Globale Grundrechte zu Grabe getragen
Etwa hundert Personen zogen vergangenen Samstag nach einem Aufruf der Initiative Seebrücke Konstanz durch die Stadt, um gegen die jüngst erlassenen Asylreformen zu demonstrieren, die einen rechtsstaatlichen und fairen Asylprozess bald unmöglich machen. Hier die Hauptrede von Jürgen Weber im Wortlaut.
Liebe Trauergemeinde, liebe Gäste,
wir sind heute hier zusammengekommen, um vereint in Schmerz und Wut von einem großen humanistischen Grundgedanken, einem Versprechen an alle Menschen und einer Hoffnung für die Menschheit Abschied zu nehmen.
Nach langer schwerer Krankheit sind die Menschenrechte in Europa im Beisein der EU Innenminister:innen am 8. Juni 2023 in Luxemburg verstorben.
In fassungsloser Trauer stehen wir heute im 75. Geltungsjahr des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vor einem Scherbenhaufen dieser Grundrechte:
Die Würde des Menschen ist unantastbar…
Jede und jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit…
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht…
Niemand hätte sich bei der Verabschiedung des Grundgesetzes vorstellen können, dass aus der Mitte unserer Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie diese Grundwerte ausgehöhlt werden und diese als leere Wortgerippe unsere Verfassung nur noch zieren.
Für nationalistische und völkische Kräfte wird es nun leicht sein, dieses brüchige Gerippe umzublasen. Das macht mir Sorge.
Nach dem Schrecken des Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg waren die Grund- und Menschenrechte die Grundmauer unserer demokratischen Werte.
Niemand der Väter und Mütter des Grundgesetzes hätte je gedacht, dass gewählte Abgeordnete, freie Medien und Institutionen seelenruhig und untätig dabei zusehen würden, wie Tausende Schutzbedürftiger im Mittelmeer unter kaum hörbaren Schreien ertrinken.
Dass Schutzsuchende in Lagern in Europa oder nun auch vor Zäunen und hohen Mauern der EU-Außengrenzen schlimmer wie Vieh gehalten werden.
Dass Schutzsuchende von europäischen Grenzen illegal zurückgedrängt und geschlagen werden oder mit Waffen auf sie geschossen würde.
War es vorstellbar, dass angesichts dieser Tatsachen kein Aufschrei durch Gesellschaft, Medien und Institutionen ginge, sondern lediglich ein relativ kleines Häuflein wie das unsere sich heute hier versammeln würde, um Trauer und Empörung auf die Straße zu tragen? Ein Schweigen vorstellbar, wenn Kinder auf der Flucht an Körper und Seele Schaden nehmen, ihre leblosen Körper gar am Meeresgrund oder an Badestränden treiben? Vorstellbar, dass die Party und der Kaufrausch einfach weiter gehen würde? War all das vorstellbar?
„Menschenrechte sind Rechte, die sich aus der Würde des Menschen herleiten und begründen lassen; Rechte, die unveräußerlich, unteilbar und unverzichtbar sind. Sie stehen allen Menschen zu, unabhängig davon, wo sie leben und unabhängig davon, wie sie leben. Es handelt sich also um eine Art globaler Grundrechte.“
Ja, das ist richtig. Dem ist nichts hinzuzufügen. Doch wo waren die Verfasser:innen dieser Zeilen aus der Bundesregierung, als letzte Woche in Luxemburg die gleiche Ampelregierung der EU zusagte, Menschenrechte „auf Rot“ und Unmenschlichkeit „auf Grün“ zu stellten?
Eine Bundesregierung, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte diese verbrieft und zu schützten hat. Alle, wirklich alle Mitgliedstaaten der EU haben diese Erklärung unterzeichnet. Dort heißt es:
- Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
- Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
- Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.
Liebe Trauergemeinde,
wir nehmen in diesen Tagen endgültig Abschied von einem vielbeschworenen europäischen Wertekanon oder „der Europäischen Union der Menschenrechte“.
Europa empört sich gerne über die anderen. Europa spielt gerne den Oberlehrer oder die Oberlehrerin beim Schutz der Menschenrechte irgendwo auf der Welt.
Doch in der EU-Flüchtlingspolitik und an seinen Außengrenzen, auf dem Mittelmeer, wird das gleiche Europa seiner Rolle als „Hüterin von Menschenrechten“ nicht gerecht. Hier ist das gleiche Europa ein Täter.
