„Starkbier“, nicht „Starkregen“ im Duden der 90er Jahre (I)
So viel Schönfärberei war selten, meint Winfried Wolf in diesem bemerkenswerten Text, den wir ab heute in drei Teilen veröffentlichen. Der bekannte Verkehrsexperte und Autor geht darin den Ursachen und möglichen Konsequenzen der aktuellen Hochwasserkatastrophe auf den Grund. Er stößt dabei auf: Das menschengemachte Hochwasser, die Heuchelei der Herren Laschet, Steinmeier & Söder und die unzureichende Klimapolitik der Grünen.
Vier Tage – Donnerstag bis Sonntag: Dutzende Stunden mit Berichterstattung über das Hochwasser und seine Folgen – fünf Tote, fünfzig Tote, hundertfünfzig Tote … Sondersendungen am laufenden Band. Interviews mit Betroffenen. Äußerungen von Betroffenheit. Immer wieder die gleichen Bemühungen, durch spezifische Wortschöpfungen die Exklusivität der Ereignisse hervorzuheben: Die Rede ist von einem „Jahrhunderthochwasser“, von einer „Extremwetterlage“. Am stärksten vertreten der Begriff „Starkregen“. Im Duden der 1990er Jahre gibt es zwar das Wort „Starkbier“, nicht jedoch den Begriff „Starkregen“. Dabei kam es natürlich auch in den 1990er Jahren und davor zu Hochwasser infolge starker Regenfälle; die deutsche Sprache erfasste auch die Realität. Doch zur Flankierung der in diesem Beitrag beschriebenen Heuchelei sind Begriffe wie die Genannten hilfreich.[1]
Und dann gibt es in der aktuellen Berichterstattung hundertfach Formulierungen der Art: Mit so etwas habe man „wirklich nicht rechnen“ können. Was besonders deutlich mit dem Begriff „Jahrhundertkatastrophe“ unterstrichen wird. Im Übrigen, so Söder, Laschet, Scholz und Steinmeier, werde man jetzt forciert Klimaschutzpolitik machen. Der bayerische Ministerpräsident fordert, „jetzt einen vorausschauenden Klimaschutz zu betreiben.“ Womit er indirekt einräumt, dass Klimaschutz im Deutschland bestenfalls Nachtrabpolitik war. Besonders offensiv argumentiert hier NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der „mehr Tempo beim Klimaschutz“ fordert und unterstreicht: „NRW ist das Land, das hier am meisten tut.“ Kein anderes Land habe ein solch vorbildliches „Klimaanpassungsgesetz“ wie dieses Bundesland.[2]
Einiges von dem in diesen Tagen Geäußerten ist schlicht unwahr. Das meiste ist billiges Wortgeklingel. Und alle Erklärungen seitens der führenden Politiker von CDU, CSU, FDP und SPD sind durchdrungen von einer unsäglichen Heuchelei.
Wirklich „nicht vorhersehbar“?
[the_ad id=“78703″]
Beginnen wir mit den Behauptungen, das Hochwasser sei „nicht vorhersehbar“ gewesen. Was ja insofern wichtig ist, als mit dieser Aussage die enorm hohe Zahl von Toten und Verletzten als nicht vermeidbar dargestellt wird. Tatsächlich sagten Meteorologen die massiven Regenfälle seit Tagen, spätestens seit Dienstag, dem 13. Juli, voraus. Und dies auch weitgehend bezogen auf die Regionen, in denen es dann zu diesen starken Regenfällen kam. Die Menge an Niederschlag war zwar enorm – doch sie war nicht völlig außergewöhnlich; es gab in jüngerer Zeit bereits massivere Regengüsse in anderen Regionen Deutschlands.
Letztlich lassen sich Wetterlagen wie diejenige der letzten Woche recht gut berechnen. So hatte ein Wettervorhersagemodell die Unwetterkatastrophe in der Nacht zum vergangenen Donnerstag seit Tagen angedeutet, wie Julian Quinting, Experte für Meteorologie und Klimaforschung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), bestätigte. Entsprechend, so ein Zeitungsbericht, „gab es frühzeitig Warnungen vor extremem Niederschlag und Hochwasser.“[3] Vergleichbar äußerte sich auch der NRW-Ministerpräsident Laschet am ersten Tag der Hochwasserkatastrophe, als es erst wenige Todesopfer gab. Am Donnerstag, dem 15. Juli, bezog sich Armin Laschet ausdrücklich auf die „guten Prognosen des Deutschen Wetterdienstes“, der, zu einem Zeitpunkt „als noch die Sonne schien“, die Regengüsse vorhergesagt habe – weswegen man zumindest in Hagen, wo Laschet dies vor Ort äußerte, „gut vorbereitet“ gewesen sei.[4]
[the_ad id=“79559″]
