in das Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße verlegt. Nachdem die Nachricht von dem Todesurteil gegen die junge Mutter an die Öffentlichkeit gelangt war, empörten sich viele Menschen auch aus bürgerlichen, sozialistischen und christlichen Kreisen und eine internationale Kampagne zur Rettung von Lilo Herrmann wurde gestartet.

Die Lilo-Herrmann-Bewegung 1937/1938

Käte Weick widmet in ihrem Buch „Widerstand und Verfolgung in Singen und Umgebung“ Lilo Herrmann ein ganzes Kapitel. Darin berichtet die Zeitzeugin Suse Kuderer,  die noch in die Schweiz hatte flüchten können, über die beispiellose Solidaritätskampagne zur Rettung der zum Tode Verurteilten: „Die Lilo-Herrmann-Bewegung 1937/1938 muß man sich ungefähr wie die Angela-Davis-Kampagne vorstellen. […] Es war das erste Mal, daß die Hitlerclique offiziell eine junge Mutter aus politischen Gründen zum Tode verurteilt hatte, und die zivilisierte Welt antwortete mit einem Aufschrei der Empörung. Linke und liberale Zeitungen forderten immer wieder: ‚Rettet Lilo Herrmann! Dieser geplante Mord darf nicht ausgeführt werden!‘“

Broschüre zur Rettung Lilo Herrmanns (Foto: Bundesarchiv, DY 55/V278/6/685)

Die Internationale Rote Hilfe organisierte eine europaweite Kampagne. Komitees zur Rettung der Verurteilten bildeten sich in Belgien, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, der Tschechoslowakei, Schweden und der Schweiz. Waschkörbe voll Grußkarten aus aller Welt wurden an Lilo Herrmann adressiert. Die deutschen Konsulate im Ausland wurden angerufen und angeschrieben. In Paris gab die Commission d’amnestie die umfangreiche Broschüre „Eine deutsche Mutter in der Todeszelle“ heraus.

In einem Bericht der Gestapo an den Reichsminister für Justiz vom März 1938 hieß es dazu: „Die Protestschreiben häufen sich seit Monaten zu Bergen. Delegationen belästigen Behörden und Parteidienststellen, um nach Rückkehr in das Heimatland verlogene Berichte zu veröffentlichen.“

Trotz aller Bemühungen blieb die internationale Solidaritätskampagne erfolglos: Am 20. Juni 1938 wurden Lilo Herrmann, Josef Steidle, Stefan Lovász und Artur Göritz in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Ein Grab, an dem ihrer gedacht werden kann, existiert nicht: Die Leichen wurden der Berliner Charité zu Forschungszwecken übergeben.

Stuttgart tat sich lange schwer mit dem Gedenken an Lilo Herrmann

Das Schicksal der im Stuttgarter Widerstand arbeitenden Lilo Herrmann, die der Überzeugung war, dass der Nationalsozialismus besiegt werden könne, wurde in der Heimat nahezu vergessen. Ganz im Gegensatz zur DDR, wo sie als Heldin des antifaschistischen Widerstands galt. So schrieb Friedrich Wolf 1950 ein biographisches Poem über „Lilo Herrmann. Die Studentin von Stuttgart“. Zwei Jahre später wurde es als „Melodram“ von Paul Dessau auch vertont. Und Stephan Hermlin hat in seinem 1951 veröffentlichten Buch „Die erste Reihe“ Lilo Herrmann in seine Porträts von AntifaschistInnen aufgenommen. Zudem wurden Straßen, Plätze und Institute wie die Pädagogische Hochschule im mecklenburgischen Güstrow nach ihr benannt.

In Stuttgart begann dagegen erst in den 1970er- und 1980er Jahren eine öffentliche Debatte um das Gedenken an sie. 1987 lehnte die Universität Stuttgart die vom Stadtjugendring, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA), dem Personalrat der Universität und der Studierendenvertretung vorgebrachte Forderung nach einer Gedenkstätte für Lilo Herrmann zum wiederholten Male ab. Daraufhin errichtete der Stadtjugendring selbst am 20. Juni 1988, Lilo Herrmanns 50. Todestag, einen Gedenkstein – ganz nah an der Uni, aber doch auf städtischem Grund. Die Rathausspitze um den damaligen Oberbürgermeister Manfred Rommel stand hinter dieser Aktion und duldete die Aufstellung des Gedenksteins.

Mittlerweile wird auch an einigen anderen Orten in Stuttgart die Erinnerung an Lilo Herrmann wachgehalten. So wurde 2008 vor dem ehemaligen Wohnhaus von Lilos Eltern in der Hölderlinstraße 22 ein Stolperstein für sie verlegt. Und dem Linken Zentrum in Stuttgart-Heslach dient Lilo Herrmann als Namenspatronin. Warum die Wahl auf sie fiel, ist auf der Homepage des Zentrums nachzulesen: „Lilo Herrmann war eine von denen, die hier vor uns für eine gerechte Welt gekämpft haben. Mit der Namensgebung wollen wir das Gedenken an sie und stellvertretend auch an alle anderen aufrecht erhalten, die im Widerstand gegen Krieg und Faschismus ihr Leben ließen.“

Sabine Bade (Text und Fotos)


Vertiefende Informationen:

Biografie Lilo Herrmann der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Landeszentrale für politische Bildung: Lilo Herrmann
Linkes Zentrum Lilo Herrmann (Hg.) Lilo Herrmann – Eine Stuttgarter Widerstandskämpferin
Käte Weick: Widerstand und Verfolgung in Singen und Umgebung, S. 133-137
Friedrich Wolf: Lilo Herrmann. Die Studentin von Stuttgart, ein biographisches Poem, 1950
Stephan Hermlin: Die erste Reihe, 1951

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
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Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
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Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
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