Viele Vorbilder, zu wenige Nachahmer (1)

Wo gibt es Vorbilder? Die heute bereits zeigen, wie wir leben, arbeiten, flanieren, produzieren, ohne die Natur (und uns) zu ruinieren? In vielen Städten ist dieser Wohlstands-Fortschritt schon zu erleben. Leider meist im Ausland, nicht bei uns. Ein Beispiel von vielen: Birmingham, zweitgrößte Stadt Großbritanniens, setzt derzeit einen radikalen Umbau der Mobilität um. Das ÖPNV-Netz soll verdreifacht, der Autoverkehr in der Innenstadt drastisch reduziert werden.

Auch im belgischen Gent soll bis 2030 der Fahrradverkehr von 22 auf 35 Prozent erhöht werden. Das wurde 2017 beschlossen, schon 2019 war dieses Ziel erreicht. In Kopenhagen (2018: Anteil Fahrradverkehr 49 Prozent), Oslo und Wien liegen die Anteile ebenfalls seit wenigen Jahren bereits recht hoch. „Fast die Hälfte aller Kopenhagener fährt mit dem Rad zur Schule oder zur Arbeit; die Zahl der schwer verletzten Radler hat sich seit 2005 halbiert – und 80 Prozent sagen nun, dass sie sich im Verkehr sicher fühlen“, schreiben die Stadtplaner Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski in ihrem Buch „Die Zukunft der Stadt: Wie wir leben wollen“.

Autos raus aus den Städten

Auch Oslo begann bereits 2015, Autos aus der Stadt zu drängen: wie überall mit der Folge mehr Platz, mehr Sicherheit, bessere Luft. Das Magazin „Stern“ zitierte vor zwei Jahren Vizebürgermeisterin Hanna Marcussen: „Für uns sollte die Straße der Ort sein, an dem man Menschen trifft, in Außenrestaurants isst, an dem Kinder spielen und Kunstwerke ausgestellt werden.“ Einer der schönsten Plätze der Stadt liege vor dem Rathaus, so die Vize-Bürgermeisterin. Der sei vor kurzem noch eine Kreuzung mit Parkplatz gewesen. „Als wir das Projekt vor etwa einem Jahr abgeschlossen haben, dachten die Leute, es sei seltsam – aber jetzt finden sie es seltsam, dass wir Autos überhaupt erlaubt haben, dort durchzufahren und zu halten.“

Es gibt eine Verkehrswende in New York: seit Monaten werden Autospuren verschmälert, ein Netz von Radwegen angelegt, die Zahl der Expressbuslinien erhöht, Bussen eigene Spuren zugebilligt.

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Wien ist da schon lange viel weiter: Systematisch wurde der Autoverkehr in der Innenstadt verringert, überall gilt Tempo 30, kostenloses Parken ist komplett gestrichen, die Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr kostet 365 Euro; im kleinen Frankfurt kostet sie beinahe 900 Euro, also deutlich mehr als das Doppelte. Und Österreich ist im Moment dabei, diese Art des Jahrestickets auf das ganze Land zu übertragen.

Im Sommer 2020 wurde mitten in Wien auf einer großen Kreuzung ein Schwimmbad installiert — einfach um mal kreativ zu zeigen, dass der wertvolle Platz in den Innenstädten auch für Sinnvolles, Klima- und Menschenverträgliches verwendet werden kann.

Ob London, Oslo, Kopenhagen, Wien, Birmingham, New York, Barcelona oder …

Auch London traut sich was: City-Maut, Radschnellwege für Pendler und Pendlerinnen, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, mehr Fußwege, mehr Bäume.

Und in Barcelona bleiben nur noch die Ausfallstraßen frei für Fahrzeuge mit Verbrennungsantrieb. Fahrradwege und Busangebote werden stark ausgebaut. Ein Zwischenziel: Zwei Drittel der Einwohner der katalanischen Metropole sollen in Stadtteilen leben, in denen der Autoverkehr begrenzt ist. Ein Kurs, über den (selbstverständlich?) hart gestritten wird.

