Ab in die Wüste
Die EU reagiert auf Deportation von Flüchtlingen durch tunesische Behörden in die Wüste mit umfassenden Finanzhilfen von weit mehr als einer Milliarde Euro für Tunis und der Unterzeichnung eines Flüchtlingsabwehrdeals. Eine kritische Analyse.
Dies ist das Ergebnis eines Treffens von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie den Ministerpräsidentinnen Italiens, Giorgia Meloni, und der Niederlande, Mark Rutte, mit Tunesiens Präsident Kaïs Saïed Mitte Juli in Tunis.
Laut einer Übereinkunft, die beide Seiten unterzeichneten, stellt Brüssel Tunis unter anderem 105 Millionen Euro zur Flüchtlingsabwehr sowie Kredite von 900 Millionen Euro zur Verfügung, wenn Tunesien als Gegenleistung Flüchtlinge aus Europa fernhält. Während die EU und die tunesische Regierung in den vergangenen Wochen das Papier erarbeiteten, das Brüssel zufolge als Grundlage für eine „umfassende strategische Partnerschaft“ dienen soll, deportierten die tunesischen Behörden mehrere hundert Flüchtlinge in ein Wüstengebiet und setzten sie dort schutzlos aus. Die EU reagiert mit der Zusage der Finanzhilfen und macht sich damit, wie Amnesty International konstatiert, zur „Komplizin“ bei künftigen Verbrechen. Weitere Abkommen mit nordafrikanischen Staaten sollen folgen.
Gewalt und Deportationen
In Tunesien spitzen sich die Verhältnisse seit Monaten dramatisch zu. Zum einen steckt das Land in einer schweren Wirtschaftskrise; schon im vergangenen Jahr wurden ohnehin bereits stark verteuerte Grundnahrungsmittel zuweilen knapp. Zum anderen eskalieren verbreitete Ressentiments gegen Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara inzwischen immer wieder zu offener rassistischer Gewalt, insbesondere, seit Präsident Kaïs Saïed am 21. Februar in einer Rede behauptet hatte, „Horden irregulärer Migranten aus Subsahara-Afrika“ hätten „Gewalt“ und „Verbrechen“ über das Land gebracht. [1] Seitdem werden Flüchtlinge zunehmend aus ihren Wohnungen geworfen und in aller Öffentlichkeit physisch angegriffen. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni überfielen sieben Tunesier ein Gebäude, in dem 19 Flüchtlinge übernachteten, und brachten dabei einen Mann aus Benin um. Anfang Juli meldeten Menschenrechtsorganisationen, nun machten auch tunesische Behörden offen Jagd auf Flüchtlinge, verschleppten sie oft unter Einsatz brutaler Gewalt in Polizeiwachen und deportierten sie dann in ein Wüstengebiet an der tunesisch-libyschen Grenze, unter ihnen Kinder und schwangere Frauen. Es sei zu ersten Todesfällen unter den schutzlosen Flüchtlingen gekommen (german-foreign-policy.com berichtete [2]).
„Umfassende strategische Partnerschaft“
Die EU hatte bereits auf die rassistischen Attacken des tunesischen Präsidenten und die anschwellende Gewalt gegen Flüchtlinge in Tunesien reagiert, indem sie die Verhandlungen mit Saïed über eine Nutzung des Landes als Türsteher zur Abwehr von Flüchtlingen im Auftrag der „Europäer“ intensivierte. Am 11. Juni trafen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sowie der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte, in Tunis ein, um Saïed als Gegenleistung für eine entschlossenere Flüchtlingsabwehr umfangreiche Finanzhilfen zu versprechen. Am 16. Juli, keine zwei Wochen nach der tunesischen Deportation von Flüchtlingen in die Wüste, hielten sich von der Leyen, Meloni und Rutte erneut in Tunis auf, um ihre Absprache vom 11. Juni in einen Flüchtlingsabwehrdeal zu gießen. Berichten zufolge will die EU Tunis zunächst 150 Millionen Euro „Soforthilfe“ zukommen lassen und Tunesien zudem 105 Millionen Euro für Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr zahlen. Darüber hinaus stellt sie dem Land Kredite von bis zu 900 Millionen Euro in Aussicht, und es ist von bis zu 450 Millionen Euro für die Installation von Unterseekabeln die Rede. Als Gegenleistung erwartet Brüssel, dass Tunis das Ablegen von Flüchtlingsbooten nach Europa definitiv stoppt. Dass die tunesischen Behörden Flüchtlinge in die Wüste deportieren, ist auch in Brüssel bekannt. Die EU nennt ihren Deal mit Tunis lobend eine „umfassende strategische Partnerschaft“. [3]
„Gemeinsam zurückdrängen“
