Angst vor Aufständen
„Wir führen nicht wirklich die Diskussion darüber, wer im Recht oder Unrecht liegt. Wir wollen einfach Zugang zu Getreide und Düngemitteln.“ In diesen Worten fasste der senegalesische Staatspräsident und amtierende Ratspräsident der Afrikanischen Union (AU), Macky Sall, vor wenigen Wochen in Paris seine Position bezüglich seiner vorausgehenden Gespräche mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin in Sotschi zusammen. Sall war als AU-Ratspräsident am 3. Juni ans Schwarze Meer gereist. Am 9. und 10. desselben Monats hielt er sich in Paris auf, wohin ihn der italienische Ministerpräsident und amtierende Präsident der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), Mario Draghi, zu einem „Forum für Entwicklungspolitik“ eingeladen hatte.
Es ging in dem Zitat um die Haltung zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und seinen internationalen Auswirkungen. Die Afrikanische Union hält, im Namen ihrer Mitgliedsstaaten, die sich dabei untereinander uneinig sind, Kontakt zu beiden Seiten. Allerdings auf durchaus unterschiedlichen Ebenen. Am 20. Juni fand eine Videokonferenzschaltung zwischen Staatsoberhäuptern der AU und dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyi statt. Diese wurde am Sitz der AU in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba allerdings unter weitgehender Geheimhaltung und ohne Kommunikationsaufwand organisiert, anders als etwa vergleichbare Videoauftritte Selenskyis vor dem Europäischen Parlament und dem US-Kongress.
Es ging dabei – neben dem Anliegen, interne Konflikte bei der AU möglichst unter dem Deckel zu halten – auch darum, es sich tunlichst nicht mit Russland als wichtigem Lieferanten für Getreide und Düngerstoffe zu verscherzen; für einige afrikanische Staaten wie Mali tritt Russland ferner auch als wichtiger Waffenlieferant oder potenzieller Lieferant sowie als Anbieter von Söldner-Dienstleistungen auf den Plan. Zwar war auch die Ukraine bislang ein wichtiges Exportland für Weizen und Dünger in viele afrikanische Staaten, doch aufgrund der russischen Offensive in der Südukraine ist der Zugang des Landes zum Schwarzen Meer mindestens erschwert. Um die Hafenstadt Odessa finden Kampfhandlungen statt. Kriegsschiffe der Russischen Föderation kreuzen vor der Küste. Aufgrund der Ausfuhrschwierigkeiten des angegriffenen Landes bot die EU alternative Exportwege etwa über Rumänien oder das Baltikum an, diese würden den Weg der Güter nach Afrika jedoch im günstigsten Falle erheblich verlängern. Unterdessen bot sich Russland selbst als Ersatzlieferanten an, und die Türkei brachte sich als Lieferstation ins Spiel.
44 von 54 Mitgliedsstaaten der AU stimmten vor diesem Hintergrund Anfang April in Genf gegen den Ausschluss der Russischen Föderation aus dem UN-Menschenrechtsrat. Russland war zuvor nicht das erste Land, das als Mitglied dieses thematischen Gremiums der Vereinten Nationen in gewisser Weise den Bock im Gärtneramt darstellte – immerhin hatte Saudi-Arabien im vorigen Jahrzehnt zeitweilig sogar einen Ausschussvorsitz beim Menschenrechtsrat inne; 2020 wurde die saudische Monarchie allerdings hinausgedrängt. Russland ist nach dem damals noch durch Muammar al-Gaddafi beherrschten Libyen im März 2011 das zweite Land, dem die Mitgliedsrechte bei dem Rat entzogen werden.
