Wachstum und Klima: An Wissen mangelt es nicht
Um was geht es bei den Dürre- und Hitzemonaten 2018, 2019, den Wassermassen von heute? Um besseren Katastrophenschutz, um die Rückkehr in die 1950er Jahre mit Sirenen? Nein, es geht um das, was die Politik mit keinem Satz konkret zu erwähnen wagt: Nach welch tiefen Einschnitten in den Alltag diese bis jetzt kleinen Katastrophen schreien.
Ein Haushalt, zwei, drei Menschen, mit diesem Lebensstil: täglich Fleisch, ein, zwei, drei Autos im Besitz, pro Jahr zwei bis vier Urlaube via Billigflieger, mehrfach im Jahr neue Kleider, Möbel, Laptops, Iphones kaufen und so weiter — dieser Haushalt muss diesem Lebensstil entsagen oder das Vielfache dafür zahlen. All diese oft nutzlosen, ressourcenverschwenderischen Produkte und deren Produktionsverfahren müssen sehr viel teurer werden. Ein um läppische 16 Cent höherer Benzin-Preis, der so viele aufregt, ist nicht einmal die Rede wert; es geht um viel mehr. Um Maßnahmen, die nun schnell kommen und drastisch sein müssen. Warum? Wegen fahrlässig vertaner Jahrzehnte voller vertaner Chancen, weggeschobener Alternativen, bombastischer Erklärungen. Wegen vordergründiger Industrie- und Konsuminteressen wurde so viel wertvolle Zeit verschwendet. Dabei hat es nie an Wissen gemangelt.
Im Juni 1992 sollte die Weltpolitik bereits umgestellt werden: mehr nachhaltige Entwicklung, Schutz der Arten und Wälder, mehr Gerechtigkeit. Die Vereinten Nationen hatten in Rio de Janeiro einen zweiwöchigen Umweltgipfel ausgerichtet. Alle kamen: die damaligen Staatschefs George Bush (USA), Helmut Kohl (Deutschland), John Major (Großbritannien), Fidel Castro (Kuba), die Regierenden aus Japan, Indonesien, Malaysia, der indische Staatschef Rao, Vertreter der G77-Gruppe (einer Vereinigung wichtiger Entwicklungsländer), etwa 8.000 NGOs aus 165 Ländern. Einer der Kernkonflikte: Wie viele Milliarden zahlen die wohlhabenden Industrieländer an den wirtschaftlich armen Süden, damit der seine Natur schützen kann?
In Rio wurde eine anspruchsvolle Agenda 21 verabschiedet; ein Leitfaden für die Umwelt- und Entwicklungspolitik der nächsten 30, 40 Jahre sollte er sein. Damals wurde offiziell der Begriff der Nachhaltigkeit in den Sprachschatz der Weltpolitik gehievt. Und der unauflösliche Zusammenhang von Umwelt und Entwicklung etabliert. Diese Themen waren mit dieser Konferenz auf dem Tisch der Welt.
Was hat sich seither geändert?
Die Ausgangslage damals, grob skizziert: Im Süden der Welt plündern viele Menschen die Natur, weil sie arm sind. Im Norden ruinieren die Menschen die Natur mit ihrem Lebensstil des Wohlhabenden und Verschwenderischen, in nennenswerten Teilen erwirtschaftet auf Kosten des Südens. Bereits 1992 gehörte es zum allgemeinen Wissen: Etwa 1,2 Milliarden Menschen leben in ökologisch so gefährdeten Gebieten, dass sie als potentielle Klima-Flüchtlinge gelten. Kai Whittacker, seit 2013 CDU-Bundestagsabgeordneter und Wirtschaftswissenschaftler, macht heute als einer der sehr wenigen Politiker auf diese Zusammenhänge aufmerksam: „Naturkatastrophen und Ernteausfälle als Auslöser von Unruhen — heute Realität, morgen Fluchtursache. Spätestens dann, wenn die Migrationsströme Kurs auf Europa nehmen, lernen auch wir den Klimawandel als soziale Herausforderung kennen“; bei uns ist das bisher kein großes Thema. Und bereits 1992 waren sich Forscher sicher: Für Mitteleuropa zeigen alle Daten, Dürrerisiken werden zunehmen. Kommt uns das seit 2018 bekannt vor?