Es ist mehr als zynisch, wenn dieser Tage die griechische Küstenwache behauptet, Geflüchtete wollten nicht gerettet werden. Sie wollen leben. Sie wollen Sicherheit. Auf ihren Fluchtwegen und in der Europäischen Union. Das ist auch der Kern der Menschenrechte, welche die EU nun zu Grabe trägt.
Auch wenn die griechische Justiz nun wieder ein paar Geflüchtete des gesunkenen Bootes kriminalisieren wird, für den Tod ihrer Mitleidenden verantwortlich machen wird und zu Hunderten von Jahren Haft verurteilt wird: Vor der Geschichte wird bleiben, was es ist.
Griechische Küstenwache! Verantwortliche in der EU! Das war Mord! Mord aus Unterlassung! Mord aus niedrigen Beweggründen! Mord zum Zwecke der Abschreckung!
Europa handelt immer noch nach der Maxime: Gebt uns eure Rohstoffe und billige Arbeitskraft, überlasst uns eure Märkte und bleibt wo ihr seid. In Armut und Elend. Sterbt unseretwegen auf euren Fluchtwegen.
Lasst uns in Ruhe durch Konstanz flanieren:
„Do no a Eisle essä. Ewäng a dä See na sitzä. Vielleicht no di neue Schuh kaufä oder sell Schnäpple bei H&M mitnäh. Vu derrä Näheri in Bangladäsch, die zwölf Stund am Tag schaffet und so wenig verdient, dass d´Kind ninnt zum beissä händ… aber des isch uns egal. Lond uns in Ruh mit dem Scheiss…“
Geflüchtete! Auch wenn die Oberlehrerinnen und Oberlehrer aus Europa es von euch fordern: Orientiert euch bitte nicht an diesem Wertekanon, akzeptiert bitte nicht die Auslegung der Menschenrechte der Europäischen Union. Nehmt euch um Himmelswillen kein Vorbild daran, was euch angetan wird.
Versucht euch die Menschlichkeit und die Hoffnung zu bewahren. Ihr seid unsere gemeinsame Chance, EINE Welt zu bauen.
Denn nur eine gemeinsame, tolerante, offene und vielfältige Gesellschaft kann Menschenrechte erreichen und europäischen Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus überwinden.
Text: Jürgen Weber
Bild: H.Reile
Tolle Veranstaltung insgesamt, vielen Dank euch.
Ich muss aber dennoch sagen, als Historiker haben sich mir bei dieser Stelle der Rede (und ähnlichen späteren Absätzen) ein wenig die Nackenhaare gesträubt:
„Niemand hätte sich bei der Verabschiedung des Grundgesetzes vorstellen können, dass aus der Mitte unserer Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie diese Grundwerte ausgehöhlt werden“
Nicht nur dass das allgemein menschenfeindliche Kontinuitäten außer Acht lässt. Direkt davor hatte das faschistische Regime die schlimmsten denkbaren Verbrechen begangen und plötzlich soll es undenkbar gewesen sein, dass festgeschriebene Grundwerte ausgehöhlt werden? Deutsche Parteien hatten kontinuierlich extreme antisemitische Überzeugungen schon Jahrzehnte vor den Nazis und das soll plötzlich alles weg sein?
Sondern im parlamentarischen Rat selbst saßen Menschen, die noch kurze Zeit vorher eng mit der NSDAP zusammengearbeitet haben und nun an diesem Grundgesetz mitschreiben konnten. Ein Lambert Lensing, der im NS-Oberkommando für Propaganda tätig war. Ein Paul Binder, der als stellvertretender Bankdirektor die Enteignung jüdischen Vermögens mit vorantrieb. Ein Hermann Höpker-Aschoff, der als Jurist in einer ähnlichen Richtung arbeitete. Oder ein Hermann von Mangoldt, der während der NS-Zeit rassentheoretische Abhandlungen schrieb.
Gibt sicherlich noch viele Beispiele mehr, aber die Verklärung der Ersteller*innen des Grundgesetzes, die mMn in der Rede stattfindet, finde ich mindestens unangebracht.
Danke!!! Jürgen Weber für diese ergreifende Rede ,der nichts hinzugefügt werden muss. Es ist eine Schande, dass es von uns ,so privilegierten Menschen in Europa keinen Aufschrei gegen diese unmenschliche Politik gibt. Und eine Schande, dass eine Partei wie die Grünen, die mal mit ganz anderen Ansprüchen an eine humane Einwanderungspolitik angetreten ist, dies zu großen Teilen mitträgt.