Es geht um mehr als die Unterwerfung der Ukraine (I)

Im Gespräch zwischen Wolfgang Storz und dem Osteuropaexperten Andreas Wittkowsky geht es um die Hintergründe des aktuellen Krieges, die Fehler der internationalen Politik sowie die Verflechtungen und die politischen wie wirtschaftlichen Abhängigkeiten insbesondere innerhalb Europas.

Teil 1/2

Wolfgang Storz: Sie haben sich sehr intensiv mit der Frage der Nationalstaatsbildung in der Ukraine beschäftigt. Haben Sie erwartet, dass das nationale Bewusstsein sogar so stark ist, dass sich zig Millionen BürgerInnen der Ukraine unter Einsatz ihres Lebens gegen ein übermächtiges feindliches und offenbar zum Teil brutales, kriegsverbrecherisches Militär für die Freiheit ihres Landes einsetzen?

Andreas Wittkowsky: Ja. Auch wenn wir uns das in unserer post-heroischen Nachkriegskultur oft nicht vorstellen können. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen: Hier geht es ums Ganze. Um Freiheit, Selbstbestimmung, um ein Leben in Würde und Frieden. Unser eigenes Bekenntnis zu den „europäischen Werten“ kommt uns oft recht locker über die Lippen in der Erwartung, niemals dafür kämpfen zu müssen. Ein Großteil der Ukrainer ist bereit, hierfür ihr Leben einzusetzen. Weder wollen sie vom immer diktatorischer regierten Russland Wladimir Putins „befreit“ werden, noch in einem Vasallenstaat von seinen Gnaden leben.

Wolfgang Storz: Und das, obwohl der Preis dafür sehr hoch ist?

Andreas Wittkowsky: Der Preis dafür war schon seit Jahren sichtbar. Denn der erste Angriff Russlands auf die Ukraine erfolgte im Jahr 2014. Er war ein Fanal, das zeigte, was der Anschluss an die von Putin beschworene „russische Welt“ (Russkij mir) für die Betroffenen bedeutet. Nach der Annexion der Krim sorgten die russischen Sicherheitskräfte dafür, dass dort jede pro-ukrainische Opposition unterdrückt wurde. In den von Russland gestützten „Volksrepubliken“ in der Ostukraine wurde offener Terror gegen die widerständige Zivilgesellschaft ausgeübt. Unzählige Menschen wurden zur Flucht gezwungen, verschwanden in Gefängnissen und Folterzentren, wurden tot aufgefunden.

Wie Putin schuf, was er unbedingt vermeiden wollte

Bis dahin war in weiten Teilen der Ukraine – nicht nur dort, wo man überwiegend russisch spricht – die Vorstellung der ukrainischen, belorussischen und russischen Nationen als „Brüdervölker“ noch weit verbreitet. Es gab familiäre und freundschaftliche Verbindungen, oft noch aus sowjetischen Zeiten.

Mit dem Überfall am 24. Februar hat Putin nun endgültig das geschaffen, was er um jeden Preis vermeiden wollte: eine geeinte ukrainische Nation. Als es erste Anzeichen gab, auch Belarus könnte sich Putins Krieg anschließen, schrieb mir ein Freund aus Kiew: „Gott sei Dank, dass wir nur zwei Brudervölker haben.“

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), einer gemeinnützigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt. Als Kompetenzzentrum für Friedenseinsätze bietet das ZIF Expertise zum Thema internationale Friedenseinsätze und sekundiert zivile Expertinnen und Experten in solche Einsätze, vor allem in der EU und der OSZE.Dr. Wolfgang Storz arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, er war zuvor bei der Badischen Zeitung, der IG Metall und der Frankfurter Rundschau tätig.

Wolfgang Storz: Gibt es Aspekte, Argumente, historische Fakten, die für die Behauptung Putins sprechen, die Ukraine sei kein souveräner Staat?

Andreas Wittkowsky: Putin hat dieses Narrativ schon über Jahre bedient und im Sommer 2021 in einem grundsätzlich angelegten Geschichtsaufsatz systematisch entwickelt. Darin behauptet er, Russen und Ukrainer seien „ein Volk“. Außerdem sei die moderne Ukraine „ein vollständiges Produkt der Sowjetzeit“ und Russland in den 1920er Jahren mit der Schaffung der ukrainischen Sowjetrepublik um Territorium und Bevölkerung „beraubt“ worden. Seit 1991 sei die unabhängige Ukraine mit westlicher Hilfe in ein „anti-russisches Projekt“ und einen „ethnisch reinen ukrainischen Staat“ transformiert worden. Die dort lebende russische Bevölkerung sei einer „Zwangsassimilation“ ausgesetzt, vergleichbar eines „Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“. Drohend schließt der Aufsatz: „Und wir werden niemals erlauben, dass unsere historischen Territorien und die dort lebenden Menschen […] gegen Russland eingesetzt werden. Und jenen, die solch einen Versuch unternehmen, möchte ich sagen, dass sie derart ihr eigenes Land zerstören werden.“

Dieses Putinsche Narrativ ist eine krude Mischung einzelner historischer Fakten. Es wurde mit dem Ziel um Fälschungen ergänzt, der Ukraine ihre Eigenstaatlichkeit abzusprechen und ein russisches, oder doch zumindest russisch dominiertes, Imperium wieder zu errichten.

