Das fliegende „ Frauenzimmer“

Einer der wohl ältesten Menschheitsträume schien 1783 in Erfüllung zu gehen. Zwei Franzosen hoben mit dem Heißluftballon der Gebrüder Montgolfier ab und schwebten davon. Das war der Startschuss für eine europaweite Ballon-Euphorie. Wo immer ein Flug anstand, strömten die Menschenmassen, um dem Spektakel beizuwohnen. Vor rund 200 Jahren, genauer am 16.April 1811, war es Wilhelmine Reichard, die als erste deutsche Frau mit einem Ballon abhob.

Die Presse stieg begeistert ein und so war im Vorfeld zu lesen:

Mit allerhöchster Erlaubniß wird Madame Reichard am 16.April ihre erste Luftreise unternehmen. Da Madame Reichard die erste deutsche Frau ist, welche es wagt, allein das Luftschiff zu besteigen, so wird diese Unternehmung gewiss sehr interessant seyn“.

Geboren wurde sie 1788 in Braunschweig. 1807 heiratete sie den Chemiker Johann Carl Gottfried Reichard und zog mit ihm im gleichen Jahr nach Berlin. 1810 baute ihr Mann einen Gasballon und flog mit ihm über eine längere Strecke. Ein Jahr später dann tat es ihm seine Frau Wilhelmine gleich, schwebte etwa 90 Minuten durch die Lüfte und wurde nach der gelungenen Premiere von der schreibenden Zunft als Heldin gefeiert:

Man weiß nicht, wie in ein so zartes, junges Frauenzimmer diese Kühnheit eingekehrt ist; aber sicher begleiten alle fühlenden Herzen diese merkwürdige Luftschifferin, so wie sie den redensten Beweis ablegt, dass auch Frauen-Seelen zu Zeiten mit beherzten Männern an Muth wetteifern.“

Wilhelmine Reichards dritter Ballonflug aber wäre beinahe ihr letzter gewesen. In Dresden bestieg sie bei unsicheren Wetterverhältnissen den Ballon und stieg auf. Ein technischer Defekt trieb sie dann – sie war zu dieser Zeit schon schwanger – auf fast 8000 Meter Höhe. Die wagemutige Frau wurde ohnmächtig, der Ballon zerbarst und stürzte ab. Wie durch ein Wunder überlebte Wilhelmine Reichard den Absturz, da ihr Fluggerät in den Wipfeln eines Fichtenwaldes landete und somit der Aufprall gebremst wurde. Ihr Kind brachte sie kurz darauf wohlbehalten zur Welt.

1815 wollten die Reichards eine eigene chemische Fabrik aufbauen, aber ihnen fehlten die dafür nötigen Finanzen. Also begannen beide wieder mit dem Ballonfahren. Das Paar bereitete jeden seiner Flüge professionell vor und bot jeweils ein publikumswirksames Rahmenprogramm. Da jeweils mehrere tausend Schaulustige für die Flugdemonstrationen Eintritt bezahlten, entwickelten sich die Ballonfahrten zu einem lukrativen Geschäft.

Und Madame Reichard hatte zudem gute Einfälle: Aus ihrem Korb heraus warf sie Blumen auf die begeisterten Zuschauer oder auch kleine Zettelchen, die mit Gedichten versehen waren. Zusätzlich erklärte sie vor oder nach ihren Flügen allen Interessierten, wie der Ballon funktioniert, wie man ihn füllt und in der Luft bewegt. Einmal nahm sie sogar einen Adligen mit auf die Luftreise – der dafür tief in seine Kasse griff. Da sie es auch glänzend verstand, ihre Flüge von der versammelten Presse begleiten zu lassen, erlangte die mutige Frau eine hohe Popularität.

1820 war das Jahr, in dem Wilhelmine Reichard ihre größten Triumphe als Ballonfahrerin verzeichnen konnte. Am 30.Mai war der österreichische Kaiser bei einer Flugvorführung in Prag zu Gast. Er war so begeistert von der Luftpionierin, dass er sie gegen ein stattliches Entgelt für zwei Flüge von Wien aus einlud. Am 1.Oktober 1820 beendete die damals gerade 32-jährige ihre Fliegerkarriere. Sie flog langsam und majestätisch über das Münchner Oktoberfest. Dieser Flug, der siebzehnte, war ihr letzter. Nun hatte die Familie Geld genug, um sich den Bau einer eigenen Fabrik leisten zu können. Das Unternehmen florierte und bescherte den Reichards ein für damalige Verhältnisse stattliches Einkommen. 1848 verstarb Wilhelmine Reichard, die sich längst einen Platz in der Geschichte der frühen Luftfahrt erobert hatte, an den Folgen eines Schlaganfalls.

Autor: H.Reile