Viele afrikanische Staatsführungen verfahren dabei nach dem Motto, dass der außenpolitische Feind der führenden westlichen Staaten vielleicht nicht unbedingt deswegen ein Freund sein müsse, wohl aber mindestens Äquidistanz zwischen beiden angebracht sein könne, um von den geostrategischen Rivalitäten zu profitieren und dadurch eigene Spielräume zu erweitern. In vergangenen Jahrzehnten taten dies zu Regierungsparteien gewordene nationale Befreiungsbewegungen zeitweilig erfolgreich zwischen dem Westen, der UdSSR und China, allerdings in einem völlig anderen historischen Kontext: Der sowjetische Block verkörperte damals tatsächlich ein anderes Wirtschaftsmodell und sicherte verbündeten Staaten die Zahlung von Rohstoffen nicht nach den – vorher zementierte Abhängigkeitsverhältnisse abbildenden – Weltmarktpreisen, sondern nach politisch festgelegten Preisen. Davon ist beim heutigen Russland keine Spur mehr übrig, es erhebt nicht einmal den Anspruch, eine wie auch immer geartete weltweite Systemalternative zu verkörpern. Doch eine Reihe von Staatsführungen des afrikanischen Kontinents fährt dabei fort, sich taktisch zu Russland zu verhalten wie früher strategisch zur Sowjetunion.
Am wenigsten trifft dies wohl auf den Senegal zu. Dessen politische Führung ist nicht nur fest im westlichen Lager verankert, sondern zählt auch den Regierungen in Afrika, die seit den sechziger Jahren am ehesten über eine durchdachte und ausformulierte Außenpolitik verfügen. Aber auch Macky Sall muss an Ernährungsschwierigkeiten für seine Bevölkerung oder das Risiko von Preissteigerungen denken, auch wenn nordafrikanische Staaten wie Tunesien und Ägypten erheblich stärker von Weizenlieferungen aus der Ukraine und/oder Russland für ihre Mehl- und damit Brotproduktion abhängen. Das westafrikanische Land verfügt zwar ebenfalls nicht über eine wirkliche Ernährungssouveränität, hängt aber wesentlich stärker von Reislieferungen aus Asien ab.
Die durch den damaligen hohen Rohölpreis bedingten Steigerungen von Transportkosten auf den Weltmeeren hatten 2008/09 die Importkosten besonders bei den Reislieferungen in zahlreiche afrikanische Staaten verteuert. Sie lösten soziale Bewegungen „gegen das teure Leben“ und Hungerrevolten aus wie in der Côte d’Ivoire und Kamerun 2008 und in Burkina Faso 2011. Auch zu dem Unmut, der 2010/11 zum „arabischen Frühling“ in Tunis und Kairo führte, trugen Brotpreisschwankungen mit bei, ebenso wie eine Dürreperiode und Missernten im südlichen Syrien.
Damals kündigten Staaten wie der Senegal an, durch verstärkten Eigenanbau von Grundnahrungsmitteln im Bedarfsfall importunabhängig zu werden, was jedoch nur unvollständig eingelöst wurde, auch aufgrund der Ausrichtung der Landwirtschaft auf Exportkulturen sowie geringer Produktivität. Derzeit werden solche Ankündigungen erneuert.
Spekuliert wird darüber, ob es Russland nicht zupass kommen könnte, falls die durch den Ukrainekonflikt ausgelösten Turbulenzen eventuell Regimes in manchen Staaten destabilisieren – griff Russland doch in Staaten wie Mali und der Zentralafrikanischen Republik erfolgreich nach einer Teilhabe an politischem Einfluss. Dennoch ist unwahrscheinlich, dass Russland auf eine Strategie setzt, die soziale Unruhen als Aktivposten mit einbezieht. Einmal mehr gilt, dass die Russische Föderation nicht die Sowjetunion ist, die in manchen Phasen auf eine „revolutionäre Außenpolitik“ – oder was als solche dargestellt wurde – setzte. Ihre vergleichsweise engen kapitalistischen Staatsinteressen sieht sie bei amtierenden Regimes besser aufgehoben, jedenfalls, sofern diese ihr entgegenkommen.
Text: Bernhard Schmid (zuerst erschienen in „Jungle World“). Bild: Staaten der Afrikanischen Union und ihrer Vorläuferorganisation mit Beitrittsdatum, von Nobelium, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.