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Die eben geschilderte Ausgangslage von 1992 hat sich bis heute erheblich verschärft. Ein System hält Stress lange aus, auch ohne sichtbare Folgen. Irgendwann wird es zu viel. Es kippt: ins Unberechenbare, eventuell in eine Richtung, die unumkehrbar und auch von reichen starken Staaten mit all ihren technischen und organisatorischen Instrumenten nicht mehr kontrollierbar ist. So werden die vielen romantischen Flüsschen im bisher weitgehend katastrophenfreien Deutschland zum Symbol dieser neuen Zeit: weil sie zu unbeherrschbaren Wassermassen werden können. Und vermutlich haben wir noch Glück. Was wäre, wenn nicht Wassermassen kämen, sondern eine Hitzeperiode mit 40, 50 Grad wie in den USA und Kanada, Griechenland und Sizilien? Gegen Überschwemmungen können Staat und ehrenamtliche HelferInnen noch irgendetwas tun. Aber was tun sie gegen zwei Wochen mit 50 Grad?
Wer durch frühere Zeiten stöbert, der entdeckt nicht nur halbgelungene Welt-Kongresse wie den in Rio. Der stößt auch auf Willy Brandt, der auf einem SPD-Parteitag als Kanzlerkandidat das Regierungsprogramm vorträgt. Wir befinden uns im April 1961. In dem Programm steht auch: „Reine Luft, reines Wasser und weniger Lärm dürfen keine papierenen Forderungen bleiben. … Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Erhard Eppler blieb in den Jahren später an diesem Thema eisern dran. Damals wurde Brandt dafür lächerlich gemacht, heute — genügend sauberes Wasser ist bei uns bereits Politikum, beispielsweise zwischen Frankfurt und seiner Umgebung, zwischen Edersee, Nordhessen, und Oberweser — kann dies nur noch als Weitsicht gelten.
Das Leben: eine Prozedur des Bestellens?
Wer sich umschaut, der könnte auch auf Ivan Illich, Philosoph und Theologe, stoßen. Er übte seit den 1970er Jahren im Grundsatz Kritik an Produktion, Konsum und Technik, aus Sicht von Gesellschaft und Politik. „Die Gesellschaft ist ihrem Untergang geweiht, wenn das Wachstum der Massenproduktion dazu führt, dass die Umwelt ganz und gar unwirtlich wird …“, so Illich in seinem Buch „Selbstbegrenzung“, das 1975 erschien. Ironisch fügte er an, heute würden die Gesellschaften fortschrittlich genannt, „in denen das Leben zu einer Prozedur des Bestellens aus einem alles umfassenden Einkaufskatalog geworden ist“. Dabei seien „destruktive Konsumenten … in der Mehrheit“. Illich konnte damals Amazon, den in Digitaltechnik geronnenen Konsumwahn, noch gar nicht kennen.
Natürlich steht in den Regalen des Vergangenen auch der Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“. Er wurde 1972 publiziert. Er enthält nicht nur eindringliche Warnungen — von der industriell-konsumistischen Weiterso-Fraktion wird er bis heute als verantwortungslose Panikmache abgetan —, sondern gibt auch zahlreiche Anregungen, wie Wirtschaft und Ökologie vereinbart werden könnten.
Damit ist der Moment gekommen, der uns ins Bundestagsarchiv führt: zu Hans Matthöfer (SPD). Matthöfer hatte schon Ende der 1970er — damals war er Bundesforschungsminister — der Autoindustrie nennenswerte Subventionen angeboten: Für viele Millionen an Steuergeldern sollten die Konzerne ein emissionsfreies Auto entwickeln. Die Autoindustrie hatte — kein Interesse. Danach legte er als Bundesfinanzminister eine konkret ausgearbeitete ökologische Steuerreform vor — unter Kanzler Helmut Schmidt leider ohne Chance.
