Er hatte ein fliegend`Herz

Als Charles Lindbergh im Oktober 1927 die erste Atlantiküberquerung mit einem Flugzeug gelang, bastelte Gustav Mesmer in einer oberschwäbischen Nervenheilanstalt an seinen Flugmodellen – Fahrräder, die er zum Fliegen bringen wollte. Rund 35 lange Jahre musste Mesmer hinter Anstaltsmauern verbringen. Etwas über einen, der auszog, das Fliegen zu lernen, und dem, liest man seine Geschichte, wohl auch gar nichts anderes übrig geblieben ist.

1903 wird Gustav Mesmer im oberschwäbischen Altshausen geboren. Jahrzehnte später schreibt Mesmer dazu in seiner unverwechselbaren Sprache: „Drei Sylvester, 16 Tage nach der Jahrhundert-Illumination und deren Salvenkrachen erfolgte mein Geburtstag. Jedenfalls war es Winter, die Dächer und Felder mit Schnee überkleidet, die häuslichen Wohnräume wohlerträglich erwärmt. Es war ja noch in der Zeit, als die Petroleumlampe an der Decke und auf dem Tische sich befand“.

Die Enttäuschung im Kloster

Mesmers Vater war Verwaltungsfachmann, seine Mutter kümmerte sich um die insgesamt 11 Kinder. Aufgewachsen ist Gustav Mesmer in einem streng katholischen Umfeld, die Familie ist seit Generationen in Oberschwaben zu Hause.

Gustav Mesmers Schulausbildung wird durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, da ist er gerade 11 Jahre alt. Er arbeitet auf Bauernhöfen als sogenannter „Verdingbub“. Die Kriegsjahre sind hart und die Familie kann die vielen Esser nur mit Mühe ernähren. Dann, bei der Arbeit im Kloster Untermarchtal, empfehlen ihm die Schwestern, in einen Orden einzutreten: „Sie gäbten doch so ein schönes Päterchen“, sollen sie zu ihm gesagt haben.

Gustav Mesmer befolgt diesen Rat und geht 1922 ins Kloster Beuron. Dort wird er zu Bruder Alexander und verbringt fast sechs Jahre hinter Klostermauern. Doch es gefällt ihm nicht, von einem klösterlichen Leben habe er ganz andere Vorstellungen gehabt,resümiert er rückblickend: „Da kann nur ein lebensunerfahrener hereinfallen wie ich“.

Enttäuscht und deprimiert kehrt Mesmer 1928 wieder nach Altshausen zurück. Seine Eltern waren darüber nicht glücklich, denn eine Klosterlaufbahn galt in jenen Zeiten noch als etwas Besonderes. Die Aufnahme in einem Kloster bedeutete damals wirtschaftliche Sicherheit und war mit gesellschaftlichem Prestige und sozialer Anerkennung verbunden. Zuhause beginnt Mesmer mit einer Schreinerlehre, von seinem Meister erhält er eine gute Beurteilung. Aufgefallen sei aber, so eine Bemerkung, „sein eigenes und stilles Wesen“.

Abgeschoben in die Psychiatrie

Kurz darauf ein tiefer Einschnitt in seinem noch jungen Leben. Wohl noch geprägt von den für ihn ernüchternden Erlebnissen während seiner Klosterzeit, stört Gustav Mesmer eines Sonntags in der evangelischen Kirche in Altshausen die gerade stattfindende Konfirmations- und Abendmahlsfeier. Er stürmt in die Kirche und erklärt lauthals, dass hier „nicht das Blut Christi“ ausgeteilt werde und sowieso „alles Schwindel“ sei. Mesmer wird von aufgebrachten Kirchenbesuchern aus dem Gotteshaus gezerrt und nach Hause gebracht. Ein Skandal ohnegleichen, so etwas hat man in Altshausen noch nicht erlebt.