Das „Jahrhunderthochwasser“ war auch auf längere Sicht vorhersehbar gewesen. Vor genau einem Jahr legten österreichische Wissenschaftler eine Studie über „die europäischen Flusshochwasser der letzten 500 Jahre“ vor. Danach, so eine damals von Wolfgang Pomrehn auf Telepolis veröffentlicht Zusammenfassung der Studie, „gehörten die letzten Jahrzehnte zu den schlimmsten“. Wobei sich die jüngste Periode mit massiven Hochwässern „von den vorhergehenden insofern unterscheiden, als diese in den Phasen kälteren Klimas auftraten“, wo oft Schmelzwasser eine Rolle spielten. Weiter in der Zusammenfassung: „Die jüngste Häufung von Überschwemmungen an den Flüssen ereignete sich hingegen in einem deutlich wärmeren Klima. […] Die Hochwasser treten inzwischen häufiger im Sommer auf.“[5]
Hochwassergefahren waren bekannt
So gut wie alle Bundesländer haben in jüngerer Zeit Studien erarbeitet, in denen Hochwassergefahren im jeweiligen Bundeland dargestellt sind. Diese beziehen sich zwar meist primär auf die großen Ströme und Flüsse wie Donau, Rhein, Elbe, Weser und Oder. In einer offiziellen Zusammenstellung dieser Hochwassergefahren in Nordrhein-Westfalen, herausgegeben vom Landesumweltministerium, wird jedoch auch ausdrücklich auf die Gefahren bei „kleineren Flüssen und Bächen“ hingewiesen – und dies wie folgt: „Heftige Sommergewitter können lokal auch kleinere Flüsse und Bäche sturzflutartig anschwellen lassen und so erhebliche Überschwemmungen verursachen. Deshalb muss auch an den kleineren Gewässern Hochwasserschutz betrieben werden.“ Betont wird, dass auf Basis dieser grundlegenden Überlegungen „Überschwemmungsgebiete“ ausgewiesen würden, dass auf diese Weise die Bevölkerung vor Ort gewarnt sei – oder jeweils zu warnen sei. Wobei en passant auch der Begriff „Jahrhundertkatastrophe“ abgeräumt wird. In dem Dokument der NRW-Landesregierung heißt es dazu: „Die Festlegung von Überschwemmungsgebieten dient dazu, die Betroffenen zu informieren, wohin das Wasser bei sehr hohen – den sogenannten hundertjährlichen – Hochwasserabflüssen gelangen kann. […] Nur wenn die Menschen, die von einem derartigen Hochwasser betroffen wären, den Gefahrenbereich genau kennen, können sie sich darauf einstellen, vorsorgend handeln und sich im Katastrophenfall besser schützen.“[6]
Wie exakt die Hochwassergefahren seitens einzelner Landesregierungen bereits berechnet wurden, zeigt Baden-Württemberg. In einem aktuellen Bericht der Stuttgarter Zeitung heißt es „In Baden-Württemberg gibt es Flüsse, Bäche und andere Gewässer von zusammen 12 000 Kilometer Länge, die Hochwasserrisiken bergen. 967 der insgesamt 1101 Städte und Gemeinden im Land sind deswegen potenziell hochwassergefährdet. […] Landesweit beziffert das Umweltministerium das Schadensrisiko im Falle eines Extremhochwassers auf 30 Milliarden Euro. Das Risiko wächst mit der klimawandelbedingten Wahrscheinlichkeit von Starkregen.“[7] Danach sind 88 Prozent aller „Städte und Gemeinden“ im Südwest-Bundesland (967 von 1101) hochwassergefährdet.
Bilanz: Das Hochwasser war absehbar. Es gab entsprechende Warnungen. Offensichtlich wurden die Warnungen nicht ausreichend ernst genommen. Viel spricht dafür, dass entscheidende Behörden insofern versagt haben, dass an einigen Orten nicht rechtzeitig evakuiert wurde.
Text: Winfried Wolf (Bilder: LucyKaef, Hans Braxmeier auf Pixabay)
Anmerkungen:
[1] Siehe die entsprechende Leerstelle im Duden, Mannheim, 1996. Das sechsbändige Wahrig Deutsches Wörterbuch von 1983 geht von „Starkleibigkeit“ umstandslos zu „Starkstrom“ über. Der Grosse Brockhaus von dem Jahr 1957 kennt ebenfalls keinen Starkregen.
[2] Söder nach Stern https://www.stern.de/politik/deutschland/hochwasser-in-deutschland-soeder-sieht-bedarf-fuer-vorausschauenden-klimaschutz-30617502.html. Laschet auf Videoclip: Die Welt vom 15. Juli 2021. https://www.welt.de/politik/deutschland/article232511505/Hochwasser-in-NRW-Armin-Laschet-fordert-mehr-Tempo-beim-Klimaschutz.htmlHochwasser.
[3] Regine Warth und Werner Ludwig, Starkregen und Hitzewellen nehmen weiter zu, in: Stuttgarter Zeitung vom 17. Juli 2021.
[4] Armin Laschet wie [2]
[5] Wolfgang Pomrehn, Die letzten Jahrzehnte gehörten zu den schlimmsten, Telepolis, 2. Juli 2020. https://www.heise.de/tp/news/Hochwasser-Die-letzten-Jahrzehnte-gehoerten-zu-den-schlimmsten-4850390.html?view=print
[6] Nach: Website des Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen, aufgerufen am 18. Juli 2021 (der zitierte Text wurde vor dem aktuellen Hochwasser auf der Website eingestellt, wohl im Jahr 2019 (ein Datum ist nicht angegeben). Hervorhebung im Text vom Autor. https://www.umwelt.nrw.de/umwelt/umwelt-und-wasser/gewaesser/hochwasser
[7] Stuttgarter Zeitung vom 17. Juli 2021.