Und dann noch Paris: Seit inzwischen sieben Jahren wird unter der Bürgermeisterin Anne Hidalgo, Sozialistin, eine neue Mobilität installiert, in ihrer Radikalität bei uns bisher undenkbar: viel mehr Grün, Rückbau von Autostraßen, etwa 300 Kilometer neue Radwege. Ihr Ziel: Sie will jede Straße in Paris fahrradtauglich machen. Anne Hidalgo will „die Stadt vom Auto befreien“; übrigens auch von anonymen rücksichtslosen Investoren und Spekulanten. Sie wurde 2014 erstmals in dieses Amt gewählt und vor einem Jahr, 2020, gegen harte politische Konkurrenz mit knapp 50 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Ihr bisher letzter Coup: Die Ringautobahn rund um Paris soll zum Stadtboulevard umgebaut werden. Noch eine Kleinigkeit am Rande: Wie die Urban Farming-Aktivistin Laura Setzer berichtet, gibt es in Paris bereits auf 40.000 Quadratmetern Flachdächern einen Gemüsegarten; in Frankfurt, dort lebt sie, keinen einzigen.

Ein Hinweis: Das protestantische Magazin „chrismon“ hat sich in einer seiner letzten Ausgaben intensiv mit Städten und Gemeinden beschäftigt: wie gehen Verkehrswende und ökologischer Umbau konkret? Sehr lesenswert, den Artikel finden Sie hier.

Kein Zweifel: Überall löst der neue Kurs Streit aus. Die Niederlande gelten heute als Fahrradparadies und sind das auch. Dieser Status Quo wurde politisch hart erarbeitet. Die Wende kam nach und nach in den 1970er Jahren. Erst gab es Massenproteste gegen den ausufernden Autoverkehr, der Menschen gefährdete, viel Fläche beanspruchte, die Luft vermieste. Der Durchbruch kam aber erst mit dem damaligen Ölpreisschock: Überall wurden breite Radwege, getrennt vom Autoverkehr, gebaut. Seither wird geradelt.

Warum geht es dort voran, hier nicht?

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Warum geht es an einer Stelle voran, an anderen nicht? Gibt es Antworten darauf? Etwa Untersuchungen? Wichtig wäre es schon zu wissen: Warum sind Wien, Oslo, Paris … so viel weiter? Was sind die Ursachen? Was können die, die hier verändern wollen, davon lernen? Ist es die Tradition in diesen Städten und Regionen? Sind es einzelne, besonders weitsichtige, mutige Männer und Frauen wie beispielsweise Anne Hidalgo? Was gibt den Ausschlag: einzelne aktive Menschen, die andere überzeugen, die jeweilige Tradition, Zufälle, die jeweiligen Machtverhältnisse?

In Deutschland ist vieles ganz anders. Bestenfalls gibt es kleine Vorbilder: Städtchen wie Münster, Tübingen und Freiburg. Das ist alles. Oder gibt es noch weitere Vorbilder, die nur nicht bekannt genug sind?

Was bekannt ist: Jedem, der verändern will, werden auch bei Kleinigkeiten gerne Asphalt und Beton zwischen die Beine geworfen. Beispiel: Will eine Stadt irgendwo Tempo 30 einführen, beispielsweise vor einem Altenheim oder einer Schule, dann kommt dies einem Gewalt-, zumindest einem Kraftakt gleich. Die neue Regel muss beantragt, ausführlich begründet und in jedem Fall genehmigt werden, vom Bundesverkehrsministerium, und das genehmigt natürlich nur in Ausnahmefällen. „Dabei wäre Tempo 30 ein riesiger Dienst für die Verkehrssicherheit“, wird Detlev Lipphard, Deutscher Verkehrssicherheitsrat, in Medien zitiert. Und wie ist das in Spanien? Seit Mai diesen Jahres ist dort in allen Städten und Gemeinden generell Tempo 30 vorgeschrieben; nur auf mehrspurigen Straßen darf noch 50 gefahren werden, auf schmalen sogar nur 20 km/h. Der VCD (Verkehrsclub Deutschland) sagt dazu: „Auch hierzulande muss 30 das neue 50 werden.“ In Deutschland gibt es inzwischen sieben Städte, die gemeinsam die entsprechende Erlaubnis beim Bund beantragt haben. Andy Scheuer, CSU, wird das schon stoppen.

In diesem Text wird mit bestem Wissen und Gewissen durchgehend die weibliche Form verwendet. Damit sollen jedoch alle Menschen angesprochen und keiner ausgeschlossen werden.

Text: Wolfgang Storz (Straße in Birmingham (c) Bild von khamkhor auf Pixabay)
Dieser Beitrag erschien zuerst auf: www.bruchstuecke.de