Mesmers Familie ist entsetzt und fühlt sich dem Gespött der Dorbewohner ausgeliefert. Gustav soll nach diesem Vorfall immer schweigsamer geworden sein. Der „Kirchenstürmer“ wird zum Tagesgespräch im ansonsten ereignisarmen Gemeindealltag. War der Gustav nicht immer schon ein kauziger Sonderling gewesen? Einer, der während seine Altersgenossen im Gasthaus die Bierkrüge stemmten, lieber stundenlange Spaziergänge unternahm? Und: Im Kloster soll er sich ja auch schon seltsam aufgeführt haben. Man war sich schnell einig – der Gustav tut nicht gut, der Gustav muss weg. Knapp zwei Wochen nach seinem „geistigen Überschwang“, wie er seine Aktion einmal benannte, wird Mesmer in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Bad Schussenried eingeliefert. Die erste Diagnose ist schnell gestellt: Paranoide Schizophrenie.

In Schussenried merkt er bald, dass an eine schnelle Entlassung nicht zu denken ist. Nach einer längeren Zeit des Wartens und Bangens beginnt er zu arbeiten, anfangs als Buchbinder in der Anstaltsbibliothek. Am 10.Oktober 1932 taucht in seiner Krankenakte zum ersten Mal der Hinweis auf: „Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab“.

Angeblich hat er in einer Illustrierten einen Bericht über zwei Erfinder gelesen, die mit einem Fahrrad fliegen wollten. Diese Idee begeistert Mesmer, der Flug durch Muskelkraft treibt seine Fantasie in schwindelnde Höhen. Er konstruiert und bastelt an Flugmodellen, in der Anstalt wird er verlacht: „Erfinder-Allotria“, steht in der Krankenakte.

Knapp überlebt

Den Naziterror – zehntausende werden in den psychiatrischen Anstalten von den braunen Machthabern umgebracht – überlebt Gustav Mesmer mit viel Glück. Sein Name taucht auf keiner der Transportlisten auf, die in den sicheren Tod führten. Vermutlich deswegen, weil er ein guter Arbeiter war und gebraucht wurde. Während dieser Zeit drängt er auch mehrmals vehement auf seine Entlassung, bleibt aber ungehört. Vor allem seine Mutter hat ihm die Aktion in der Kirche nie verziehen und verhindert, dass ihr Sohn nach Hause zurück kehrt.

1949 wird Gustav Mesmer auf eigenen Wunsch in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Weißenau verlegt, nicht weit weg von seinem Heimatdorf Altshausen. Den Anstaltswechsel beschreibt er fast schon poetisch-süffisant: „Im Sattsein von Zuständen sowie der umgebenden Landschaft, entwickelte sich in mir der Wunsch, den alt- und allzuangewöhnten Aufenthalt zu Schussenried zu wechseln, mit Verlegung nach Weißenau“.

Hier verbringt Mesmer die folgenden 15 Jahre. Er erlernt die Korbflechterei und wird als „geschickter und fleissiger Arbeiter“ gelobt. Manchmal darf er an Wochenenden sogar nach Altshausen und seinen Briefen merkt man an, dass er davon träumt, endlich ein normales Leben führen zu können. Er vermisst schmerzlich seine Heimat, sehnt sich nach einer bürgerlichen Existenz. An die Tochter eines Pflegers schickt er rührende Zeilen: „Ob Sie, wertes Fräulein, Lust und Liebe, meine Gattin werden zu wollen?“ Was er nicht weiß: die meisten seiner Briefe werden von der Anstaltsleitung zurück behalten und man macht sich lustig über den Träumer. Die Ärzte nennen Mesmers Wünsche und Hoffnungen „Beziehungsideen“.

Ich weiß sonst nichts als Suppenschwab`“

Doch unverdrossen befasst sich Gustav Mesmer weiter mit seinem Traum vom Fliegen, schreibt aber zunehmend Texte und Abhandlungen, die sich meist mit dem Weltall oder religiösen Fragen beschäftigen. In der Weißenau wird ihm für seine Aktivitäten ein Raum zugewiesen, manchmal helfen ihm sogar Angestellte der Anstalt beim Zusammenbau seiner Flugfahrräder. Mesmer zeichnet immer neue Flugmodelle und verfasst Lehrschriften über Fluggetriebe oder die beste Flugtechnik. Papier ist rar zu jener Zeit und so verwendet er die Rückseiten von alten Rechnungsformularen, die er zu Heften zusammen klammert. Die Titelseiten gestaltet er selbst mit Farbzeichnungen, die Texte sind mit Schreibmaschine geschrieben.

