Die geheimen Elixiere des Paolo Gorini

Man schreibt das Jahr 1872. In Pisa stirbt der Revolutionär Giuseppe Mazzini, einer der Architekten des geeinten Italiens. Sein Lebenswerk ist 1870 mit der militärischen Einnahme des Kirchenstaats und der Hauptstadt Rom durch italienische Truppen vollendet worden, und das neue Italien will seines Helden nun auf ewig gedenken. So wird Paolo Gorini aus Lodi gerufen. Zum 200sten Geburtstag des „Zauberers von Lodi“ – Konstanz‘ Partnerstadt – ein Essay der Konstanzer Autorin Monika Küble

Die Gesellschaft der Toten

Dieser geniale Naturwissenschaftler Paolo Gorini wurde vor 200 Jahren, am 28. Januar 1813, in Pavia geboren. Der Junge war 12 Jahre alt, als er miterleben musste, wie der geliebte Vater unter den Hufen durchgehender Pferde den Tod fand. Diese Erfahrung bestimmte sein ganzes Leben. Zeitgenossen beschreiben ihn später als melancholisch, menschenscheu, eigenbrötlerisch, der Tod wurde sein ständiger Begleiter. Er selbst schreibt: „Dieser Tag war der schwärzeste in meinem Leben, er schied das Licht von der Finsternis. […] Die meiste Zeit meines Lebens habe ich – ohne allzu sehr darunter zu leiden – der Gesellschaft der Lebenden die Gesellschaft der Toten vorgezogen.“ Wie sein Vater studierte Paolo Gorini Mathematik, Physik und Geologie. Seit 1834 arbeitete er als Physikprofessor am Lyzeum von Lodi, in der Nähe von Mailand. Mit 45 Jahren wurde er frühpensioniert, 1881 starb er in Lodi.

Paolo Gorinis Epoche war die Zeit des „Risorgimento“, des Freiheitskampfes der Italiener gegen Kirche und Fremdherrschaft, die Zeit von Helden wie Mazzini oder Garibaldi und deren Streben nach der Einheit Italiens. Auch Gorini engagierte sich im patriotischen Kampf und musste während der Revolution 1848 zeitweilig in die Schweiz flüchten, weil er für die Revolutionäre spezielle Minen erfunden und gebaut hatte.

Vulkane und Mumien

Der stets neugierige Naturwissenschaftler Paolo Gorini widmete sein Leben jedoch vor allem zwei skurril anmutenden Themen: Vulkanologie und Mumifizierung. Er entwickelte eine eigene Theorie über die Entstehung der Erde und damit auch der Vulkane. Seiner Vorstellung nach war die Erde ursprünglich eine glühende Kugel gewesen. Bei deren Abkühlung entstand eine feste Erdkruste, in der riesige Blasen aus glühender Materie und Gas eingeschlossen waren, die noch heute existieren. Diese „plutonische Materie“ sei verantwortlich für Vulkane und Erdbeben, und auch die Gebirge seien nichts anderes als erloschene Vulkane.

Um seine Theorie zu beweisen, unternahm er diverse Experimente. Schon als Kind besorgte er sich Schießpulver, um mit Explosionen Vulkanausbrüche nachzuahmen, und als Erwachsener baute er in den Straßen von Lodi und Genua kleine Vulkane, in denen er bestimmte mineralische Mischungen zum Schmelzen und Explodieren brachte.

Aber noch faszinierender waren für Gorini Tod und Verwesung. Als Junge sammelte er Brotkrümel, legte sie in beschriftete Holzkästchen und beobachtete den Zersetzungsprozess. Später verlegte er sein Interesse auf tote Menschen. Dabei experimentierte er in zwei Richtungen: Zum einen konstruierte er besonders effektive Krematorien, die in Lodi, Mailand und England gebaut wurden. Zum anderen entwickelte er mehrere Methoden, um tote Körper zu mumifizieren.

In einem Zeitalter ohne Röntgenuntersuchungen und Computertomographie bestand für Ärzte die einzige Möglichkeit, Krankheiten genauer zu untersuchen, darin, die Verstorbenen nach ihrem Tod aufzuschneiden. Dafür mussten die Leichen aber irgendwie konserviert werden. Auch für Medizinstudenten war die Möglichkeit anatomischer Studien an toten Körpern enorm wichtig, und so suchten zahlreiche Wissenschaftler Methoden zur Einbalsamierung von Leichen und Leichenteilen. Nicht umsonst entstand zu jener Zeit der Roman um den genialischen Wissenschaftler Dr. Frankenstein.

