Kassandras Tirade: Die Unterlassung als Mittel der Politik (II)

Der Zustand der Gegenwart gibt der Hoffnung auf bessere Zeiten breiten Raum, aber weniger als ein positives Potential im Jetzt, denn im Sinne der negativen Umkehr alles Bestehenden. Mit verbundenen Augen, so will es scheinen, rasen wir gemeinsam auf einen Abgrund, nein, eher auf Abgründe zu. Dem Desinteresse der Politik an den akuten Problemen, die uns im herbstlichen Ende des Sommers, spätestens aber im Winter mit voller Wucht erreichen werden, ist nur noch mit Fatalismus zu begegnen – oder mit ohnmächtiger Wut. Hier der zweite und letzte Teil des Essays von Tobias Braun.

Teil 2/2

All die Grundgüter werden teurer und teurer, und die politische Reaktion ist das sozialdemokratische Allheilmittel einer konzertierten Aktion, was zwar irgendwie nach einer Jazzkapelle klinkt, sich de facto aber als Requiem auf eine progressive, emanzipierte und solidarische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ausnimmt.

Die Fußstapfen rot-grüner Politik

Die Aufgabe der Gewerkschaften scheint es zu sein, als eine zweite Version der Sozialdemokratie dem entgegenkommenden Arrangement mit der Wirtschaft eine erdigere Note zu verleihen. Eine verrückte Vorstellung, würden Gewerkschaften für Löhne kämpfen, die die Inflation zumindest ausgleichen könnten … Wenn nun noch der Finanzminister ankündigt, just an den Angeboten für langzeitarbeitslose Personen zu sparen, dann zeichnet sich ein Bild dieser Regierung ab, das aus neoliberalen Träumen zu entstammen scheint … Der Abbau des Sozialstaates wird durch diese Regierung nicht verhindert, sondern beschleunigt werden.

Im Herbst fallen, sofern wider Erwarten nichts anderes beschlossen wird, die Erleichterungen beim Treibstoff und beim öffentlichen Nahverkehr weg, und der Mensch ins Bodenlose, kommt doch so alles simultan zusammen. Zwar mögen sich die Freunde der Verelendungstheorie die Hände reiben, sehen sie doch ihr geschichtliches Ereignis nahen, die geistige Situation unserer Zeit lässt aber von Umsturzplänen nichts allzu Gutes erwarten. Das verblüffende Merkmal der Diskussion um die Maßnahmen ist, dass sie allesamt auf die Kenntnisnahme des jüngsten Armutsberichts des Paritätischen4 verzichten. Wenn wir dessen Beobachtung aber ernst nehmen, wonach sich die Armut immer weiter ausbreitet und verfestigt, dann sind die Folgen der Inflation für mindestens 16 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung desaströs, für mindestens 13,8 Millionen Menschen. Sie können die Verteuerung nicht ohne Weiteres abfangen, sie werden (unfreiwillig) hungern5, frieren6 und ihre Wohnungen nach der Erhöhung der Nebenkosten mitunter verlieren. Keine Maßnahme der Regierung wird den Menschen im Niedriglohnsektor oder jenen im ALG I- oder II-Bezug langfristig wirksam helfen.

Alle Winter wieder …

Die Corona-Politik ist ja mittlerweile ein müßiges Thema, wiegen wir uns doch nun bereits im dritten Sommer in der Sicherheit, diese elende Pandemie nun endlich überwunden zu haben.7 Wie wir aus den Ansteckungszahlen, dem verfügbaren Krankenhauspersonal und der Belegung der Betten ablesen können, ist dieser Sommer aber vergleichsweise arm an Welligkeit. Die Auswirkungen der offenkundig hochansteckenden neuen Varianten schicken eine Grußbotschaft aus der nahen Zukunft des Herbstes: Wir sollten schon jetzt passende, umfassende Maßnahmen beschlossen sowie Mittel und Wege eingeschlagen haben, das Schlimmste zu verhindern, Puffer zu schaffen und Handlungskonzepte zu planen. Allzu große Hoffnungen scheinen aber illusionär: Die Politik Lauterbachs, auf einer riesigen Woge vorausgehender Sympathie und der vertrauensvollen Zuerkennung professionellen Sachverstands ins Amt gespült, erweist sich in seiner praktischen Tätigkeit weniger als ein Bruch, denn als eine leichte Abwandlung seines Vorgängers. Abgesehen von den kommunikativen und organisatorischen Schwierigkeiten am Anfang stehen wir gerade vor dem Scherbenhaufen der Testinfrastrukutur: Anstatt die Überwachung der Verbreitung auszuweiten, lassen wir dem Virus freien Lauf und machen es den Angestellten unsinnig schwer, sich krankzuschreiben. Auch nehme ich an, dass das Personal in den Gesundheitsämtern gerade nicht massiv erhöht wird.

Machen wir es kurz: Wir rennen in den nächsten pandemischen Herbst, nur das Versprechen an der Hand, dass es weder Lockdowns noch Schulschließungen geben wird. Das insinuierte „Es komme was wolle“ dieser Ankündigung klingt in meinen unmaßgeblichen Ohren eher nach einer Drohung. Allenfalls zum Tragen von Masken lässt sich der Justizminister drängen. Wohl dem, der keine Vorerkrankung hat. Die einzige Hoffnung auf Abwechslung ist also das beständige Umschlagen der vielen Krisen untereinander, also der thematische Fokus der Brennpunkte im Ersten …

Text: Tobias Braun, Bild: Bild von AD_Images auf Pixabay

Anmerkungen

4 https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armutsbericht/doc/broschuere_armutsbericht-2022_web.pdf
5 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-06/inflation-umfrage-verzicht-mahlzeit-kosten-kochen
6 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/vonovia-heizdeckel-gaskriese-russland-mieterbund-101.html
7 „Wir“ meint das kleine Häuflein der wenigen Auserwählten, welche die Folgen der Impfung(en) tatsächlich überlebt haben.