In seiner Akte taucht 1951 folgender Eintrag auf: „Bei den kürzlichen Baumtestuntersuchungen hat Mesmer ein sehr interessantes Bild gezeichnet. Auffallend zeichnerische Begabung“. Ende der fünfziger Jahre beginnt er auch damit, Familienmitglieder zu fotografieren und zu porträtieren. Sein Fotoapparat wird für ihn ein wichtiges Hilfsmittel zur Dokumentation seiner vielfältigen Aktivitäten.

Zudem macht er in vielen Briefen auf seine Lage aufmerksam, sendet permanent Signale in die Welt hinaus. Er schreibt an Rundfunkanstalten und erkundigt sich nach dem Ankauf von Sendezeiten. Er nimmt Kontakt auf zum englischen Sender BBC und macht sich in einem Brief an den Rundfunkdirektor Gedanken über das ferne England: „Ich habe noch nie ein Engländer gesehen. Weiß nicht, ob England existiert, wo es liegt. Gesehen im Karten-Bildbuch, da liegt es immer oben links, Kante der Seite. Ob ich mich mit dem Buch herumdrehe, gegen Süden, Osten, Westen und Norden, liegt es immer da, nach jeder Polrichtung. Ich habe noch nie über den Ärmelkanal hinüber gesehen, darum bin ich wohl ein Schwabe. (….) Von wem

stammt der Engländer ab? Das englische Paradies liegt an der Themse, im Lande des Nebels. Da hat Gott und Adam sich einander nicht gesehen (….) In England ist das Christkind im Nebel auf die Welt gekommen und im Nebel wollen sie es auferstehen da keiner ein Ersatz für den Nebel erfunden hat. Wollen, dürfen aber nicht böse sein, ich weiss sonst nichts als Suppenschwab und bringe dies als Unterhaltungsmaßstab“.

Der Umzug nach Buttenhausen

1962 verfasst Mesmer seine Autobiographie mit dem Titel: „Biographi unbekannt – Du bist mir im Verständnis so im Geist begegnet“. Der damals 59-jährige blickt auf 14 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten auf sein Leben zurück, das er größtenteils hinter Anstaltsmauern verbringen musste.

Zwei Jahre später wird Gustav Mesmer in eine betreuende Einrichtung nach Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb verlegt, weil dort „gerade ein Platz frei war“, heißt es in seiner Krankenakte. „Seine Wahnerlebnisse“, so der letzte, kalte Eintrag, „kommen lediglich in Briefen oder sonstigen Schreiben zum Vorschein. Sie scheinen an Bedeutung für ihn verloren zu haben“.

In seiner neuen Umgebung wirkt Mesmer anfangs ängstlich und verschlossen. Aber dann beginnt er schnell wieder mit der Korbflechterei und pflanzt seine Weiden am Ufer der nahe gelegenen Lauter. Einmal hat er sogar einen Lehrling, den er aber bald wieder fort schickt. „Der hat ja schon beim Nichtstun geschwitzt“.

Die Heimleitung in Buttenhausen unterstützt den Tüftler und Bastler und weist ihm eine kleine Werkstatt zu. Hier entwickelt Mesmer nicht nur Flugfahrräder, sondern zunehmend auch Schwingenfluggeräte, die durch Muskelkraft der Arme auf und ab bewegt werden können. Dazu konstruiert er allerlei Zubehör. Vor allem die Unfallvermeidung beschäftigt ihn, er baut Sturzhauben und Brustpanzer. Sein Werkzeug stellt er selber her, Nägel und Schrauben zieht er aus Abfallholz, weggeworfene Plastiksäcke und Planen benutzt er als Tragflächen für seine Fluggeräte. In einem nahegelegenem Wald baut er sich eine Flugschanze, darunter legt er alte Matratzen und Strohballen: „Wenn`s schief goht`“, sagt er schmunzelnd.

