Die heimliche Olympiasiegerin

20120810-221508.jpgWenn bei den Olympischen Sommerspielen in London an diesem Wochenende Frauen im Hochsprung um die Medaillen kämpfen, wird vielleicht auch Gretel Bergmann vor dem Fernseher sitzen. Erst kürzlich lief in der ARD der Film „Berlin 36“, in dem ihre Geschichte erzählt wurde. Sie war vor den Olympischen Spielen in Berlin die beste Hochspringerin der Welt und nicht nur Insider vermuteten damals, dass die Goldmedaille schon vergeben war.

Gretel Bergmann, geboren 1919, begann bereits als Zehnjährige mit der Leichtathletik und machte früh mit hervorragenden Ergebnissen auf sich aufmerksam. Doch Bergmann war Jüdin und wurde aus ihrem Ulmer Verein ausgeschlossen. Ihr Vater, ein Industrieller, brachte sie nach England. Dort wurde sie britische Meisterin im Hochsprung. Ihr großer Traum damals aber war, das erzählte sie Jahrzehnte später, bei den Olympischen Spielen 1936 starten zu dürfen: „Ich wollte zeigen, dass ein jüdisches Mädchen die Deutschen besiegen kann, vor 100 000 Menschen“.

Gretel Bergmann kehrte nach Deutschland zurück und wurde Mitglied der deutschen Kernmannschaft für die olympischen Spiele in Berlin. Den Nazis blieb nichts anderes übrig, denn die Amerikaner hatten einen Olympiaboykott angedroht für den Fall, dass keine jüdischen Sportler ins deutsche Team aufgenommen würden. Einen Boykott wollten die Nazis unter allen Umständen vermeiden, hatten sie doch vor, die Spiele für ihre Propagandazwecke zu missbrauchen.

Als aber die amerikanische Olympiamannschaft per Schiff schon auf dem Weg nach Deutschland war, warfen die Nazis Bergmann wegen angeblich mangelnder Leistungen aus dem Olympiakader und nominierten die damals ebenfalls erst 17-jährige Dora Ratjen für den Hochsprung. Den Amerikanern wurde bei ihrer Ankunft erklärt, Gretel Bergmann habe sich im Training verletzt und könne deshalb nicht teilnehmen. Aus Sicht der nationalsozialistischen Machthaber wäre es kaum zu ertragen gewesen, wenn Hitler einer deutschen Jüdin zum Olympiasieg hätte gratulieren müssen.

Die für Bergmann nominierte Dora Ratjen erreichte am Ende zur grenzenlosen Enttäuschung der Nazis nur den vierten Platz. Olympiasiegerin wurde die Ungarin Ibolya Csak – eine Jüdin. Zwei Jahre später gewann Dora Ratjen bei den Europameisterschaften in Wien mit der Weltrekordhöhe von 1,70 m die Goldmedaille. Ihr Name ist aber auch mit einem der größten Sportskandale der Neuzeit verbunden. Denn kurz nach ihrem Sieg in Wien kam heraus: Dora Ratjen war ein Mann.

Gretel Bergmann erinnerte sich 2009 in einem Interview mit dem Spiegel an die gemeinsame Trainingszeit mit Ratjen: „Ich habe nie einen Verdacht gehabt (….) in der Dusche haben wir uns alle gewundert, dass sie sich nie nackt zeigte (…) es gab eine Tür zu einem privaten Badezimmer, wir durften nicht hindurch gehen, nur Dora durfte“. Bis heute wird vermutet, dass die Nazis bewusst einen Mann in den Frauenhochsprung geschmuggelt hatten, um den Medaillengewinn einer deutschen Jüdin zu verhindern.

Nach ihrer Enttarnung verschwand Dora Ratjen aus der Öffentlichkeit und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Heinz Ratjen in Bremen im Restaurantbetrieb ihrer Familie. Bis zu seinem Tod im Jahre 2008 weigerte er sich hartnäckig, über sich und sein abenteuerliches Leben zu reden.

Gretel Bergmann wanderte 1937 in die USA aus und heiratete den Arzt Bruno Lambert. Nur knapp entkam Bergmanns Familie dem Holocaust. In ihrer neuen Heimat zeigte sie, was sportlich immer noch in ihr steckte. Sie wurde dreimal amerikanische Meisterin im Hochsprung und im Kugelstoßen.

Vom Schicksal Dora Ratjens erfuhr sie erst 1966: „Da habe ich beim Zahnarzt gesessen und in „Time“ die Geschichte vom Hochsprung-Betrug von 1936 gelesen. Ich musste kreischen und lachen, und alle in der Praxis hielten mich für irre“. Gretel Bergmann versuchte daraufhin, mit Heinz Ratjen Kontakt aufzunehmen. Sie schrieb einen Brief an ihn. Eine Antwort bekam sie nie.

Autor: Holger Reile