Wir stoßen beim Stöbern auch auf dieses bemerkenswerte Duo: Günther Anders, Philosoph und Schriftsteller (1902-1992) und Willi Hoss, Betriebsrat bei Daimler Benz. Anders beschäftigte sich zeitlebens intensiv mit den Folgen von Technik für Mensch und Gesellschaft. Er sah in der industriellen Arbeitsteilung eine grundsätzliche Gefahr. Denn es gehöre „zum Wesen der Arbeitenden“, dass sie „auf den Anspruch verzichten, und die Lust und die Fähigkeit verlieren, sich über die Rechtmäßigkeit der von ihnen miterzeugten Produkte (und die möglichen und beabsichtigen Effekte dieser Produkte) Gedanken oder gar Gefühle zu machen.“
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Genau an dieser Nahtstelle arbeiteten in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren Betriebsräte des Auto-Konzern Daimler; sie nannten sich „Plakat-Gruppe“. Diese Gruppe von Betriebsräten um Willi Hoss, später Bundestagsabgeordneter der Grünen, und Dieter Marcello machte sich die Gedanken, die Anders so vermisste: Was nützen die Autos, die wir herstellen, was schaden sie? Ihr großes Thema: Wie bauen wir die Autoindustrie so um, dass die Produkte ökologisch und die Arbeitsverhältnisse sozialer sind? Ein erstes Ergebnis ihrer ungewöhnlich weitsichtigen Haltung: Ihre Gewerkschaft, die IG Metall, warf sie hochkant raus; viele Jahre später wurden sie stillschweigend wieder aufgenommen.
Anfang der 1990er-Jahren, also ein gutes Jahrzehnt später, näherte sich die IG Metall selbst solchen Überlegungen. Zusammen mit Umweltverbänden entwickelte sie offiziell das Programm „Auto, Umwelt und Verkehr. Umsteuern, bevor es zu spät ist“, das heute revolutionär klingt: von der gift- und schadstofffreien Produktion über das systematische Recycling, der Kooperation aller Verkehrsträger über den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bis zur Änderung des Verbraucherverhaltens. Autokonzerne sollten sich zu Unternehmen entwickeln, die ganzheitliche Mobilitätssystem anbieten, nicht mehr nur sinnlos Autos produzierten. Damals verkörperten Leute wie Franz Steinkühler, Vorsitzender der IG Metall, und Daniel Goedevert, Automanager (von 1981 bis 1989 Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke), das Visionäre. Und scheiterten. Weil „uns der Rückhalt in der Gesellschaft fehlte“, wie Steinkühler später bekannte.
Natürlich gibt es seit vielen Jahren tausende Organisationen, Institute und Projekte, die den Gedanken des Klima- und Naturschutzes, der Energie-, Verkehrs- und Agrarwende beherzigen und befördern. Die oben erzählten Beispiele zeigen jedoch, dass es solche Ansätze bereits seit Jahrzehnten gibt, sogar in Regierungen, in der Industrie, also in politischen und wirtschaftlichen Machtzentren. Diese Weitsichtigen, die von der primitiv-engstirnigen Weiterso-Fraktion so gerne als Besserwisser denunziert werden, sie waren immer klar in der Minderheit. Und der jeweilige gesellschaftliche „Mehrwachstum“-Mainstream drängte sie in die Nischen, weil ihre weitsichtige Haltung die Profitmaximierung störte.
Alles nur Panikmache?