War es in China schön?“

In Buttenhausen baut Mesmer rund 30 verschiedene Einzelschwingen und Flügelpaare. Alles ist durchdacht und ausgeklügelt. Er konstruiert ein kompatibles System, das es ihm ermöglicht, alle Flügel an jedes seiner drei Fahrräder und auch an sein Moped zu montieren. In der Bevölkerung nennt man ihn bald liebevoll den „Ikarus vom Lautertal“. Er gehört dazu, wird zum ersten Mal in seinem Leben vorbehaltlos akzeptiert. Zunehmend wird Mesmer selbstbewusster, will auf sich aufmerksam machen. Er schreibt Briefe an Firmen, an Fernseh- und Rundfunkanstalten, an Ministerien und Politiker, unter anderem an den damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger.

„Sehr geehrter Herr Filbinger – in privater Sache, Sie sind doch auch großer Sportsmann, darf ich Sie ansprechen und anregen, mit meinen Flugobjekten. Ob Herr Ministerpräsident Interessse und Lust hätten, einmal zu fliegen, oder fahren mit meinem konstruierten Flugfahrrad. Ich fahre gewöhnlich bei gutem Wetter Samstags und Sonntag. Wenn es Ihnen außerordentlich interessiert, dürfte ich eine Zusagenachricht erhalten (…) Wo ich die Ideen herhabe? Von Schriften und Büchern habe solche, aber wenig nehme ich davon Gebrauch. Meine Ideen erhalte ich vom Nachtgeist, der mir selbe einfleucht. War es in China schön? Mit der Gesundheit steht es ordentlich? Mit hoheitlichem Gruß – Flugforscher Gust.Mesmer“. Eine Antwort auf diesen wunderbaren Brief hat Mesmer nie erhalten.

Mesmers späte Rehabilitierung

Sein Erfindungsgeist kennt keine Grenzen. Er baut seine mittlerweile fast schon legendären „Schwätzmaschinen“. Damit, so Mesmer, könnten sich Sprachbehinderte besser mitteilen. Dann verfertigt er fantasievolle Musikinstrumente wie „Rechteck-Mandoline“ oder „Trompetengitarre“. Aus seiner Buttenhausener Zeit sind viele Skizzen und Zeichnungen erhalten geblieben. Hier hat er ausreichend Papier, Stifte und Farben. Er malt mehrere Bildserien von überwiegend naiv geprägter und faszinierender Schönheit. Langsam wird die Presse auf den schwäbischen Ikarus aufmerksam, erste Artikel erscheinen. Freunde und Bewunderer organisieren Ausstellungen mit den Werken des mittlerweile anerkannten Erfinders und Künstlers.

Ausstellungen in Münsingen, Mannheim, Recklinghausen, Ulm, Lausanne und Wien werden überall begeistert aufgenommen. Aber den Höhepunkt seiner späten Karriere erlebt Gustav Mesmer 1992. Dort stand eines seiner Flugräder auf der Weltausstellung im spanischen Sevilla als Beitrag der Bundesrepublik zum Thema: „Der Traum vom Fliegen“. Mesmer wurde zur Ausstellungseröffnung eingeladen, ein Platz im Flieger war schon für ihn gebucht. Als man ihm aber erklärte, dass Spanien nicht gerade um die Ecke liege und er ein paar Tage außer Haus sei, sagte er ab: „Da bleib i` liabr` dahoim“.

Doch der für ihn persönlich wichtigste Tag kam ein Jahr später. Mitte 1993 kehrte Gustav Mesmer endgültig in seine Heimatgemeinde Altshausen zurück, 64 Jahre nach dem Kirchenvorfall und der Einweisung in die Psychiatrie. In einer großen Ausstellung, eröffnet vom Herzog von Württemberg, wurde gezeigt, was der „Ikarus vom Lautertal“ in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat. Still sass er da und aus seinem Gesicht, in das das Leben so viele Falten gemeißelt hatte, strahlten seine immer wachen Augen. Und was ihn dabei besonders freute: Auf der Ausstellungs-Einladung stand: „Gustav Mesmer – Flugradbauer von Altshausen.“ Weihnachten 1994 ist Gustav Mesmer in Buttenhausen gestorben.

Autor: Holger Reile

Bilder: Gustav Mesmer Stiftung

Über das Leben Gustav Mesmers gibt es eine CD: „Gustav Mesmer: Ikarus vom Lautertal genannt“. Mit Musik von Alexander und Georg Köberlein. Preis inkl.Versandkosten: 15 Euro. Zu bestellen über: lagozwo@aol.com