Die Stadt Lodi stellte ihrem genialischen Wissenschaftler Paolo Gorini die ehemalige Kirche San Nicolò als Laboratorium zur Verfügung. Sie lag direkt neben dem Krankenhaus, und Gorini erhielt für seine Experimente die Leichname von Menschen, die keine Angehörigen mehr hatten oder für deren Beerdigung niemand bezahlen wollte. Daraus fertigte er seine Präparate, die er mit großem Erfolg in Ausstellungen präsentierte, unter anderem in Frankreich und England.

Die teuflischen Elixiere des „Zauberers“

Paolo Gorini entwickelte unterschiedliche Einbalsamierungsrezepte, von denen man glaubte, er hätte sie mit ins Grab genommen. Seine schriftlichen Unterlagen wurden jedoch 1963 zufällig wieder entdeckt, und dabei stellte sich heraus, dass seine „Geheimelixiere“ je nach erforderlicher Konservierungsdauer aus Schwefelsäure, Kalziumchlorid oder schlicht Weingeist bestanden. Doch so wie heute Gunter von Hagens mit seinen „Körperwelten“ war auch Paolo Gorini nicht unumstritten.

Während die meisten Mitbürger ihn ehrfurchtsvoll „il Mago“, den Zauberer, nannten, protestierte vor allem die Kirche gegen die „teuflischen“ Experimente. Seine Unterkunft in einem Haus des Frauenklosters Sankt Anna wurde ihm bald gekündigt, und nachdem er die Wohnung verlassen hatte, ließen die frommen Schwestern in den Räumen einen Exorzismus durchführen und das ganze Haus bis in den Keller mit Weihwasser besprenkeln. Dass er dennoch mit Unterstützung der Stadt Lodi seine Experimente durchführen konnte, ist ein deutliches Zeichen für die neue laizistische Kultur in der Lombardei nach der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert.

Gorini und Mazzini

Für Paolo Gorini gab es drei verschiedene Gründe für die Mumifizierung – er nannte es „Imbalsamazione“ – von Leichen und Leichenteilen. Zum einen benötigten die Universitäten für ihre Medizinstudenten immer mehr Material für Sektionen, außerdem mussten die vielen neuen anatomischen Museen mit Körperteilen und Organen bestückt werden, die dauerhaft konserviert waren.

Aber vor allem war da die Erinnerungsfunktion: Eine mumifizierte Leiche ist besser als eine Statue, natürlicher, als jeder Bildhauer sie gestalten könnte, „versteinertes Fleisch“. Und damit sind wir wieder bei Giuseppe Mazzini. Gorini hat längere Zeit an dessen Körper gearbeitet, über Jahre hinweg, immer wieder. So gut ist die Mumie erhalten, dass sie 1946 anlässlich der Geburt der Italienischen Republik der erstaunten Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Seitdem ruht sie wieder in ihrem Sarkophag auf dem Cimitero Monumentale di Staglieno in Genua, dessen Inschrift lautet: Il corpo a Genova, il nome ai secoli, l’anima all’umanità – Sein Körper den Genuesen, der Name den Jahrhunderten, seine Seele der Menschheit.

Die „Collezione Anatomica Paolo Gorini“

Andere Ergebnisse von Paolo Gorinis Forscherdrang kann man indes noch heute besichtigen. Die Stadt Lodi hat für seine anatomische Sammlung die Räumlichkeiten der früheren Apotheke des Ospedale Maggiore zur Verfügung gestellt. Dieses Krankenhaus war im 15. Jahrhundert vom Bischof gegründet worden. Zur Versorgung der Kranken hatte er Bernhardinermönche in die Stadt geholt, sodass das Krankenhaus zugleich ein Kloster war. Deshalb geht man zum Museum von Paolo Gorini durch einen wunderschönen Kreuzgang mit typischen Terrakottaverzierungen der Lombardei. Im ehemaligen Kapitelsaal der Mönche, dessen Decke mit manieristischen Malereien geschmückt ist, kann man in Vitrinen die anatomischen Präparate, aber auch komplett konservierte Leichname betrachten. Teilweise sind sogar die Namen der Verstorbenen noch bekannt.

Diese Sammlung ist auch für heutige Mediziner interessant, zeigen die Mumien doch Missbildungen und Erkrankungen, die heute kaum mehr vorkommen. Aber auch Soziologen und Historiker finden hier reichlich Material für ihre Studien, denn die mumifizierten Toten geben aufgrund ihrer Herkunft aus ärmeren Bevölkerungsschichten Auskunft über Ernährung, Hygiene und Krankheiten vor allem jener Menschen, die sonst von der Geschichtsschreibung eher außer Acht gelassen werden. Paolo Gorini hat ihnen ein Denkmal gesetzt, Erinnerungen aus versteinertem Fleisch. Für ihn selbst steht allerdings „nur“ ein Denkmal aus gewöhnlichem Stein auf der Piazza vor dem Museum.

Autorin: Monika Küble

Museo Paolo Gorini