Der Blick zurück zeigt: Es geht schon lange nicht mehr um Panikmache. Es liegt ein über Jahrzehnte gesammeltes Wissen über gravierende Fehlentwicklungen vor, das sich zu Gewissheiten verdichtet hat, aber auch eines über gute Alternativen. Die lange angekündigte Katastrophe rückt näher. Und die Politik ist mit der Zunahme der Dramatik nicht mutiger, eher feiger geworden.
Sicher, es wird einiges gemacht, um Gesellschaft und Wirtschaft klima- und naturverträglicher zu gestalten: von den Radwegen bis zum Ausstieg aus der Braunkohle, wir geben Millionen für die Renaturierung von Flüssen aus, für Bannwälder, es wird Tempo 40 eingeführt und bald gibt es keine Verbrenner-Autos mehr. Stimmt alles: Aber da 40 Jahre so gut wie nichts gemacht wurde, sind das heute leider nur Peanuts. Zumal zeitgleich die Politik unverändert auch die Zerstörung von Natur und Klima finanziert: mit der Entfernungspauschale, den Steuervorteilen für Dienstwagen, der Förderung des Luftverkehrs (Erlass der Mehrwertsteuer für internationale Flüge). Staatliches Handeln ist bestenfalls zwiespältig.
Und wie ist die ‘Gefechtslage’ in der Gesellschaft? Eine kleine (vermutlich wachsende) Minderheit richtet sich auch in ihrem Alltag neu aus. Die überaus große Mehrheit will unbedingt weiterleben wie bisher; auch weil sie nichts anderes kennt und kann, weil sie fürchtet bei Änderungen materiell noch stärker unter die Räder zu kommen. Es geht um tiefsitzende kulturelle Gewohnheiten: Auto, Haus, Urlaub, Konsum, das sind die Zutaten für ein Lebenselixier. Maja Göpel, Nachhaltigkeitsforscherin, macht deutlich, wie unsinnig das dahinterstehende rigide Konsum- und Wachstumsdenken ist. In ihrem Buch „Unsere Welt neu denken“ erinnert sie daran, dass die Ideen der wachsenden Wirtschaft aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammten, also eigentlich wahnsinnig veraltet sind. Sie findet, dass es deshalb sinnvoll sei, diese Art von Normalität einmal radikal zu unterbrechen.
Im Juni 2020 wurde an einem Morgen am kältesten bewohnten Ort der Welt, in Werchojansk, im Norden Sibiriens, 38 Grad Celsius gemessen — 30 Grad mehr als gewohnt. In einem Bericht von 2018 prognostiziert die Weltbank, bis 2050 werde der Mittlere Osten mit Temperaturen bis zu 50 Grad unbewohnbar.
Der Klimaforscher Mojib Latif beschreibt den heutigen Stand der Dinge so: Die aktuellen Ereignisse und die der letzten Jahre zeigten, dass „wir als Menschheit gerade den Wohlfühlbereich“ verließen. „So langsam wird es gefährlich, und ich habe manchmal das Gefühl, die Politik begreift es nicht.“
Trotzdem wird die große Mehrheit das obige Ansinnen von Maja Göpel als einen persönlichen Generalangriff auf all das werten, was ihr wichtig ist. Die Mehrheit ahnt: Es geht um tiefe Veränderungen in Leben, Konsum, Mobilität und Produktion. Es geht um all das, was die herrschende Kultur und Mentalität ausmacht. Und sie stellt deshalb alle Stacheln auf. Der Herausforderung wird jedoch nur die Partei gerecht, die es wagt, dies auszusprechen und sich mit mächtigen Lebensstilen ebenso wie mit mächtigen Industrieinteressen anzulegen. Wer wagt das erste Gesetz, mit dem der Machtkampf aufgenommen wird? Spannende Zeiten.
Wolfgang Storz (Bild: Hochwasserkatastrophe 2021 in Ahrweiler, Rheinland-Pfalz; Jean-Christophe Verhaegen/European Commission, Attribution, via Wikimedia Commons)
Eine ausgezeichnete Beschreibung früher Warnungen- die unbedingt weiter verbreitet werden sollte.