Das Ziel: ein russisches Imperium

Die nationale Erweckung der Ukraine geschah, wie bei vielen anderen Nationen in den europäischen Vielvölkerreichen, wesentlich früher, bereits am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie knüpfte dabei an die Eigenständigkeit der Kosaken im 17. Jahrhundert an. Zunächst standen Fragen der kulturellen und sprachlichen Identität im Vordergrund, dann folgten politische Forderungen. Dem stand im Russischen Reich die weit verbreitete Auffassung entgegen, die Ukraine sei „Kleinrussland“, die ukrainische Sprache nur ein „kleinrussischer Dialekt“.

Wolfgang Storz: Seit wann kann denn von einer ukrainischen Nation gesprochen werden?

Andreas Wittkowsky: Am Ende des 1. Weltkriegs wurde im Russischen Reich eine Ukrainische Volksrepublik ausgerufen, im habsburgischen Galizien eine Westukrainische Volksrepublik. Nach ihrer Vereinigung infolge des Friedens von Brest-Litowsk Anfang 1919 geriet der neue Staat zwischen die Fronten des russischen Bürgerkriegs. Als die Bolschewiki obsiegten, erlaubten sie aus machtpolitischem Kalkül, aus Rücksicht auf die sichtbar gewordene nationale Mobilisierung der Ukrainer, die Schaffung einer eigenen Ukrainischen Sowjetrepublik. Wie die gesamte Sowjetunion, so war auch diese Ukrainische SSR multiethnisch; Ukrainer stellten die größte, Russen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe.

Der zweisprachige Maidan

Dies blieb so auch nach der Unabhängigkeit 1991, also mit der Auflösung der Sowjetunion. Die ethnischen Beziehungen blieben aber entspannt, zumal ein beträchtlicher Teil der Ukrainerinnen und Ukrainer das Russische als Verkehrssprache nutzt. Daran änderten auch die Anstrengungen des Staates wenig, die Staatssprache Ukrainisch im öffentlichen Raum stärker durchzusetzen. Von einer Unterdrückung des Russischen oder „der Russen“, was Putin behauptet, kann keine Rede sein.

Auch „der Maidan“ im Februar 2014 – der dreimonatige pro-europäische Massenprotest auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit und in vielen andern Städten des Landes – war zweisprachig. Sehr viele Aktivisten und Aktivisten sprachen russisch, man verständigte sich auch im typischen, „surshyk“ genannten, sprachlichen Mischmasch der Ukraine.

Wolfgang Storz: Es ist eine Debatte über die Fehler der Außenpolitik westlicher Staaten gegenüber Russland in den vergangenen 30 Jahren ausgebrochen. Dabei stoßen sich ausschließende Einschätzungen aufeinander: Der Krieg wäre ausgeblieben, hätten Ukraine und Nato Russland nicht so sehr provoziert, unter anderem mit einer Nato-Mitglieds-Debatte und der Herabwürdigung Russlands zu einer Regionalmacht. Die andere Sichtweise: Spätestens nach den russischen Übergriffen auf Georgien 2008 und die Ukraine/Krim 2014 hätte der Westen mit Militärhilfe, eigener Aufrüstung und wirksamen Wirtschaftssanktionen viel härter reagieren müssen. Können Sie dazu aus Ihrem fachlichen Blickwinkel etwas sagen? Was ist spätestens seit 2008 gut, was weniger gut oder gar schlecht gelaufen?

Andreas Wittkowsky: Ich kenne eigentlich niemanden, der behauptet, die westlichen Staaten hätten im Umgang mit Osteuropa keine Fehler gemacht. Die herablassende Bemerkung Präsident Obamas, Russland sei nur eine Regionalmacht, gehört dazu. Allerdings ist es mit der Fehlerdiskussion auch so eine Sache. Hinterher haben es alle immer schon vorher gewusst. Sicherheitspolitische Fragen werden selten in voller Harmonie gelöst, konfliktive Konstellationen sind ihnen ebenso immanent wie machtpolitische Aushandlungen.

Garantien für die Ukraine? Eine Fata Morgana

Andreas Wittkowsky: Ein strategischer Fehler, insbesondere der USA und Großbritanniens, war mit Sicherheit die zögerliche Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014. Sie war ein eklatanter Verstoß gegen das 20 Jahre vorher unterzeichnete Budapester Memorandum. In ihm hatten sich Russland, die USA und Großbritannien verpflichtet, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu achten, weil diese bereit war, ihr sowjetisches Atomwaffenarsenal aufzugeben. Als Russland dieses Versprechen nun 2014 gewaltsam brach, hätten die anderen Garantiemächte schneller und härter reagieren müssen. Doch die Garantien erwiesen sich als eine Fata Morgana. Übrigens ist das auch ein Menetekel für weitere diplomatische Versuche, andere Staaten davon abzuhalten, die nukleare Schwelle in ihren Rüstungsprogrammen zu überschreiten.

Text: Wolfgang Storz, Bild: Maidan, Kiew, 4. Januar 2014, Александр Мотин, auf Wikimedia Commons, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Dieser Text erschien zuerst in https://bruchstuecke.info