Unklar ist, auf welcher politischen bzw. rechtlichen Grundlage die EU am den Deal mit Tunesien geschlossen hat. Treibende Kraft war Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, deren Partei Fratelli d’Italia (FdI) der extremen Rechten zugeordnet wird und deren Regierung mit der Lega eine weitere Partei der extremen Rechten angehört. Meloni hatte sich bereits vor ihrem ersten gemeinsamen Auftritt mit von der Leyen und Rutte in Tunesien mit Bundeskanzler Olaf Scholz über den geplanten Deal abgestimmt. [4] Freilich kann Meloni ebensowenig für die EU sprechen oder gar Abkommen für sie schließen wie ihr Amtskollege Mark Rutte aus den Niederlanden. Dessen Legitimation ist dadurch geschwächt, dass seine Regierungskoalition vor zehn Tagen an inneren Streitigkeiten über die Flüchtlingsabwehr zerbrochen ist. Die liberale niederländische Europaabgeordnete Sophie In ‘t Veld protestierte, auch von der Leyen verfüge nicht über die Kompetenz, in einer derart weit reichenden Frage ohne weiteres „im Namen der EU Abkommen zu schließen“. In ‘t Veld zweifelt damit die Rechtmäßigkeit des Deals an. [5] Eine Sprecherin der Bundesregierung erklärte hingegen, die Vereinbarung habe „die volle Unterstützung der Mitgliedstaaten“; dies gelte ausdrücklich auch für die Bundesregierung. Man hoffe, „gemeinsam mit Tunesien irreguläre Migration aus der Region zurückzudrängen“. [6]
Komplizin EU
Heftiger Protest kommt von Menschenrechtsorganisationen. Die Vereinbarung mit Tunesien sei genau zu jener Zeit erarbeitet worden, zu der die tunesischen Behörden „hunderte Menschen einschließlich Kindern an Tunesiens Wüstengrenzen ausgesetzt“ hätten, „zunächst ohne Nahrung und Unterkunft“, konstatiert etwa Amnesty International. [7] Dies zeige, dass die EU aus ähnlich gelagerten früheren Fällen „nichts gelernt“ habe; sie werde also „bei dem Leiden, das unweigerlich das Ergebnis“ der Vereinbarung mit Tunesien sein werde, „Komplizin sein“. Indem „Team Europe“, so die PR-Phrase, die von der Leyen gerne nutzt, seine Politik und seine Mittel darauf konzentriere, „die Grenzkontrolle auszulagern“, anstatt sichere und legale Wege zur Einreise zu schaffen, steuere die EU-Führung erneut einen Kurs, der „auf gefühlloser Missachtung für grundlegende Menschenrechtsstandards“ gründe.
Modell für Nordafrika
Dabei soll die Übereinkunft mit Tunesien, wie Italiens Ministerpräsidentin Meloni in Tunis sagte, nicht nur „ein wichtiger Schritt“ sein, „um eine wahre Partnerschaft zwischen der EU und Tunesien zu schaffen“. [8] Sie soll zudem mit ihren Bestimmungen zur Flüchtlingsabwehr auch als „Modell“ für die Beziehungen der EU mit den anderen Staaten Nordafrikas dienen. Näheres soll Meloni zufolge am kommenden Sonntag in Rom diskutiert werden; für den 23. Juli lädt sie zu einer internationalen Konferenz zum Thema Migration in die italienische Hauptstadt ein. Teilnehmen sollen Tunesiens Präsident Saïed sowie weitere Staats- und Regierungschefs; Details sind noch nicht bekannt. Meloni sprach vom „Beginn eines Weges, der eine andere Partnerschaft als in der Vergangenheit ermöglichen könnte“. [9]
[1] S. dazu Sperrriegel gegen Flüchtlinge.
[2] S. dazu Sperrriegel gegen Flüchtlinge (II).
[3] EU, Tunisia sign ‘partnership‘ accord on migration, economy and renewable energy. france24.com 16.07.2023. Gegen die Flucht übers Mittelmeer. taz.de 17.07.2023. Jorge Liboreiro, Vincenzo Genovese: The contentious EU-Tunisia deal is finally here. But what exactly is in it? euronews.com 17.07.2023.
[4] Thomas Gutschker, Hans-Christian Rößler: Ein neuer Flüchtlingsdeal. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.06.2023.
[5] Benedikt Stöckl: Dutch MEP slams EU-Tunisia migration deal. euractiv.com 17.07.2023.
[6] Regierungspressekonferenz vom 17. Juni 2023.
[7] EU/Tunisia: Agreement on migration ‘makes EU complicit’ in abuses against asylum seekers, refugees and migrants. amnesty.org 17.07.2023.
[8] Meloni a Tunisi con von der Leyen e Rutte: firmato il memorandum. Il 23 luglio conferenza sui migranti a Roma. ilsole24ore.com 16.07.2023.
[9] Meloni announces conference on migrants in Rome on July 23. ansa.it 17.07.2023.
Text: Dieser Beitrag erschien zuerst auf: www.german-foreign-policy.com
Symbolbild: Pixabay